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Der Winter spann sein Eisnetz um den Deich und über alle Wiesen und Gräben. Der Herbst hatte viel Regen gebracht; die Marsch war weithin überflutet, weil die Kanäle in dem flachen Lande das Wasser nicht schnell genug in der Ebbezeit hinausführen konnten in die See. Während der Flutzeit aber waren alle Schleusen geschlossen. Nun lagen die überschwemmten Wiesen als glänzende Eisbahnen unter klarblauem Himmel, denn der Schnee ließ auf sich warten. Es gab wenig Wind in diesen Tagen, nur klingenden, knackenden Frost, und wie das Eis draußen, wenn der Frost es riß, knackten und knallten im großen blauweißen Kachelofen die Holzkloben, die die Glut sprengte.
Hansine saß vor dem Ofen auf einem Holzschemel, hatte die Hände in das kurze, krause Stirnhaar vergraben und las in den Aufzeichnungen der Mutter. Ovedine lag in einem Ledersessel halb ausgestreckt und las in Stifters Winteridyll. Sie wußte es beinah auswendig; aber immer wieder ging sie den feinen Versen nach, zwischen jenem Haus in Berg und Wald und dem heimatlichen Hof das Verwandte fühlend und liebend.
»Weißt du,« sagte Hansine aus ihrem Buch heraus, »hart ist es für die Eltern, daß wir wieder nur drei Mädel sind. Ich hätt' doch wenigstens ein Junge werden können. Wenn ich noch mal auf die Welt komm', bedinge ich mir das vorher aus.«
»Womit den Eltern auch nicht geholfen ist, mein alter Hans.«
»Ich muß dir mal was erzählen, Dine. Ich war heute morgen beim Schlittschuhlaufen auf dem Poggensee. Und wie ich die Schlittschuhe anschnall', kommen Harms und Teten und sagen, ich sollte aufpassen, in der Mitte sei es nicht sicher. Sie hätten da seit drei Tagen immer ihr Aalnetz eingelassen; es friere in diesem Winter nicht zu. Das sei doch 'ne schnacksche Geschichte. Und weißt du, Dine, es waren auch Möwen da; die tauchten nach Fischen, mehr als sonst da sind. Glaubst du, daß die alte Quelle sich wieder ihren Weg gebahnt hat und an der alten Stelle hochkommt?«
»Das wär' ja wunderlich, Hans! Denn Mamsell sagte gestern, sie wüßt' nicht, das müßt' vom Frost sein: der Brunnen hinten am Haus, der artesische, der doch sonst Sommer und Winter läuft, der sei versiegt. Na, sie holen ja meist von der Hofpumpe, aber komisch sei es doch. Sie habe es Mutter noch gar nicht gesagt, so was bedeute manchmal Unglück.«
»Mamsell soll sich begraben lassen mit ihrem Unglück. Solch dummes Gedröhn! Glück bringt es, wenn die Möwen wiederkommen, viel Glück. Wer weiß, was uns noch blüht!«
Sie sah in das Nebenzimmer, wo die Mutter am Fenster stand und an den Hyazinthengläsern ordnete. Der Vater war hinter sie getreten und hatte den Arm um ihre Schulter gelegt. Jetzt wandte sie sich, sagte halblaut etwas, und nun lachten sie beide. Dann gingen sie Arm in Arm im Zimmer auf und nieder und besprachen sehr ernsthaft irgend eine Sache.
»Ja,« sagte Dine und folgte mit ihren Augen dem Blick der Schwester, »unsre Eltern führen eine beneidenswerte Ehe. Und wie jung sie noch aussehen!«
»Na, wie alt sind sie denn? Als Mutter so alt war wie ich, waren Engel und ich schon beide da. Nun hat sie die großen Töchter und ist selber noch eine blühende Frau in den besten Jahren. Neulich heiratete im Krankenhaus eine von Engels Oberschwestern. Sie war seit langen Jahren mit einem Arzt verlobt; aber er mußte seine alten Eltern erhalten, und sie hatte für ihre Mutter zu sorgen; da konnten sie nicht eher an Heiraten denken. Nun war sie vierzig geworden und er fünfundvierzig, Engel hat sie bei der Trauung gesehen; die Braut habe gestrahlt. Unsre Mutter ist noch nicht zweiundvierzig. Wir Töchter sehen nur immer die Eltern als alte Leute an, andre lachen uns aus.«
»Ich hab' Mutter nie als alt angesehen. Ich glaube, die kann gar nicht alt werden, was man so nennt. Sie wird immer junge Augen behalten. Vater sagte einmal zu mir: ›Keine von euch hat so viel Sonne in den Augen wie eure Mutter.‹«
»Doch, Dine, du bist auch solch ein Sonnenvogel.«
Dine lächelte versonnen vor sich hin. »Und ich bin doch in großen Nöten, Hans. Ich werde nicht das, was ich möchte. Ich weiß es lange, ich wollte es mir selber nur nicht gestehen. Eine große Geigenkünstlerin – ach, Hans, was gehört dazu! Und ich möchte lernen und lernen und lernen; aber einmal vor all den tausend Augen auf dem Podium stehen und spielen, das kann ich nicht. Nun geben die Eltern das viele Geld für mich in Hamburg aus, und wenn ich sie dann enttäusche …«
»Wart' es doch ab! Ich bin auch oft wütend, wenn mir die Zeichnerei nicht so von der Hand geht, wie ich will. Ich kann mir schöne Kleider ausdenken und weiß bis zum letzten Stich, wie sie sein sollen, und wenn ich dann vor dem Zeichenbrett sitze, wird es ein Monstrum.«
Draußen wurde es dunkler. Von irgendwoher kam heller Möwenschrei, klingend fuhr er durch die Luft gegen die Fenster, gellte dreimal hellauf und endete mit einem Aufjauchzen.
Beide Schwestern fuhren in die Höhe, die Eltern nebenan liefen aus der Tür. »Engel, Engel!«
Vor der Haustür hielt ein Wagen, und der Apotheker aus Brarup schälte gerade eine schlanke Gestalt aus Decken und Mänteln. »Da bring' ich dir deine Älteste, Röder. Wir sind zusammen von Hamburg gefahren. Mein Wagen war an der Station, da hab' ich sie mit hergenommen.«
»Engel, aber Engel, wo kommst du noch her? Hast du Urlaub? Warum hast du nicht Nachricht gegeben?«
Der Apotheker wollte nicht absteigen; er werde zu Hause erwartet, habe nur das verfrorene Kind abliefern wollen. Während er schon wieder davonjagte, zogen sie Engel in das Haus, und sie ging aus Mutters Arm in Vaters und lachte mit den Schwestern und sagte endlich: »Ja, ich bin ausgerissen.«
»Was bist du? Willst du nicht mehr Schwester sein?«
»Ach, natürlich will ich Schwester bleiben! Nein, ich hab' nur solch schreckliches Heimweh gehabt. Ich muß ganz fix Kaffee haben, richtigen Duvenhof-Kaffee und braune Kuchen und Butterkuchen. – Da, Dine, wenn du schon meinen Mantel wegträgst, nimm die Pelzmütze auch mit! Ach, bin ich glücklich, daß ich hier bin!«
Wie sie Kaffee und Kuchen hatte und der erste Freudensturm vorüber war, erklärte sie: »Ja, also, das ist so. Ich hab' doch jetzt Nachtwache, sechs Wochen lang. Das müssen wir Lehrschwestern alle durchmachen. Und dann schlafen wir ja immer tagsüber und haben einmal eine freie Nacht, jede fünfte. Also heute mußte ich schlafen, weil ich die Nacht wachte, und diese Nacht hab' ich frei, weil es die fünfte ist, und morgen ist mein freier Tag, weil wir in jeder Woche einen Tag frei haben und weil ich doch auch morgen abend wieder zur Nachtwache antreten muß. Während der Nachtwachenzeit schlafen wir in besonderen Stuben, und da wird selten nachgesehen, ob wir da sind. Wir dürfen ja auch am Tage ausgehen, wenn wir genug geschlafen haben; ja, und nachts kümmert sich keiner um uns, weil wir da doch auf Wache sind. Und nun bin ich um zwölf Uhr von Hamburg weggefahren, und morgen muß ich zurückfahren, daß ich um acht Uhr abends wieder im Dienst bin.«
»Das war ein außerordentlich klarer Bericht!« sagte der Vater. »Ich muß sagen, ziemlich schleierhaft ist mir das Ganze geblieben. Aber jedenfalls bist du da. Ich finde ja, du könntest am besten ganz hier bleiben. Sie werden dich doch hinaussetzen, wenn sie merken, daß du fortgelaufen bist, und dann hätten wir wieder eine Haustochter.«
»Ja, Pap, wenn es nach dir ginge, müßten wir alle zu Hause bleiben. Was, so immer drei Töchter am Tisch, das möchtest du?« Sie hängte sich an seinen Arm. »Aber ob es dir wirklich recht wäre, wenn sie mich hinaussetzten? Das wäre doch eine blamable Sache. Nein, laß du mich nur morgen wieder zurückfahren! Selbst wenn sie es entdeckt haben, mehr als einen Verweis gibt es nicht. Und nun zündet noch mal den Baum an! Dann soll Ovedine spielen: ›Das alte Jahr vergangen ist‹, und Hans und ich singen dazu.«
»Du kommandierst ja gleich wieder recht nett!« sagte Hansine. »Hast es immer ganz gut verstanden, und da bei deinen Kranken nimmt diese nette Angewohnheit noch zu.«
»Sonst wär' ich ja auch gar nicht deine Schwester, Hans.«
Der Baum brannte, und die alten Lieder gingen mit silbernen Flügeln durch das alte Haus. Draußen knallte das berstende Eis auf Wiesen und Gräben, drinnen flackerte das Feuer in massigen Kachelöfen, und Kerzenschimmer glänzte auf schönen, schweren Mahagonimöbeln.
»Es ist nirgends wie auf dem Duvenhof,« sagte Engel.
»Und meine Duven fliegen doch immer wieder aus.«
»Ach, Mutti, wir sind eben keine Duven! Das Möwenblut zeigt sich wieder, und Möwen müssen über Land und See wandern.«
Da sagte Hans mit ihrer starken Stimme in die leichte Rührung hinein: »Und was bedeutet das, wenn die warme Quelle wieder im See aufspringt, und wenn die Möwen alle wiederkommen im Winter?«
»Man sagt, das bedeute, daß noch einmal ein Knabe den Duvenhof erben wird, ein Knabe, der auf dem Hof geboren ist.«
»Dann müßte er bald kommen, denn die Mitte des Sees will nicht zufrieren, und die Möwen sammeln sich in Scharen.«
Sie sahen sich alle an.
Langsam sagte die Mutter: »Wer weiß, was das nächste Jahr uns bringt!«
Dann wurde ein langes Schweigen. –
An diesem Abend begann es zu schneien; die ganze Nacht sanken große Flocken nieder, und am andern Morgen sagte Engel: »Ich muß gleich nach dem Essen fahren, sonst kann Schneeverwehung kommen, und dann – wenn ich heute abend nicht auf dem Posten bin – das möchte ich nicht erleben.«
Es gingen zwei Züge über Brarup, einer um eins und einer um vier, aber die Station lag nicht hart am Dorf, sondern eine kleine halbe Stunde entfernt, und wie das Mittagessen vorüber war, spannte der Kutscher den leichten Schlitten an, und Hansine und Dina fuhren die Schwester hinüber. Sie fuhren quer landein über gefrorene Gräben und vereiste Wiesen; die Pferde, die während der Festtage im Stall gestanden, jagten wie der Wind. Aber Hansine hatte schon als Kind bei dem Vater gelernt die Zügel zu führen, und wenn auch Ovedine einigemal aufschrie, weil es gar zu sehr tanzte, und wenn es auch unter den Kufen krachte, weil lange Sprünge in das Eis rissen, es war doch ein Hauptspaß. Mit roten Gesichtern und strahlenden Augen landeten sie auf der Station.
»Auf Wiedersehen, Engel! Päppel' deine Gören gut! Laß dich nicht von der Scholle totschreien! Wir kommen gleich zu dir, wenn wir wieder in Hamburg sind.«
Da sauste der Zug davon, und die beiden Zurückbleibenden stiegen wieder in den Schlitten und jagten zurück. Aber sie fuhren nicht geradeswegs heim, sondern machten einen Abstecher zum Deich und fuhren auf der Deichkappe entlang.
Unten dröhnte das Eis. Wieder und immer wieder warf der Frost seine Ketten über die See, aber Ebbe und Flut in ihrem steten Wechsel zerbrachen, was sie band. Die Eisschollen rieben sich im Tanz von Wind und Wogen, bäumten sich, stießen einander, krachten, splitterten, grünweißer Wassergischt stieg zwischen ihnen auf; wenn ein Sonnenstrahl ihre zerrissenen Ränder traf, funkelte es wie blitzendes Gestein, und über dem allen tummelten sich die Möwen, schrien, stießen nach Fischen, warfen sich wieder in das himmlische Blau hinauf und ließen Hansine ausrufen: »Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, muß es als Möwe sein.«
»Schreib es auf,« sagte Dina, »damit das Schicksal auch Bescheid weiß! Es könnte dich sonst als Jungen wiederkommen lassen. Das wolltest du nämlich gestern.«
»Alte Großmutter! Man rechnet den Menschen nicht jedes Wort nach.«
Während sie zum Duvenhof zurückfuhren, schnaubte der Zug der Großstadt entgegen.
Die lag schon in elektrischem Licht, als Engel am Hauptbahnhof ihr Köfferchen aus dem Netz nahm und in die Vorortsbahn stieg. Um fünfeinhalb lief sie durch das große Tor des Krankenhauses und hinein in den weiten, schneeverwehten Park, an dessen langen Alleen die einzelnen Krankenhäuser lagen. Überall schien Licht aus den hohen, schmalen Fenstern, und selbst in der freien Luft spürte sie den Dunst von Jodoform, Karbol, Lysol und all die unbestimmten Gerüche, die von einem solchen Betrieb unzertrennlich sind.
»Und nun hab' ich nicht Mutters Aufzeichnungen gelesen,« dachte sie im hastigen Lauf auf den glatten Wegen. »Darauf hatte ich mich doch gerade so gefreut. Aber man kommt gar nicht zu allem, wenn man nur für solchen Augenblick die Ketten abwerfen kann.« Und sie empfand ihren Beruf in dieser Stunde wirklich als Kette.
Da lag der massige Bau des Schwesternhauses vor ihr mit dem hohen Giebel aus blauem Schiefer. In der Halle saß die Hauswache, warf ihr einen müden Blick zu, nickte und häkelte an endloser Spitze eine neue Zacke. Engel lief hinauf in ihr Stübchen, warf das blaue Kostüm ab, riß ihr blauweißes Schwesternkleid aus dem Schrank, die große weiße Schürze, die Haube. Ein letzter Blick in den Spiegel – hilf Himmel, das Haar war wieder von Schnee und Kälte lockig geworden! Beide Hände strichen und drückten; so, nun mochte es gehen. Schon rannte sie wieder die Treppe hinunter, hinaus aus der Eingangshalle. Drüben sah sie das Licht von 44, ihrem Kinderpavillon.
Um sechs war sie da. Um sieben hätte sie erst zu kommen brauchen, aber das böse Gewissen trieb sie. Wenn man ihr Fehlen doch bemerkt hatte? Dann lieber gleich dem Unglück in das Gesicht sehen.
Die Oberschwester nickte nur, als sie grüßend an ihr vorüberging. Die Schwester Anna, welche die linke Saalseite betreute, war über einen schreienden Strampelmatz gebeugt, zwei andre Schwestern hörte man im Badezimmer. Engel sah sich erleichtert um. Es war alles wie sonst. Auch die Scholle stand wie immer in ihrem Bettchen, die Arme über die Lehne gehängt, und lärmte in den Saal hinein.
Plötzlich überfiel Engel das große Mitleid, das sie vor zwei Jahren dazu getrieben hatte, Schwester zu werden. Es war wohl im täglichen Trott und der drückenden Arbeitslast ein bißchen lahm geworden, aber immer kamen Stunden, wo es aufstand und Engels Herz heiß machte. Sie ging geradeswegs zu der Scholle. »Na, was lärmst du denn so? Komm, leg' dich doch unter das weiche Deckchen! Die Beinchen werden ja kalt!« Sie packte den Kobold warm ein, ordnete das kurze, struppige Haar, strich die blassen Züge, sah mit aufrichtigem Mitgefühl in das häßliche Gesichtchen. Die Scholle schien zu spüren, daß man ihr mehr entgegentrug als die gleichgültige Güte, die immer um sie war; sie verzog die Züge zu etwas, was wohl ein Lächeln des Behagens sein sollte, streckte sich und lag ganz friedlich. Als aber Engel nun zum nächsten Bettchen ging, fuhr sie in die Höhe und schrie doppelt gellend hinter ihr her.
»Es wird nichts helfen,« sagte Schwester Anna, die herantrat, »wir müssen den Unhold in das Vorderzimmer tun, wo die taube Grete liegt. Die wird nicht von dem Lärm gestört.«
»Mich jammert der Unhold,« sagte Engel leise. »Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, heißt es. Aber wenn man solch ein Wesen sieht, wo steckt da der göttliche Funke?«
»Er ist gefangen wie einer, der im Kerker gefesselt liegt,« antwortete Schwester Anna. »Er weiß nichts von sich selber, aber ganz heimlich glimmt er doch. Könnte er sonst den gleichen Funken in andern wecken? War es Ihnen nicht eben warm in der Seele, als Sie das Kind so sorgsam betreuten? Ich sah doch Ihr Gesicht dabei. – So so,« sie beruhigte das lärmende Kind. »Da hast du ein Stückchen Schokolade. Na, nun ist sie für die nächsten fünf Minuten still.«
Die Oberschwester hatte heimlich Engel beobachtet. Jetzt sagte sie im Vorübergehen: »Kommen Sie doch bitte einmal in mein Zimmer, Schwester!«
Da wußte Engel, daß ihr Fortsein bemerkt worden war. »Ach, Schwester Anna …«
»Was ist denn? Haben Sie was ausgefressen? Eine von den großen Kannen zerschlagen?«
»Viel schlimmer.«
»Ja, was denn? Medizin verwechselt?«
»Noch viel schlimmer.«
»Ach, warum nicht gar! Sie sind doch kein Sünder! Mein Himmel, Schwester Engel, Sie sehen ja ganz blaß aus!«
»Lassen Sie nur! Ich werd' schon rot werden, wenn die Ober mich da unter vier Augen ins Gebet nimmt. So, ich will hingehen, es hilft ja doch nichts.« Sie klopfte an dem Zimmer der Gestrengen.
»Herein!« Die Oberschwester saß und machte Notizen. Sie sah langsam auf, sah sehr ernst in Engels Gesicht und fragte langsam: »Wo waren Sie die letzte Nacht, Schwester?«
Tiefe Stille.
»Nun, Schwester? Ich warte auf Antwort.«
Engel schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht und schluchzte wild auf. »Ich hatte Heimweh, ich hatte solch Heimweh!« Wieder eine lange Stille. Man hörte nur den mühsamen Atem des Mädchens, das mit seiner Erregung kämpfte.
»Sie waren nach Hause gefahren?« Die Oberschwester sprach ganz ruhig.
Ein Nicken.
»Und warum baten Sie nicht um zwei Tage Urlaub?«
»Ich hätte sie ja doch nicht bekommen!« Der Möwkesche Trotz sprang hoch in Engel. »Ich hab' gebeten vier Wochen vor Weihnachten, als meine Mutter einmal sehr elend war. Man sagte, ich habe schon meine zehn Tage im Jahr gehabt, und mehr stehe mir nicht zu. – Wir gehen hierher und glauben, Schwester sein, das heiße so was wie Güte und Liebe, nicht nur gegen die Kranken, sondern auch untereinander, und dann ist das so – so …«
»Bin ich je ungütig gegen Sie gewesen, Schwester Engel?«
»Na …«
Es zuckte flüchtig im Gesicht der Vorgesetzten. »Sie sind wenigstens ehrlich. Aber sind Sie nie kurz und schroff, wenn der harte Dienst alle Nerven zum Reißen gespannt hat? Gut gemeint hab' ich es immer mit Ihnen, seit Sie unter mir arbeiten.«
»Ja, Oberschwester, das weiß ich auch. Aber die andern … Es gibt hier Oberschwestern, denen sind wir so wenig wie der Schuhputzer vor der Tür. Und man ist doch auch ein Mensch.«
»Sie sind sehr jung eingetreten, Schwester. Und Sie haben sich ein Bild gemacht, wie es sein sollte, nicht wie es ist. Menschen untereinander – ein schweres Kapitel! Denken Sie, was alles in unsern Beruf drängt: Gebildete und Ungebildete, Arme und Reiche, Hartgewöhnte und solche, die bis dahin als Prinzessinnen gelebt haben! So leben hier fünfhundert Frauen zusammen, und was sie verbindet, ist nur der Beruf, ein Beruf, der uns aufzehrt, wenn wir es ernst mit ihm nehmen. Stellen Sie sich doch einmal unser Heer vor, wie es früher war! Da strömten die jungen Menschen auch aus allen Kreisen zusammen, und was band sie? Die Vaterlandsliebe? Ihr deutsches Herz? Die Lust am Soldatenleben? Davon war wohl immer nur in einem kleinen Teil etwas zu finden. Nein, was sie so zusammenband, daß sie zu einem großen Ganzen verschmolzen, zu einem gewaltigen Leib, der von einem ebenso gewaltigen Willen regiert wurde, das war die eiserne Disziplin. Keiner durfte mehr sein wollen als der andre. Jeder hatte sich wortlos zu fügen, jeder war nur ein Atom, nur ein Nerv, ein winziger Muskel des Ganzen. Wir sind hier auch ein Heer, ein Frauenheer. Wir kämpfen den großen Kampf gegen Seuchen und Tod. Und wenn wir stark bleiben wollen und unbesiegt in diesem schweren Kampf, müssen wir wie der Soldat das Eigene vergessen, uns fraglos fügen, die Zähne zusammenbeißen, stolz darauf sein, daß wir Opfer bringen dürfen für unsern Beruf.«
Engel hatte die Hände sinken lassen. Sie sah der Oberschwester ernst in das Gesicht, und als sie die so still ansah, fiel es ihr vielleicht zum erstenmal auf, wie klar und regelmäßig das Gesicht der andern war, wie dunkelblau die Augen, und wie in dem dicken Blondhaar, das hinten unter der Haube einen schwersinkenden Knoten bildete, schon lange silberne Fäden schimmerten. Und doch war die Oberschwester kaum Mitte der Dreißig. Was hatte die hierhergeführt? Was hatte sie seit zehn Jahren und mehr im Krankenhaus gehalten? Was gab ihr immer wieder die Kraft, ihren Posten auszufüllen, geduldig zwischen den schreienden Kindern, bestimmt gegen widerspenstiges Personal, verständig gegen unverständige Mütter, und nun auch noch gütig gegen eine junge, heftige Schwester, die sich nicht finden konnte, weil das Heimweh …
Da kamen die Tränen doch wieder hoch. »Ich bin schlecht gewesen, Oberschwester. Ich hab' es nicht aushalten können, und da … Aber es kommt nicht wieder vor, es kommt ganz gewiß nicht wieder vor!«
»Von schlecht wollen wir nicht reden. Sagen wir: unbedacht. Das ist auch schon genug. Aber ich wußte, es konnte nichts Böses sein, was Sie hinausgeholt hatte aus dem Krankenhaus, darum hab' ich es nicht gemeldet. Und nun wollen wir es begraben sein lassen zwischen uns.« Ein leichtes Lächeln. »Um Ihretwillen habe ich also auch eine Unterlassungssünde begangen, Schwester Engel!«
»Ich vergesse es Ihnen nicht, Oberschwester.«
Es klopfte. Die zweite Schwester meldete, alles sei in Ordnung, sie gehe nun zum Abendessen.
»Schön, gehen Sie! Schwester Engel ißt hier bei mir. Sagen Sie, bitte, die Pflegerin soll uns ein bißchen guten Tee kochen!«
Es war da eine Küche am Pavillon. Wenn auch die Mahlzeiten aus der großen Anstaltsküche kommen und warmes Wasser in allen Räumen Tag und Nacht vorhanden ist, so hat doch jedes Haus seine kleine Sonderküche für Notfälle und für kleine Arbeiten.
Es währte nicht lange, da stand der Tee im Zimmer, und während Engel, nun ganz beruhigt, am Fenster saß und in den verschneiten Park sah, ging die Oberschwester leise hin und her, kramte zierliches Teegerät heraus, persönliches Eigentum, rückte den Tisch unter die elektrische Lampe, stellte einen Blumentopf, eine blühende Hyazinthe, in die Mitte des Tisches und sagte endlich heiter: »Nun wollen wir essen! Sie müssen Hunger haben nach der Fahrt. Und ich habe also doch einen Gast am Neujahrsabend. Eine Stunde haben Sie noch Zeit bis zur Nachtwache.«
Sie aßen mit gutem Appetit ihr einfaches Mahl, und Engel sagte: »Mir ist es doch lieb, daß Sie mich ausgefunden haben, Oberschwester. Nun hab' ich die Angst hinter mir.« Sie lachte ihr weiches, junges Lachen. »Ich werde es gleich morgen meiner Mutter schreiben. Die sagte immer: ›Wie wird es dir gehen, wenn deine Dummheit herausgekommen ist!‹«
»Sie schreiben Ihren Eltern alles, was Ihnen geschieht?«
»Ja, ich wüßte nichts, was ich ihnen verheimlicht hätte bisher, was mich betrifft natürlich. Was andre mir sagen, was nicht mein Geheimnis ist, das natürlich darf ich ja nicht weitersagen; das würden sie auch nicht wissen wollen. Manchmal denk' ich: Nein, das sag' ich nicht, das ist mein eigenstes Eigentum; oder: Das ist solche riesengroße Dummheit, die beicht' ich lieber nicht. Aber es kommt immer eine Stunde, da läßt es mir nicht Ruhe, bis es gesagt ist, so ganz in der Stille. Und wir reden dann auch nicht weiter viel davon.«
»Solch Vertrauen ist ein Königsschatz,« sagte die Oberschwester.
»Unsre Eltern haben es nie verlangt. Unsre Mutter hat uns nie gedrängt, wenn sie spürte, daß etwas war, was uns auf der Seele lag. Aber wir wußten, sie war immer da, uns unsre Beichte abzunehmen, wenn wir allein nicht mehr fertigwerden konnten. Ich glaube, darum wurde es uns so leicht, ihr alles zu sagen, weil es ganz in unserm freien Willen stand. Ich weiß noch« – es ging wieder ein Lachen über das junge Gesicht – »wie ich mich einmal lange, lange mit einer Sünde herumgeschleppt habe. Da war ich noch ein kleines Ding, vielleicht neun Jahre alt. Ich hatte einen kleinen Milchtopf zerschlagen, der zu Mutters guten Tassen gehörte. Das Geschirr trug altmodische Mille-Fleurs-Muster. Ich hatte nicht den Mut zu beichten. Tagelang, wochenlang ging ich herum und dachte nur immer: Wenn sie nun an den Schrank kommt und sieht den Topf … Er war gerade in der Mitte auseinandergeplatzt, als ich ihn abtrocknete, und ich hatte ihn zusammengestellt, daß man es nicht sah. Das Geschirr wurde nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt. Einmal kamen Landrats und Apothekers, und wir tranken Kaffee auf der Veranda; da stand statt des zerbrochenen Topfes ein silberner auf dem Tisch. Es konnte Zufall sein, aber eigentlich mußte Mutter den Schaden bemerkt haben, als sie die Tassen hervorkramte. Ich hätte ja nun erleichtert sein können, denn Mutter sagte nichts; statt dessen wurde ich innerlich immer verzagter. Einmal mußte es doch kommen, das Strafgericht, und dann war es nur umso schlimmer. Ich muß zuletzt ganz wunderlich gewesen sein, denn die Eltern und die Erzieherin und zuletzt sogar die Schwestern fragten mich immer wieder: ›Was ist nur mit dir los? Wie bist du eigentlich? Bist du krank?‹ Aber ich fand den Mut zum Geständnis nicht. Bis es mich eines Abends so überwältigte, daß ich Mutter plötzlich um den Hals fiel und weinte und rief: ›Ich hab' es getan, ich hab' es getan! Ich hab' den Sahnetopf kaputt gemacht.‹
Dann war alles gut. Mutter streichelte mich, gab mir gute Worte und fragte, und ich bekannte meine ganze Angst. Sie schüttelte den Kopf und fragte fast wie Sie erst, Oberschwester, ob ich denn vor der eigenen Mutter Angst haben müsse. Ob sie nicht immer gut gegen mich gewesen sei? Zuletzt lachte sie ein bißchen und meinte, es sei meine größte Dummheit gewesen, mich wochenlang so zu ängstigen. Das Töpfchen habe einen Riß gehabt, der ganz hindurchgegangen sei; es mußte einmal auseinanderfallen.
Um eine Schuld, die gar keine war, hatte ich mich so gequält, statt einfach zu bekennen und mich trösten zu lassen. Seitdem machte ich solchen Unfug nicht wieder.«
Draußen schlug die Uhr acht. Engel stand auf. »Es wird Zeit zur Nachtwache. Sind Neue gekommen, Oberschwester?«
»Nur ein kleines Mädchen, das starken Ausschlag hat. Kranke Eltern – kranke Kinder. Solche Menschen dürften nicht heiraten. Aber wie wenig Verantwortungsgefühl haben die Menschen! Das Kindchen wird unruhig sein. Schwester Helene ist noch da, die sagt Ihnen Bescheid.«
Engel ging in den Saal, und es wurde eine lange, müde Nacht, denn sie hatte am Tag nicht geschlafen, um jede Minute auf dem Duvenhof auszukosten. Während sie von Bett zu Bett ging, leise summend, beruhigend, lindernd, stand immer das Elternhaus vor ihrer Seele: die alten, behaglichen Zimmer, die Diele mit den großen Mahagonischränken, die Familienbilder, die Hyazinthen und frühblühenden Tulpen an den Fenstern und die geliebten Gesichter von Eltern und Schwestern. Es war doch ein Großes, solch Heim zu besitzen! All die armen kleinen Menschenwesen, die hier lagen – wie viele von ihnen hatten kein warmes Nest! Großstadtelend. Armut, Verkommenheit, kranke Mütter, arbeitslose Väter: sie kannte die ganze Skala des Jammers, der mit solchem Kinde verbunden war. So viel Liebe brauchten sie, so viel Mitgefühl! Und sie gab wieder aus vollem Herzen Mitleid und Güte, und als der Morgen, der graue Wintermorgen, endlich heraufdämmerte, war sie ganz erschöpft von der Wache, aber doch trug ihr Herz eine Stille und Fröhlichkeit, daß sie mit Lachen in den Augen zum Schwesternhause zurückging, sich wieder gründlich auszuschlafen.
Es tropfte von allen Bäumen. Der Wind war nach Südwesten herumgegangen. Er schnob und murrte verdrossen durch die kahlen Baumkronen. Die Spatzen saßen mit aufgeplustertem Gefieder und schalten verdrossen, dicke Krähen segelten schwerfällig durch die Luft. Alles war naß und schmutzig. Engel dachte an die Schwestern. Nun schwamm es auf dem Duvenhof in Garten und Hof vom patschenden Schnee. Das ganze Haus war voll Feuchtigkeit, und Hans schalt. Wie er schalt! Nichts konnte er schlechter ertragen als solch Schmutzwetter. Und die Mutter lachte ihr großes Mädchen einfach aus. Der Vater aber sagte: »Arbeiten, arbeiten! Dann vergeht die schlechte Laune. Arbeit macht das Leben süß.«
Wie das alles so vor ihr stand, lachte Engel so vergnügt in sich hinein, daß der Stationsarzt, dem sie gerade über den Weg lief, ihr zurief: »Ist Ihnen das große Los in den Schoß gefallen, Schwester?«
»Es scheint so.« Sie nickte und lief in das Haus.