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Vierzehntes Kapitel.
Der Reisegefährte als Vetter

Hansine Röder-Möwke saß in der zweiten Klasse der Kunstgewerbeschule vor dem Zeichenbrett und schlug sich wieder mit dem niederträchtigen Faltenwurf herum. Auf dem Podium, an einer Breitseite des großen Raumes, war eine Modellpuppe aufgestellt, sichtbar auch für die Fernsitzenden, und die Puppe hatte über einem weißen Gesellschaftskleid einen lichtroten Schal mit eingewirkten goldenen Ornamenten. Dieser Schal! Wie der weiße Stoff hindurchschimmerte! Wie die hauchdünne Seide sich schmiegte und im einfallenden Licht tausend feine Lichter und Schatten zeigte! Es war entzückend zu sehen, aber es war schändlich schwer auf dem Papier wiederzugeben.

»Nun, Fräulein Röder-Möwke« – es fiel Hansine, wenn sie ungeduldig mit sich selber war, auf die Nerven, so mit dem langen Namen genannt zu werden – »wie geht es denn heute?« Fräulein Elster, die Zeichenlehrerin, stand hinter ihr.

»Gar nicht geht es,« murrte Hansine. »Ich könnte das Kleid glatt nacharbeiten, könnte den Schal sticken bis zum letzten Stich, aber wenn ich ein Bild daraus machen soll …«

Fräulein Elster beugte sich über ihre Schulter. »Es ist gut geworden,« urteilte sie ruhig. »Es gibt durchaus wieder, was gezeigt werden soll. Hier fehlt noch ein wenig Licht« – sie nahm den Pinsel und huschte über die Zeichnung hin – »und hier kann der Schatten noch ein bißchen purpurner leuchten, aber im ganzen bin ich sehr zufrieden.«

»Ich nicht,« murrte Hans weiter.

Fräulein Elster lachte ein bißchen. »Ich will Ihnen etwas sagen: Sie verlangen von sich selber vollendete Kunst, und wir treiben hier Kunsthandwerk. Auch darin wollen wir das Beste leisten. Aber zwischen Kunst und Kunsthandwerk ist doch noch ein gewaltiger Unterschied. Die Kunst dient nur der Schönheit, das Kunsthandwerk dient dem Gewerbe. Sie wollen doch Ihre Zeichenarbeit benutzen, um das auf dem Papier zu entwerfen, was Sie dann in praktische Werte umsetzen wollen.«

Hansine sah sie nachdenklich an. »Ja, das will ich wohl. Trotzdem … Ich habe in den letzten Jahren mehrere Male in den Monatsheften Kostümbilder gesehen, von ersten Künstlern für das Theater angefertigt. Das war etwas so Entzückendes, das war Stil und Schönheit und Charakter der Rollen in solcher Vollendung, daß ich das nie erreiche.«

»Nein, denn dann müßten Sie eben Künstlerin sein, nur Künstlerin. Ich denke aber, Sie wollen eine Schneiderei eröffnen.«

»Vielleicht – wenn ich nicht zu dumm dazu bin.« Sie griff wieder zum Pinsel.

Fräulein Elster ging zum Podium und ordnete auf einer zweiten Puppe einen altmodischen Longschal, wie ihn unsre Großmütter trugen, all die bunten Farben um einen schwarzen Mittelpunkt gesammelt und alle noch leuchtend wie am ersten Tage. Es war ein besonders schönes Stück, das sie in dem Faltenwurf, wie es ihn einstmals an seinen Trägerinnen gezeigt, über das Modell legte.

Hansine sah es nachdenklich an. »Solche Tücher hatten wir noch zwei oder drei bei uns zu Hause. Eins haben allerdings die Motten gefressen, und eins haben wir uns als Kinder aus der Bodenkiste geholt und haben im Obstgarten ein Zelt damit gemacht. Unter dem lagen wir in der Sommerhitze. Als Mutter dahinter kam, war nicht mehr viel zu retten.« Sie versenkte sich in die Arbeit. Das Sprechen war nicht verboten, es mußte sich aber in Grenzen halten.

»Sie sind Barbaren gewesen,« meinte die Lehrerin. »Gerade jetzt ist ja im Museum die Ausstellung von alten Trachten der Herzogtümer. Waren Sie schon dort? Gestern wurde sie eröffnet.«

Niemand von den Schülerinnen war am ersten Tag in der Ausstellung gewesen. Sie wollten am Sonntag hin, wenn kein Unterricht war und der Eintritt nur die Hälfte betrug.

Hansine aber litt es nicht so lange. Sie ging am andern Mittag, als der Unterricht um zwölf Uhr zu Ende war, in das Gewerbemuseum. Es war schon vor dem Weihnachtsfest von dieser Ausstellung die Rede gewesen, wo Trachten aus Schleswig-Holstein ausgestellt werden sollten und Bilder älterer Zeiten, die besonders charakteristische Kleidung zeigten. Für sie, die die Gewerbeschule besuchte, nachdem sie einen zweijährigen Schneiderkursus erledigt hatte, war diese Ausstellung schon aus künftigen beruflichen Gründen interessant. Dazu kam das starke persönliche Interesse, das sie an allem nahm, was die engere Heimat betraf.

Es war eine Fülle von Dingen, die in fünf großen Räumen zusammengetragen waren. Zwischen den unendlichen Mänteln, Jacken, ganzen Volkstrachten standen Bilder, viele von herumziehenden Dorfmalern gemalt, aber gerade darum ausgezeichnet für diesen Zweck geeignet. Denn was dem großen Künstler die Nebensache ist, das Drum und Dran der Persönlichkeit, das hatten diese kleinen Meister peinlich genau wiedergegeben.

Nach einigem Umherwandern erkannte Hansine, daß die Sachen dem Alter nach geordnet waren. Mit einem uralten braunen Etwas begann ihre Reihenfolge. Dies braune Etwas war ein Gewand, das an einer Moorleiche gefunden worden war, die man bei Hadersleben im Torfmoor ausgegraben hatte. Wie sie mit ihren scharfen Möwenaugen, denen nichts entging, das bräunliche Etwas genauer prüfte, erkannte sie die einzelnen Webefäden und sah am Saum ein eingewebtes Muster, ein wenig dunkler, ein wenig mehr schwarzbraun als die Gegenfäden. Daraus erkannte sie, wie schon in jenen fernen Zeiten die Lust zum Ausschmücken des Gewandes in den Menschen gesteckt hatte und auch die Fähigkeit, diesen Schmuck auszuführen. Wahrscheinlich waren jene Bortenfäden rot gewesen, das Gewand aber ungebleichte Wolle. Der beizende Gerbsäuregehalt des Moorwassers hatte das uralte Kleid erhalten, das sonst lange, lange zu Staub zerfallen wäre.

Hansine ging weiter. Große Figuren standen an den Wänden, in derb gewebte Stoffe gekleidet, wie sie jene ferne Hausindustrie einmal erzeugt haben mochte. Man konnte sich wohl denken, daß Männer und Frauen in dieser Kleidung gegangen waren, warm, praktisch, schlicht und doch durch die bunten Farben, aus Beeren und Pflanzen gewonnen, eine fröhliche Note in das Einerlei tragend. Alter Bernsteinschmuck, plump, grob zusammengefügt, lag den Frauen um den Hals. Kunstvollere Bronzeringe schmückten Hals und Arme. Fibeln aus gleichem Metall hielten Gürtel und Mantel zusammen. Es war nichts Neues, was Hansine sah; sie hatte sich viel mit diesen Dingen beschäftigt, aber nie war es ihr in solcher Übersicht entgegengetreten.

Dann waren da in den Glaskasten der Tische unendlich viele Schmuckgegenstände ausgestellt, aus Gräbern emporgeholt, auf Opferstätten gefunden, dazwischen Waffen, ehemals zur Ausrüstung der Männer unerläßlich. Langsam ging sie von einem zum andern.

Die Zeit wechselte; silberner und goldener Schmuck tauchte auf. Der Bernstein war zu Perlen geschliffen, Emailfluß lag in den Gürtelschnallen. Neue Modelle, farbige Zeichnungen zeigten die Veränderung der Kleidung, bis sich aus dem Einerlei der gesamten nordischen Industrie langsam die Verschiedenheit der einzelnen Landschaften abhob. Da war man im Mittelalter unsrer Zeit. Noch zwei Jahrhunderte weiter, und zwischen den Bildern und Nachahmungen kamen die ersten echten Überreste gewesener Pracht. Dann mehr und immer mehr: all die vielen Bauerntrachten der Herzogtümer, derbe und feine eigengewebte Röcke, aus grober Wolle gesponnen aus der armen Geest, damastene Scharlachröcke mit breiten schwarzen Borten aus der reichen Propstei, dann die bildschöne Tracht der Inseln, die weiten Röcke und silberverschnürten Leibchen der blonden Frauen von Sylt und Föhr.

Hansine ging und ging, und ihre Gedanken waren weitab in andern Zeiten, in andern Gegenden. Dazwischen zeichneten ihre Gedanken blitzschnell an Bildern, und plötzlich stieß sie einen Ruf der Überraschung aus. Wie kam das Bild hierher? Dies Bild, das im Elternhaus rechts neben dem Ofen hing? Und links das Bild des blonden Junkers … War das auch …? Aber das war nicht hier, nur die blonde Tochter aus dem Hause der Möwkes, die auch den Namen Hansine geführt hatte und dem schlanken Gerd von Hamm in die neue Heimat gefolgt war auf Gut Uhlenhorst bei Kiel. So jung und lebensvoll sah sie aus dem Rahmen. War das Bild aufgefrischt? Hansine meinte, es hätte sonst dunkler ausgesehen, von der Zeit gefärbt. Dann bemerkte sie, daß es einen andern Rahmen hatte, zwar auch aus schwarzem Holz, wie es damals üblich gewesen war, aber an der Innenseite lief eine blindgewordene Goldleiste, und oben am Rande war ein kleines Silberschild mit einer lateinischen Inschrift.

Sie wandte sich an einen der Aufseher, die in den Sälen herumstanden, und fragte: »Wer hat dies Bild hierher geschickt?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Ich glaube, einer von den Herrn, die hier beim Museum angestellt sind. Er war selber gestern hier und sah sich an, wie es aufgehängt wäre. Aber hier sind jetzt so viele Herren, und ich bin erst vier Wochen hier; ich weiß nicht, wie er heißt.«

»So, danke.« Sie ging nach einem letzten Blick weiter.

Doch als sie nach einer halben Stunde zurückkam, zog es sie wieder vor das Bild. Ein Gruß aus der Heimat mitten hier in all der Fremde! Sie hielt heimliche Zwiesprache mit dem Bild. »Ja, da bist du nun auch in die große Stadt gekommen. Hast du sie in deinem Leben je gesehen? Wo ist das, was von dir sterblich war? Nichts mehr als ein bißchen Staub. Und dein Blick strahlt vor Glück, daß deiner Urgroßnichte noch warm davon wird. Ach, wie wenig sind wir doch, daß solch ein bißchen Leinwand und Farbe unser ganzes Wesen um Jahrhunderte überleben kann!«

Neben ihr sagte eine Stimme: »Wieviel Ähnlichkeit Sie mit ihr haben, Fräulein Möwke!«

Sie schrak zusammen. Der nette Herr von der »Nikoline« stand neben ihr.

Er lächelte, als er sah, wie sie sich erst aus ihren Gedanken in die Gegenwart hineinfinden mußte. »Ich stehe hier schon eine ganze Zeit neben Ihnen. Aber Sie waren so vertieft, daß Sie mich nicht bemerkten. Der Aufseher sagte mir, es habe sich eine Dame nach dem Bild erkundigt, und dann zeigte er Sie mir. Aber ich hoffe, ich hätte Sie auch sonst gefunden, ehe Sie den Saal wieder verließen.«

Da hatte sie sich so weit gesammelt, daß sie fragte: »Ja, woher kennen Sie mich denn?«

»Aber wir waren doch zusammen auf der ›Nikoline‹!«

»Ja, ja, aber woher wissen Sie meinen Namen?«

»Das war so einfach. Ich brauchte gar nicht zu fragen. Als Ihr Herr Vater Sie und Ihre Schwester abholte, sprachen die Schiffsleute von ihm. Sie kannten ihn doch. Ich glaube, da an ihrer Küste kennt jeder jeden. Und weil wir doch Vetter und Cousine sind …«

»Was sind wir?«

»Ja, wenn Sie auf der ›Nikoline‹ nicht so eigensinnig jede Vorstellung abgelehnt hätten …«

»Eigensinnig bin ich nie.«

»Nein.« Das Lachen zuckte ihm um den Mund und tanzte in den Augen. »Man sagt es den Hamms und den Möwkes gleicherweise nach, daß Eigensinn und Jähzorn ihnen ganz unbekannt sind.«

Da verstand Hansine. »Sind Sie etwa ein Hamm?«

»Adolf von Hamm, um endlich die versäumte Vorstellung nachzuholen, Ihr ganz ergebener Vetter. Hätte ich damals nur ein bißchen mehr Zeit gehabt, ich wäre sicher auf den Duvenhof gekommen. Aber einen Tag vor Weihnachten drängte die Heimreise.«

»Vetter? – Na, ob sich da noch eine Vetternschaft herauskonstruieren läßt?«

Adolf von Hamm zeigte auf das Bild. »Diese junge, hübsche Dame war meine Ururgroßmutter. Sie dürfte also eine Ururgroßtante von Ihnen gewesen sein. Wenn das nicht klar beweist …«

»Himmel, was müssen Sie für Vettern und Cousinen haben, wenn Sie alles, was vor fünf Geschlechtern mit Ihnen verwandt war, dazurechnen!«

Die beiden gingen langsam weiter dem Ausgang zu und, als sei es ganz selbstverständlich, auch zusammen hinaus auf die Straße und weiter.

»Man läßt sich ja nicht alles so nahekommen,« erwiderte Adolf von Hamm. »Aber gibt es nicht einzelne Erinnerungen in der Familiengeschichte, die ihre besondere Note haben und unvergessen bleiben? Der Maler, der das Bild malte, das da drinnen hängt …«

»Ach, das ist Ihr Bild? Und ich zerbrach mir den Kopf, wie es aus unsrer Eßstube im fremden Rahmen hierher gekommen wäre.«

»Es ist mir bekannt, daß es auch auf dem Duvenhof sein muß. Ich bin ein Mensch, der als Altertumsforscher gern in alten Dingen kramt. Es gab da ein Bündelchen Briefe, vor hundert Jahren und mehr geschrieben; in deren einem dankte die Schreiberin der Schwester für dies Bild, daß es eine Kopie sei, sehe keiner. Es sei ganz und gar so wie das Original, das sie in Uhlenhorst bei ihrem Besuch gesehen habe. Der Brief war vom Duvenhof datiert, so wie alle übrigen in dem Päckchen. Also war jene Kopie dort aufbewahrt.«

»Wir haben auch das Bild des blonden Junkers, der die schöne Hansine heimführte.«

»Ach, haben Sie das? Das haben wir ja nicht einmal. Da muß ich bald hinkommen zum Duvenhof und es ansehen. Wollen Sie mich auch aufnehmen?«

»Ich? Sie meinen meine Eltern. Ich bin gar nicht auf dem Duvenhof. Ich bin hier auf der Kunstgewerbeschule.«

»Sie wollen Künstlerin werden?«

»Ich? Nein« – es zuckte leise um ihren Mund – »ich will Schneiderin werden.«

»Was? Ach nein!«

»Doch, wirklich. Ich habe mein Gesellenstück gemacht und lerne hier das auf dem Papier ausführen, was ich einmal von meinen Näherinnen und Lehrmädchen in Wirklichkeit ausführen lassen will.« Als sie den nachdenklichen Blick ihres Begleiters sah, setzte sie, schon etwas gereizt, hinzu: »Das ist Ihnen natürlich nicht fein genug für Ihre Cousine, nicht wahr? Aber ich bestehe nicht auf der Verwandtschaft.«

Hamm lachte hellauf. »Ich sagte es ja! Die Hamms und die Möwkes, wie sie immer waren: nie selbstherrlich, nie heftig. – Liebe Cousine« – er betonte das Wort – »wenn ich mich wundere, ich gebe das ohne weiteres zu, so hat meine Verwunderung mit dem Beruf an sich gar nichts zu tun. Alle Hochachtung vor den Mädchen, die klar und tapfer ihren Lebensweg gehen! Nur von Ihnen hätte ich keinen Beruf erwartet, der Sie in die Stube, zu einer sitzenden Lebensweise zwingt. Ich hätte sie mir als Sportdame denken können, als Künstlerin, als Landfrau auch wohl, alles, was mit Leben und Bewegung zusammenhängt, aber nicht in der Enge, die dieser Beruf doch mit sich bringt.«

»Ja, das ist schon richtig. Sport ist mir auch viel, ist auch für mich das notwendige Gegengewicht gegen die ewige Sitzerei. Aber Sport als Beruf – das wäre doch nicht das rechte. Es gehört dazu auch mehr, als ich leiste, und wenn man älter wird – nein, das ist nichts. Und Künstlerin? Auch sehr schön; aber dazu reichen meine Talente nicht. Und Landfrau? Ich habe nicht genug Interesse dafür, obgleich oder vielleicht gerade weil ich auf dem Lande aufgewachsen bin. – Aber irgend etwas Festes muß man haben. Und ich habe nun mal die geschickten Finger; ja, die habe ich, das kann ich ohne großes Rühmen sagen. Alles, was mit Nadelwerk zusammenhängt, war mir schon als kleinem Ding Spielerei. Ich konnte nie begreifen, daß Sticken, Häkeln, Klöppeln und dergleichen meinen Schwestern Schwierigkeiten machte. – Ich habe aber durchaus nicht im Sinn, später den mehr oder weniger schönen Damen Kleider zu machen. Meist sind die, welche es bezahlen können, durchaus die weniger schönen. Das Entwerfen will ich lernen, Geschmack in der Kleiderkunst. Es gibt viel zu wenig gebildete Mädchen, die das können und wollen. Darum bleibt ewig Paris das Vorbild. Wir haben hier allenfalls die sogenannten Eigenkleider: Säcke mit ein bißchen ungeschicktem Ausputz; denn die, welche diese Eigenkleider entwerfen, sind vielleicht auf einer Kunstschule gewesen, aber nicht in einem großen Atelier. Darum habe ich erst zwei Jahre praktisch gelernt wie jeder andre Lehrling auch, und nun kann ich alles, was eine gute Schneiderin können muß, und weiß, wie ich an ein Kleid heranzugehen habe. Aber es wird noch viel Wasser den Berg herablaufen, bis ich kann, was ich will.«

»Sie bleiben noch lange hier auf der Kunstgewerbeschule?«

»Ein Jahr. Dann möchte ich nach Frankfurt, nach Wien, nach Bukarest – da soll die größte Eleganz herrschen – möchte in die großen Bäder, vielleicht nach Neuyork. Ach, das ist alles Zukunftsmusik! Verzeihen Sie! Es kann Sie, als Herrn, ja unmöglich interessieren.«

»Doch, es interessiert mich, menschlich und verwandtschaftlich, und auch weil mein Beruf als …«

»Altertumsforscher. So sagten Sie doch? – Was hat das Altertum mit der modernen Schneiderei zu tun?«

»Jeder hat seinen besonderen Zweig, dessen Erforschung er sich angelegen sein läßt. Meiner ist das Kunstgewerbe. Da liegt alles, was zum Bekleidungswesen gehört, durchaus nicht aus dem Wege, sobald es künstlerisch erfaßt wird.«

»Na ja, das läßt sich hören!« – Hansine brach ab, ihre Blicke gingen zur andern Straßenseite. »Da geht meine Schwester. Sie ist sicher auf dem Wege zu mir.« Sie hielt die Hände vor den Mund und stieß einen kurzen, schrillen Möwenschrei aus.

Hamm fuhr ein wenig zusammen.

»Ach, verzeihen Sie! Ich habe noch manchmal so hinterwäldlerische Gewohnheiten. Wir Duvenhofkinder erkennen uns an diesem Schrei.«

Engel hatte ihn gehört und sich sofort gewandt, als der scharfe Klang ihr Ohr traf. Etwas erstaunt, denn es war durchaus nicht Sitte, daß die Möwkes mit fremden Herren gesehen wurden, kam sie langsam heran.

»Dies ist also meine älteste Schwester, lieber Vetter,« sagte Hansine vorbereitend. »Sie ist Schwester hier in Sankt Georg, und sie wird immer für die Jüngere von uns gehalten. Ich nehme es Ihnen durchaus nicht übel, wenn Sie es auch tun. Sie hat mich in der freien Mittagstunde besuchen wollen.«

Da war Engel heran. »Liebe Engel, dies ist der Herr, der mit Dina und mir von Hamburg fuhr, als die ›Nikoline‹ im Nebel festfuhr. Im übrigen ist er dein Vetter Adolf von Hamm. Wenn du bisher nicht gewußt hast, daß wir solchen Vetter besitzen, nimmt er es dir nicht übel, denn ich habe es auch nicht gewußt. Wir haben eben erst unsre gemeinsame Urahne entdeckt, die schöne Hansine, die Frau von dem blonden Junker, weißt du.«

Sie gingen weiter zu dreien. Als sie vor der Pension standen und sich verabschiedeten, fragte Hamm: »Und wann setzen wir unsre Bekanntschaft fort? Sie müssen bedenken, ich habe nicht einen verwandten Menschen hier in der großen Stadt. Sie würden ein gutes Werk tun, wenn Sie sich meiner ein bißchen annähmen.«

Engel maß ihn mit lächelndem Blick. »So sehr unselbständig sehen Sie eigentlich nicht aus.«

»Aber einsam bin ich, so einsam.«

Sie lachten ihn einfach aus.

»Schließlich gibt es ja das Telephon,« meinte Hansine. »Wenn Sie durchaus eine verwandte Stimme hören müssen – dazu ist es ganz gut.«

Ein Händeschütteln. Dann traten sie in das Haus.

»Pfui!« sagte Dina, als sie von dem neuen Vetter hörte; »unser netter Herr von der ›Nikoline‹, und ihr bringt ihn nicht mit herauf!«

»Hier in unsern Salon, in dem Betten stehen? Na, du bist und bleibst ein Gör, Dina.«

»Wozu ist Frau Sagebiels Salon da?«

»Daß alle Pensionäre ihre Nase hineinstecken, sobald jemand Besuch hat. Und nachher das Gefrage und Gerede. Den Vetter glauben sie doch nicht, so wie sie hier in Hamburg sind.«

»Vetter …« Engel überlegte. »Wenn man das alles Vetter nennen würde …«

»Ach, laß nur! Man kann es noch nachrechnen. Es ist immerhin näher als durch Adam oder Noah. Ich bin ganz geneigt, ihn als Vetter anzunehmen, und Dina hatte schon unterwegs ihr Herz an ihn verloren.«

Dina lachte gutmütig. Sie wurde bei jeder Gelegenheit von Hansine gehänselt und nahm das als ein Zeichen schwesterlicher Liebe.

»Na, Engel, was führt dich denn in deiner kargen Ruhepause zu uns?«

»Ich hatte Sehnsucht. Heute morgen war es wieder schlimm. Die Hetzerei! Gebt mir mal 'ne Tasse Kaffee! Ist euer Spirituskocher nicht in Ordnung? Mein Himmel, bei euch ist auch nie was in Ordnung! – Wir haben Kabeljau zum Mittag gehabt. Ich kam natürlich viel zu spät; bei uns auf Station war Hochbetrieb, und der alte Fisch ist überhaupt schon kalt, wenn er auf den Tisch kommt. Als ich kam, waren nur klägliche eiskalte Brocken übrig, ungenießbar. – Ach Hans, geh doch in die Küche und gieß da Kaffee auf! Eure gute Sagebiel hat sicher kochendes Wasser um diese Zeit.« Sie streckte sich auf Dinas Bett. »Wenn der Kaffee da ist, weckt mich! Ich bin zum Umfallen müde.« Da schlief sie auch schon.

Hansine ging leise hinaus und bereitete Kaffee. Dina suchte ihre Geldtasche hervor und rechnete. Nach kurzem Überlegen, beschloß sie, fünfzig Pfennige zu opfern, warf den alten, dicken Mantel über und lief aus dem Hause. Beim Bäcker gegenüber erstand sie einen Stollen, und als Engel zehn Minuten später die Augen öffnete, schon wieder ganz munter, war das Zimmer voll Kaffeeduft, und auf dem Tisch prangte der Stollen.

»Ach Kinder, ihr habt es gut! Ihr feiert die Feste, wie sie fallen. – Na, gratuliert mir nur! Ich komm' übermorgen zu den nervenkranken Männern, nach dem Säuglingspavillon so ziemlich der angenehmste Posten. Nur die nervöse Weiblichkeit soll noch angenehmer sein. – Gib mir noch eine Tasse, Hans!«

»Du hast schon zwei.«

»Sei nicht so gräßlich geizig! Wer zählt denn seiner Schwester den Kaffee in den Mund? Sagt mal, hat nicht eine von euch zuviel Geld? Ich muß meine Stiefel vom Schuster holen; Kostenpreis drei Mark fünfzig, und ich hab' nur noch zwei Mark siebzehn.«

»Zuviel Geld! Du bist geradezu rührend! Wo du doch schon selber Einnahmen hast und wir keinen Pfennig!«

»Meine Einnahmen! Im letzten Monat zwölf Mark! Und alle Wochen hat man seine Sohlen durchgelaufen. Und meine Strümpfe – na, das ist auch ein Kapitel, das kann ich euch sagen! Ja, dann muß ich schreiben, daß Vater mir was schickt.«

»Vater kann dir nichts schicken; er hat eine Riesenrechnung bekommen für das neue Dach auf dem Pferdestall. Ihm standen die Haare zu Berg.«

Hansine griff nach dem Kommodenschlüssel. »Dann hilft es nichts, Dina, wir müssen ihr aushelfen. Wieviel hast du noch?«

Sie steckten die Köpfe zusammen. – So viel am Ersten für Miete und Mittagessen – die übrigen Mahlzeiten bereiteten sie sich selber – und so viel für Geigensaiten und Kohle und Papier und Farben. So viel für Abendbrot.

»Ach Abendbrot, das kostet ja nicht viel! Jede Woche zwei Brote – eine Mark, und Butter bekommen wir von zu Hause. Ein Wurstzipfel ist auch noch da, und wenn Hans nicht immer so heißhungrig wäre und eine Salzgurke verlangte oder einen Rettich … Gestern hat sie sich sogar einen Hering geholt.«

»Sei ganz still! Von dem Hering hast du die größere Hälfte aufgegessen.«

»Na, Engel, kommst du denn mit diesen großen Geldern aus?«

»Hoffentlich.« Sie sah hinunter auf die Schuhe. »Diese Stiefel haben auch schon wieder die Neigung, an der Spitze durchzustoßen.«

»Das mußt du ihnen verbieten. Man muß auch ein bißchen Herr sein über seine Sachen.«

»Ach bitte, mach' mir das mal vor!«

»Na, wie lange lauf' ich mit meinen Sachen! Meinen Faltenrock hab' ich jetzt zum drittenmal umgelegt, damit man die unendlichen Stopfstellen nicht so sehr sieht. Du hast doch auch noch braune Halbschuhe und die weißen vom Sommer.«

»Weiße Schuhe und Strümpfe dürfen wir im Dienst doch nicht tragen, braune auch nicht. Ich hab' die weißen schwarz färben lassen, aber weiß der Kuckuck, nun, wo ich sie acht Tage getragen habe, sind sie violett.«

Sie lachten sie ganz herzlos aus.

Engel lachte mit, strich die großen Gelder ein und ging zurück zum Dienst. –

Der Wind war wieder nach Norden herumgegangen; es war bitter kalt geworden. Sie lief in kurzem Trab, um warm zu werden, und rannte am Tor gegen einen kleinen Herrn, der, ebenfalls gegen den Wind kämpfend, zugleich mit ihr, aber von der entgegengesetzten Seite kommend, in die Tür wollte.

»Hoppla!« sagte er lachend. »Ja, man wird getrieben vom Wind, ob man will oder nicht.«

»Verzeihen Sie, bitte! Ich war in Eile.« Vor Engel stand ein feiner, alter Herr, aus dessen Gesicht ein paar dunkle Augen sie gütig anschauten. Diese Augen gaben dem Gesicht, das durch mehrere Narben entstellt war, etwas Sympathisches.

Der alte Herr hielt ihr mit altmodischer Ritterlichkeit die Tür offen. Sie neigte sich leicht, huschte vorüber und rannte über die Stiege zur Station.

Der Herr wandte sich an den Pförtner. »Ist das auch eine Kranke?«

»Nein, das ist eine von den Schwestern. Hat einen ganz schnurrigen Namen: Engel Möwe oder so.«

»Möwke vielleicht?«

»Ja, kann auch Möwke sein.«

Der Mann lachte.

»Ob sie ein Engel ist, weiß ich nicht, aber nett und freundlich ist sie immer.«

»So so, Engel Möwke? Wunderlich, wie man im Leben immer wieder alte Fäden auffindet! – Ist die junge Schwester schon lange hier?«

»'ne Weile schon. Es kommen und gehen immer so viele; genau kann ich das nicht sagen.«

Der kleine Herr ging weiter zu Professor Rewohl, dem Nervenarzt, und als er eine Stunde später wieder durch das Tor kam, sagte er zu dem Pförtner: »Nun komme ich auch zu Ihnen hierher. Auf Wiedersehen!«


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