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Wo soll ich denn nun anfangen mit Erzählen? Ganz am Anfang?
Ich will es versuchen, aber ich fürchte, es wird alles ein bißchen durcheinandergeraten, so wie ich vom Hundertsten ins Tausendste kam, wenn wir zusammensaßen und ihr fragtet: »Mutter, wie war es damit und damit und damit? Mutter, wer war die dunkle Dame im Eßzimmer? Mutter, erzähl' mal von dem blonden Junker!« Vielleicht fragt ihr zuerst: »Mutter, seit wann sitzen wir auf dem Duvenhof?«
Dann muß ich antworten, wie ich es einmal von einem alten Bauern hörte, als sein Enkel die gleiche Frage tat: »Mein Großvater hat gesagt, sein Großvater habe gesagt, so lang, als er wüßt', wär' der Hof all immer in der Familie gewesen.«
Und die ganze Zeit vorher? Wann er gebaut wurde, und wie das Land selbst war, als er schließlich entstand?
Ach, Kinder, das Land war einmal, so vor zweitausend Jahren, nur eine große Einöde, in der Kiebitze und wilde Wasservögel zwischen Schilf und Binsen ein fast ungestörtes Dasein führten! Allen Stürmen stand das Land offen und allen Fluten. Deiche gab es noch nicht. Weit hinaus bis zu den Inseln, bis Föhr und Sylt und Langeland dehnte sich diese Einöde, denn alles, was jetzt Wattenmeer heißt, das war zu jener Zeit noch festes Land. Aber es war mooriges Land, voller Sümpfe und Wasserkuhlen, und wenn die See in den Winterstürmen anrannte, peitschte sie die Wogen meilenweit über die flache Tenne, die Land hieß.
Wir wüßten nichts davon, wenn nicht die alten Römer, die weitgereisten Leute, von ihm berichtet hätten. Die erzählen, hier sei eine trostlose Gegend. Die wenigen Menschen wohnten auf künstlichen Hügeln in elenden Hütten, und wenn sie im Winter nicht erfrieren wollten, müßten sie den schwarzen Schlamm aus ihren Gräben und Kuhlen zusammenkleben und den brennen. Aber wie Schlamm brennen konnte, das blieb ihnen ein Rätsel, denn was wußte das reiche Südvolk vom nordischen Torf? Wir aber wissen, wie warm er Haus und Küche halten kann. Freilich damals, als es noch keine Öfen und Schornsteine gab und der Rauch sich durch die Lücken im Dach den Weg suchen mußte, wenn man ihm wegen der Kälte die Tür nicht öffnen konnte, da müssen die Leute im Frühling alle ausgesehen haben wie die Räucheraale. Man sagt, damals seien hier schon Germanen gewesen, Friesen, Sachsen, Dänen, jedenfalls große und blonde Menschen. Darauf deuten die Gräberfunde, und nirgends bemerkt man Spuren einer großen Einwanderung. Nach dem Lande der Schlammbrenner hat wohl niemand Verlangen getragen. Die aber haben nach und nach den Kampf mit der See aufgenommen, Deiche gebaut, die künstlichen Hügel, die Wurten, erhöht, und so – im Lauf der Jahrhunderte – ist Schleswig-Holsteins Westküste ein reiches Land geworden mit wohlhabenden Bauern, mit netten, kleinen Städten, mit fetten Weiden, mit großen Rinderherden, mit einem derben, gesunden und tüchtigen Volk.
Zwar die See hat an der Küste gebrüllt, und immer ein paarmal im Laufe jedes Jahrhunderts hat sie einen großen Angriff auf das Land unternommen, hat seine Schutzwälle gestürmt und seine Dörfer überrannt, Städte mit Mauern und Türmen fortgerissen, Viehherden ersäuft, Menschen zu Tausenden gemordet und aus festem Land Wasserwüsten mit verstreuten Inseln geschaffen. Und trotzdem haben die Menschen an der Küste die See geliebt. Oder ist das keine Liebe, was in uns allen steckt, die wir hier geboren und aufgewachsen sind? Ist es Haß? Bisweilen scheint es so, wenn die große Hexe da draußen uns droht mit dem weißen Schaumbesen, wenn sie vernichtet, was wir erbaut haben, wenn sie tötet, was wir lieben. Aber wir können doch nicht los von ihr. Ihr Kinder, habe ich euch, die ihr doch aus freiem Willen in die ferne Stadt gezogen seid, habe ich euch nicht am ersten Abend, als ihr gekommen wart, gesehen, wie ihr auf dem Deich standet – die See schimmerte in allen Farben des Lichts, das Schilf sang am Außendeich, und die Luft war wie ein Zaubertrank von Frische und Kraft – habe ich nicht eure Gesichter gesehen, strahlend von Wiedersehensfreude? Habe ich nicht gehört, wie ihr rieft: »Es geht nichts über die See. Ach, es geht doch nichts über die See!« Wenn diese Liebe nicht wäre, so wäre unser Küstenland wohl längst verödet und unbeschirmt und unverteidigt untergegangen in der fressenden Flut.
Der Duvenhof hätte sich wohl eine Weile länger gehalten als die Gegend ringsum, denn er liegt nicht so recht in der tiefen Marsch, sondern hier hat die höhere, sandige Geest eine lange Zunge hereingestreckt in die Marsch, eine Art Hügelrücken, der noch aus der Flut aufragt, wenn ringsum die schwarzen Wasser spülen. Darum hatten die Menschen, die den Duvenhof erbauten, es leichter als ihre Nachbarn. Sie brauchten nicht einen künstlichen Hügel für ihr Haus zu schaffen, sie setzten es einfach auf die Höhe hin und freuten sich, weithin über das Land zu sehen. Die Leute aus den Bergen lachen, wenn wir von einem Hügel sprechen, denn die ganze Steigung beträgt ja nicht mehr als vierzig Meter über Meereshöhe, aber unter den Blinden ist der Einäugige König, und hier im Flachlande ist es schon ein Großes um solche Bodenwelle. Wie oft hat sie bei Überschwemmungen vielen, vielen Menschen in der Todesnot als Zuflucht gedient!