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Nun ist es still im Hause. Mir kommt es so wunderlich vor, daß nur der Wind singt und nicht junges Lachen und junge Stimmen ertönen. Im Garten gräbt Möller gerade unter meinem Fenster und ruft bisweilen seinem Jungen ein Wort zu. Der harkt das erste welke Laub zusammen. Kalt ist der Tag, aber klar. Der Wind kommt aus der See, doch bringt er keine Wolken. Das ist ein Zeichen, daß wir scharfe Kälte bekommen. Der wilde Wein schlägt mir an die Scheiben. Und wenn ihr noch soviel von seinen rotgoldnen Ranken abpflücktet und alle Zimmer von seiner Schönheit leuchten ließet, er ist so üppig wie je. Da steht noch das hohe Glas mit lila Astern, weißen Levkoien und roten Weinranken. Wenn ich es ansehe, wird mir das Herz weit vor Sehnsucht nach euch. Meine drei, meine drei geliebten Mädel!
Als Ovedine die Blumen auf den Tisch gestellt hatte, kam Hans herein und sagte in seiner unnützen Weise: »Oh, wie sinnig von unsrer Kleinen! Die Blumen sollen jedenfalls wir drei sein: Engel die weißen Levkoien, Dine die schönen, sanften Astern und ich die wilden Ranken. Schön gemacht und noch viel schöner gedacht.«
Weißt du es noch, Hans, wie du mir dann um den Hals fielst und schnell ein paar Tränen verschlucktest und dazwischen lachtest und dann sagtest: »Morgen sind wir fort von dir, morgen hast du keine einzige Duve mehr im Haus. Morgen …«
Da wurde mir das Herz so schwer, daß ich unangenehm wurde und dich anfuhr: »Wenn du jetzt schon klagst, was geht ihr dann alle hinaus? Du und Engel, ihr habt es doch schon seit Jahr und Tag versucht! Ihr brauchtet mir das Kind nicht auch noch auszuspannen.«
»Ach Maminka, wenn du böse wirst, muß ich lachen! Du bist ja gar nicht böse, du tust nur so!«
Ja, Hans, dir trocknen sich die Tränen schnell, denn du willst keinen Menschen in dich hineinsehen lassen, und wenn dir einmal weich geworden ist um das Herz, machst du eine deiner Grimassen: scheußlich, scheußlicher, am scheußlichsten, lachst selbst darüber und rennst weiter. Ich glaube, du wirst dich so leicht nicht umwerfen lassen. Du wirst dich mit dem Leben balgen, wirst es anschreien, wirst es anpacken und wirst siegen. Aber du wirst manche Schramme davontragen und wirst manchmal bitter werden, und es wird nicht immer leicht mit dir umzugehen sein. Und Engel wird ihre Not mit dir haben. Denn sie ist dir nicht gewachsen. Wie wir gestern abend noch am ersten Ofenfeuer zusammensaßen! Engel rechts, Hans links, und unten auf dem Schemel das Kind. Wie ihr da von eurer Zukunft redetet, von der ganz fernen, wenn wir Alten lange nicht mehr sind und ihr selber das Leben so im ganzen hinter euch habt und besinnlich auf eurem Altenteil sitzt!
»Ich sehe mich,« sagte Engel, »ganz genau sehe ich mich. Ich bin eine freundliche alte Dame und sitze an meinem Fenster hinter dem roten Geranientopf. Meine kleine Katze liegt neben dem Topf und die Sonne scheint. Bei mir scheint sie immer. Und ich sehe sehr nett aus und bin natürlich auch sehr nett. Und die Leute, die zu mir kommen, die sagen alle: ›Nein, das Fräulein Engel ist eine nette, alte Dame!‹«
»Ja,« meinte Hans, »und so dick bist du, daß du kaum in deinem Stuhl Platz hast. Und immer futterst du mal aus deiner Keksdose, und arbeiten magst du gar nicht gerne was. Du pflegst dich …«
»Ja, warum soll ich nicht? Aber du kommst herein und bist dürr geworden wie eine Zaunlatte und siehst richtig gniepsch aus, kneifst den Mund und bist säuerlich und sagst …«
»Was ich sag', das weiß ich selber am besten. Ich sag': ›Na, du Dicke, du hast wohl schon wieder am hellen Mittag Feierabend gemacht? Huch, und Keks mampfst du auch schon wieder! Warum nicht lieber gleich Berliner Pfannkuchen?‹«
Ach ja, dann habt ihr beide gelacht und noch eine Viertelstunde an euren Zukunftsbildern gemalt. Dine saß still da und sah zwischen ihren dicken Locken zu euch auf, hatte ihr sanftes, süßes Gesichtchen und freute sich an eurem Gelärme, weil sie wußte, wie ihr beide euch liebt, und daß im Grunde keins ohne das andre sein kann.
Ja, so war es noch gestern abend.
Vater kam vom Felde, rieb sich die Hände und freute sich, daß es so nett behaglich war. Engel sah ihn zärtlich an. »Ja, wenn ich einen Mann fände wie dich, Papa, dann wollt' ich auch heiraten! Aber heutzutage sind die Männer nicht mehr so. Nur die alten Herren sind stattlich und ritterlich.«
Aber der Vater war gar nicht gerührt, sondern widersprach nachdrücklich und wollte mit seinen Siebenundvierzig durchaus nicht zu den alten Herren gehören. Das habe er nun davon, daß er bereits mit Vierundzwanzig geheiratet und drei so große Töchter habe. Und ihr versichertet ihm alle, er sehe aus wie dreißig und sein bartloses Gesicht sei geradezu kühn geschnitten. So dächtet ihr euch die alten Wikinger.
»Ja, ja,« sagte Vater, »die alten Dithmarschen, die hier vor dreihundert Jahren und mehr wohnten, die waren tolle Seeräuber; davon schlägt immer wieder ein Blutstropfen durch. Wenn auch seit zweihundert Jahren kein Knabe auf dem Duvenhof aufgewachsen ist, sondern der Hof so eine Art Kunkellehen vorstellt – die alte Art hat sich gut erhalten.«
Da mischtest du dich ein, meine kleine Dina, und sagtest: »Wem soll Mutter nun die alten Familiengeschichten erzählen, wenn ich auch nicht mehr da bin?« – Und es ward eine Stille.
Aber Engel wußte Rat. »Mutter nimmt an den Winterabenden ein dickes Buch und schreibt alles auf, gerade so, wie sie mit uns redet. Alles, wie es ihr in den Sinn kommt. Die Geschichten, die waren, und die Geschichten, die heute geschehen. Von den alten Leuten auf dem Duvenhof und von den uralten, die hier lebten, als er noch Möwenhof hieß, und von ihrer eigenen Jugend und von uns, überhaupt alles, was ihr durch den Kopf geht. Und wenn wir wiederkommen, sehen wir jedesmal nach, was Neues darin steht, und später, wenn es vollgeschrieben ist, verlosen wir das Buch.«
Da hattet ihr wieder einmal über mich bestimmt, wie in den letzten Jahren so oft.
Und heute mittag seid ihr abgefahren. –
Habt ihr Kinder eine Ahnung, wie der Mutter um das Herz ist, wenn ihr ausfliegt? Ihr seht aus dem Wagenfenster und lacht und winkt; in euern Augen ist schon der Glanz der Ferne, und in euern Stimmen hallt schon der Klang der großen Stadt, die euch lockt und euch Heimat werden will. Ihr seid schon halb dort. Aber ich möchte jede Sekunde festhalten, solange ich eure Blondköpfe noch sehen kann. Ich möchte keinen einzigen Ton von eurem jungen Lachen, keinen einzigen Blick aus euern lieben Augen verlieren. Und ich gebe euch mein Herz mit; Schutz soll es euch sein vor allem Leid, und noch viel mehr Schutz vor Schmutz und Gemeinheit. –
Drunten auf der Diele schlägt die Uhr. Siebenmal ruft der Kuckuck; nun kommt ihr in Hamburg auf dem Hauptbahnhof an. Wie wird Dine ihre runden Augen machen, wenn der Trubel um sie herumbraust! Engel sucht nach allen Siebensachen und ruft erregt: »Die Schirme! Habt ihr die Schirme? Und den Korb mit den Äpfeln? Hansine, du hast die Gepäckscheine in der Tasche, und …« Und Hans sagt mit Nachdruck: »Reg' dich nur nicht auf! Ich hab' schon Schirme und Äpfel. Nimm du nur den Handkoffer und bind dir die Dine an den Rockzipfel, daß wir sie nicht verlieren! Paß auf, Dina, daß du nicht unter den Torfwagen kommst!«
Ich sehe Dinas kleines, süßes Kinderlachen um ihren Mund fliegen, und nun seh' ich euch in der Menge verschwinden, welche die Treppe empordrängt. –
Es ist ganz dunkel. Längst habe ich Licht gemacht. Jetzt will ich noch einmal in die Giebelstube steigen und zur See hinübersehen. Es ist Flut, und der starke Wind wird die Wasser scharf auf den Deich drängen. Vielleicht sehe ich die weiße Schaumlinie durch die Nacht leuchten.
Gott schütze euch, meine geliebten Kinder!