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In der Lilebüller Kirche war Weihnachtsgottesdienst. Das war eine alte, wunderliche Kirche. Man hatte sie vor dreihundert Jahren gebaut, und sie sollte die Zuflucht aller Bedrängten sein in der höchsten Not, wenn nicht nur seelische, sondern auch leibliche Todesangst an sie herankam: wenn die See die Dämme brach und alles Leben mordete. Darum war sie ganz aus schweren Feldsteinen erbaut; die hatte die Gemeinde mit Schiffen weit herschaffen lassen. Und alle Fenster – sie saßen hoch und waren schmal und klein – waren aus besonders dickem Glas gefertigt und hatten eiserne Laden, die vorgelegt wurden, so oft der Sturm zu murren begann. Öffnen konnte man die Fenster nicht. Das Wunderlichste aber an der Kirche war, daß sie keine Tür besaß wie andre Kirchen; es ging vielmehr eine steinerne Treppe an ihrer Außenseite in die Höhe. Droben am Dach war ein kleiner Ausbau mit einer Tür; durch die stiegen die Besucher in das Gotteshaus, um drinnen auf einer zweiten Treppe wieder hinabzuklettern. So mußte die See schon bis droben an das Dach rasen, um Eingang zu finden. Dazu lag die Kirche auf einer besonders hohen und starken Wurt, und wirklich war sie in allen Sturmfluten verschont geblieben und hatte viele aufgenommen und geborgen, wenn der blanke Hans über das Land ging.
Seit langen Jahren hatte Lilebüll keinen eigenen Prediger; die Lilebüller gingen vielmehr zu den Gottesdiensten nach Brarup. Aber einmal im Jahr, am Heiligen Abend, wanderte alles, was auf eine Meile im Umkreis dort am Deich wohnte, zur alten Kirche, und der Prediger hielt da den Weihnachtsgottesdienst. Zu Zeiten, in denen wenige kamen, weil der Krieg oder das Fieber die Gemeinden zerstört hatte, war der Gottesdienst drinnen in der Kirche; kamen aber so viele, daß der Raum sie nicht fassen konnte, so stand der Geistliche droben auf dem Ausgang am Dach, fünfzehn Fuß über den Köpfen seiner Beichtkinder, und der Küster mit den Chorknaben stand dicht an der Mauer, wo ein Eckpfeiler vorsprang, der den Chor vor dem Seewind schützte; auf dem alten Friedhof aber sammelten sich alle, die herbeikamen.
An diesem Fest kamen unzählige. Der Nebel, der drei Tage lang seinen dicken Mantel über Land und See gedeckt hatte, war endlich gewichen, und über dem stillen Lande stand der Mond im letzten Viertel. Es war sehr hell auf allen Straßen. Leichter Frost hatte eingesetzt und all die unendlichen Nebelperlen in Rauhreif gewandelt. Wie ein silberner Märchentraum lag die weite Ebene. Jeder dürre Halm hatte ein Geschmeide, alle alten, dunklen Retdächer saßen wie funkelnde Königskronen über den Häusern, und selbst die Straßen schimmerten gleich breiten, glitzernden Bändern, von denen die wandelnden Menschen sich dunkel abhoben.
Nun schlug die Uhr fünfmal. Eine dünne Stimme hatte sie, aber das war nicht zu verwundern; zu lange schon hatte sie droben gerufen bei Tag und Nacht. Wer kannte noch den Meister, der sie einmal geschaffen hatte? Er lag da in einem der namenlosen Gräber, deren Kreuze die Zeit und die sausende See vermorscht oder fortgerissen hatten.
Die Knaben stimmten an: »Vom Himmel hoch, da komm' ich her …«
Die Gemeinde lauschte auf. Eine Orgel hatte das Kirchlein nie besessen. Der Küster sang vor, und die Gemeinde folgte ihm, so gut ein jeder vermochte. Nun aber sang etwas andres mit, eine süße Geigenstimme, die ganz hell und weich über alle Stimmen hinschwebte. Woher kam sie? Die aufsteigende Treppe lag im Schatten; so konnten nur die Nächststehenden Dina Möwke erblicken, die an der Mauer lehnte, ihre Geige gegen die Schulter gedrückt, den Bogen in sicherem Strich über die Saiten führend.
Die Buben, die sonst herausschrien, was die Kehlen hergaben, waren auch berührt von dem Klang der Geige; sie dämpften die Kehlen und gaben sich Mühe, weich und hold zu singen. »Weich und hold,« sagte der Lehrer, wenn er mit ihnen übte, »ganz weich und hold müßt ihr singen; denn der Engel dort auf dem Felde verkündete den Herzen der Hirten eine wundersame Kunde und schrie ihnen nicht eine Strafpredigt in die Ohren. Wenn ihr das doch begreifen wolltet!«
Sie grinsten zu solchen Worten, denn die Friesenjungen vom Deich sind ein derbes Geschlecht, und Singen war ihnen nur eine besondere Art Lärm. Aber bei dem himmlisch süßen Ton der Geige ging ihnen eine Ahnung auf von dem, was der Lehrer gemeint hatte. Es wäre Sünde gewesen, das Geigenlied zu überschreien; da versuchten sie zum erstenmal zu singen, wirklich zu singen.
Alle Verse des alten, schönen Liedes sangen sie durch. Dann trat droben der Geistliche an den Rand des Daches und las die Weihnachtsgeschichte. Er hielt keine Predigt an diesem Abend. Es wäre zu einem stundenlangen Gottesdienst trotz der Stille der Luft zu kalt gewesen, aber Bibelworte und Weihnachtslieder lösten einander ab, und vom Deich her hallte die See in langen Orgeltönen eine gewaltige Begleitung.
Als der Prediger den Segen gesprochen hatte, klang noch einmal die Geige auf. Mit ihrem Ton mischten sich zwei Mädchenstimmen, ein klingender Sopran: das war Tine Zimmermann, die Apothekerstochter aus Brarup, und ein weicher Alt: die Stimme gehörte Hansine Möwke.
»Ehre sei Gott in der Höhe – Ehre sei Gott in der Höhe – Ehre sei Gott in der Höhe …« Immer kraftvoller schwollen die Klänge an.
»Und Friede auf Erden.« So weich und hold hallte es.
Frau Sina kamen die Tränen in die Kehle. »Ach, Frieden, wo bist du in unsrer Zeit!«
»Und den Menschen ein Wohlgefallen.«
»Amen,« fiel die ganze Gemeinde ein.
Dann löste sich der dunkle Schwarm; einzeln und in kleinen Trupps gingen sie über das Land, am Deich hin, durch die Felder, nach Süden, Norden, Osten. Wohin sie gingen, da warteten warme Stuben und brennende Bäume und Weihnachtskuchen und Weihnachtspunsch; denn die ärmsten unter den Armen, welche die schlimme Zeit keinen eigenen Tisch putzen ließ, die waren an diesem Abend Gäste der Wohlhabenden, und die Alten sammelten sich in den Häusern der Prediger.
Als die Röder-Möwkes heimgingen, gesellte sich der Vogt von Lilebüll zu ihnen. »Was es jetzt für Menschen gibt!« erzählte er. »Da war vorgestern einer bei mir, der kam von Hamburg und wollte durchaus das Altarbild in der Kirche sehen. Wissen Sie, Herr Röder, das, was mal von der See angeschwemmt worden sein soll, wo die Jünger und der Herr Christus so aus Holz geschnitten sind. Wir haben es noch in der einen Ecke hängen; im letzten Jahr hat die Gemeinde das bezahlt, daß es frisch angestrichen worden ist, und dem Herrn Christus haben sie ein goldenes Gesicht gemacht; das müßt' so sein, sagte Maler Kortz. – Na, ich bin mit ihm in die Kirche gestiegen, und wie er es gesehen hat, hat er erst gesagt, wir wären Barbaren, daß wir das Bild so schandiert hätten. Und dann hat er gefragt, was es kosten solle; er komme vom Kunstgewerbemuseum in Hamburg und wolle es für das Museum kaufen. Sie hätten da von dem alten Ding gehört.«
»Haben Sie es ihm verkauft?«
»O wie konnt' ich woll! Hatt' ich ja gar kein Recht zu. Hätt' ich ja erst die Gemeinde nach fragen müssen. Nee, ich sagte, wenn er Holzbilder kaufen wollt', das geb' ja Menschen genug, die sich ihr Leben damit verdienten, daß sie so was machten; denn sollt' er denen das man gönnen. Und wir geben das Bild auch nicht her. Das gehörte nu schon an die dreihundert Jahre her nach Lilebüll und sollte auch hier bleiben. Das hätten wir nicht nötig, daß wir was verkauften, was zu unsrer Kirche gehörte.«
»Wie hieß denn der Herr? War er aus unsrer Gegend gebürtig?«
»Ich hab' den Namen nicht recht verstanden. Nein, hier aus der Gegend war er wohl nicht; er sagte, er hätt' die Nordsee zum erstenmal gesehen, und um sie zu sehen, wär' er mit der ›Nikoline‹ gefahren statt mit der Bahn, und da sind sie ja am Steinsand aufgefahren.«
»Ist die ›Nikoline‹ wieder frei?«
»Heut morgen haben sie sie abgeschleppt. Sauerbier, er lag noch unten in seiner Koje, steif wie ein Holzpfahl vom Hexenschuß, hat sie gleich vom Steuermann nach Hamburg zurückbringen lassen. Moritz hat er nicht mehr am Kommando haben wollen.«
Sie sahen hinüber zur See, denn sie gingen aus einem alten Deich, wie sie da bisweilen im Lande sind, aus einer Zeit stammend, als die Menschen der raubgierigen See noch nicht so viel Land abgetrotzt hatten, wie jetzt von den Dämmen geschirmt wird. Von dem hohen Weg aus sahen sie über den großen Außendeich hin die heranrollenden Wogen und hörten in der tiefen Ruhe des Heiligen Abends den immer gleichen herrlichen Choral, den die Wasser sangen.
»So,« sagte Hansine zur Schwester, »nun ist deine Neugier also wohl befriedigt? Er reiste wirklich nicht in Strümpfen, er reist für ein Museum. Allerdings ist das eine Beschäftigung, die mir auch mehr zusagt. Ich möchte nur wissen …« Sie dachte nach. »Ich bin doch oft im Gewerbemuseum, manchmal stundenlang; ich hab' ihn aber noch nie gesehen.«
»Wenn er einer der Beamten ist, wird er wohl seinen eigenen Arbeitsraum haben und nicht in den Sälen herumständern.«
»Das Kind hat mal wieder recht. – Ach, Dine, wie wird Engel sich sehnen heute Abend! Mit allen Gedanken ist sie sicher bei uns.«
Der Duvenhof tauchte auf; aus seinen Fenstern grüßte Licht in den stillen Abend. Aus den offenen Stalltüren quoll es in warmem, rötlichem Strahl. Da schafften die Leute noch frisches Stroh hinein für die Feiertage, und auf der großen Diele hing ein Kranz, von Hansines kunstgeübten Händen aus Tannengrün und roten Beeren, Silberband und vergoldeten Ähren gewunden. Der Kranz trug auf seinem Rund sieben dicke Wachskerzen, die den dunkelgetäfelten Raum nicht nur mit goldigem Licht, sondern auch mit dem süßen Duft füllten, den Wachslichter tragen.
Frau Sina stand schon in der offenen Tür der großen Eßstube und wartete auf ihre zwei Mädchen. »Nun, kommt ihr endlich? Der Baum wird gleich angezündet. Kinder, hab' ich Heimweh nach Engel! Was wird sie jetzt tun?«
»Das kann ich dir ganz genau sagen. Sie füttert die achtundzwanzig oder siebenunddreißig Säuglinge, die sie da in ihrem Kinderpavillon hat, und während sie ihnen die Pullen gibt, sagt sie immer vor sich hin: ›Nun bescheren sie zu Hause – nun bescheren sie zu Hause,‹ bis die Oberin sie energisch anruft: ›Schwester Engel, wenn Sie träumen wollen, warten Sie, bis Sie im Bett sind!‹«
Die beiden Schwestern lachten, aber der Mutter war das Herz groß vor Sehnsucht; denn wenn eine Mutter zwölf Kinder hätte, am Heiligabend kann sie auch nicht eins missen, ohne daß ihr die Seele weh tut.