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Sechzehntes Kapitel.
Patienten

»Schwester Engel, Schwester Engel,« rief die Oberschwester von 57, dem Saal für nervenleidende Männer, »wir bekommen zwei neue Aufnahmen! Ist auf Ihrer Seite noch ein Bett frei?«

»Der alte Behrmann geht heute. Er ist jetzt nur geschwind zum Professor gegangen, der wollte ihn noch einmal sprechen. Ich hab' das Bett bereits wieder bezogen.«

»Schön, der zweite ist ein alter Herr, der in das Sonderzimmer kommt.«

Die Oberschwester rief in das Telephon: »Jawohl, hier ist Platz. Schicken Sie den Patienten!«

Gleich darauf kam ein Krankenwärter mit einem jungen Menschen, der sehr unsicher auf den Füßen ging und schrecklich ausgehungert aussah.

»Hilf Himmel,« dachte Engel entsetzt, als der Jüngling eintrat, »der sieht schlimm aus! Die Lumpen!«

Die Oberschwester flüsterte ihr zu: »Von der Polizei geschickt. Ein Landstreicher.«

Sie ging dem Eintretenden entgegen, nahm dem Wärter die Papiere ab, die jedem Eingelieferten von Arzt oder Behörde mitgegeben werden, und rief: »Nikolsen, hier den Patienten gleich in die Badewanne!«

Nikolsen, ein Hüne, Oberwärter in 57, sah den Neuen ebenso entsetzt an wie Schwester Engel. »Der lebt, Oberschwester.«

»Aber nicht mehr, wenn er in das Bett kommt. Dafür müssen Sie sorgen.«

»Wollen unser Bestes tun. – Na, Jüngelchen, komm mal mit!« Er führte den Menschen in die Badestube, und bald hörte man dort aufgeregtes Sprechen.

Ein andrer Wärter, der Seife holen ging, kam lachend wieder und berichtete: »Der Patient will um keinen Preis in das Wasser. Er denkt, er solle ertränkt werden, oder er hat Todesangst vor der Nässe. An den ist sicher noch nie ein Bad herangekommen.«

Der Lärm im Badezimmer wurde stärker. Alle Patienten lauschten, viele lachten. Man hörte Nikolsens Baß erst beruhigend brummen, dann stieg er zu leichtem Donner, endlich wurde er zu drohendem Gebrüll. »Nicht in das Wasser? In das schöne, warme Wasser willst nicht rein? Na, mein Jungchen, dann setz' ich dich eben in die Wanne.« Darauf ein Platschen und Schreien, dann wurde es still. Einmal drin im warmen Wasser, erkannte der Patient, daß ein warmes Bad noch nicht die schlimmste Folter war.

Es währte über eine Stunde, bis Nikolsen wiederkam. Alles Haupthaar war dem Eingelieferten bis an die Kopfhaut abrasiert worden, und der Wärter sagte mit einem bedeutsamen Blick zur Oberschwester: »Es war sehr nötig.« Dann packte er seinen Schützling in das Bett. Der schien sich einen Augenblick gegen das Bett ebenso sträuben zu wollen wie gegen das Bad, gab es aber auf, als er sah, es würde ihm doch nichts nützen. Dann blieb er liegen, wie ihn der Wärter hingepackt hatte.

Engel kam heran. »Sehen Sie mal,« sagte sie freundlich, »hier unten an jedem Bett hängt eine Tafel; auf die kommt der Name von dem, der im Bett liegt. Nun sagen Sie mir mal Ihren Namen, daß ich ihn auf die Tafel schreiben kann!«

Der Patient starrte sie an, als spräche sie Chaldäisch.

Im Nebenbett war ein alter Major, der mit gelähmtem Bein dalag. Seine Einnahmen gestatteten ihm nicht, ein Einzelzimmer zu nehmen. Obgleich er früher ein reicher Mann gewesen war, verlor er kein Wort darüber, daß er nun im Saal unter der großen Menge liegen mußte. Er beobachtete den Vorgang. Als Engel weiter fragte: »Wie heißen Sie denn? Sie müssen doch einen Namen haben,« und wieder keine Antwort kam, drehte er sich mühsam ein bißchen zur Seite. »Lassen Sie mich mal fragen, Schwester! – Du, Jung',« – seine Stimme bekam Kommandoton – »wie heißt du?«

Der Mensch fuhr ordentlich zusammen. »Schlackerjochen,« sagte er weinerlich.

»Ist auch ein Name. Jedenfalls stimmt er. Und weiter?«

Es ergab sich, daß der große Junge von einem andern Namen nichts wußte.

»Ich kann doch nicht auf die Tafel schreiben, ›Schlackerjochen‹!« sagte Engel.

»Schreiben Sie ›Jochen‹ und ein Fragezeichen dahinter!« Der Major wandte sich wieder an den Jungen. »Und wo bist du denn geboren?«

»Weiß ich nicht.«

»Na, du mußt doch irgendwo hingehören! Wo wohnst du denn?«

»Ich wohn' nich.«

»Wo schläfst du denn?«

Die Antwort blieb aus, Mißtrauen kam in das Gesicht. Was wollte der? Was fragte der ihn so aus? Gerade wie die Landjäger, wenn er ihnen auf der Wanderschaft begegnete. Vater Philipp, mit dem er gelaufen war, solange er denken konnte, hatte ihm größtes Mißtrauen gegen alle fragenden Leute beigebracht.

An diesem Tage war mehr nicht aus ihm herauszubringen. Es ergab sich dann aus einem Polizeibericht, daß man an diesem kalten Morgen in den Anlagen am Millerntor die Leiche eines alten Landstreichers gefunden hatte, der wohl dem Frost zum Opfer gefallen war. Neben ihm hatte der junge Mensch gelegen, auch ganz verklammt und mit angefrorenen Zehen, denn die Stiefel waren nur Fetzen. Den hatte man in das Krankenhaus geschickt, wo er erst einmal zum Menschen gemacht werden sollte.

Aber außer dem Namen Schlackerjochen, den er wohl von seinen Genossen wegen seiner schlackrigen Haltung bekommen hatte, fand sich kein andrer für ihn. Allmählich faßte er Zutrauen zu Engel – sie war die einzige, mit der er von selber sprach – dagegen hegte er gegen alle andern das größte Mißtrauen. Am Abend, als es still im Saal geworden war, hörte die Nachtwache ein leises Ruscheln in seiner Ecke, hatte aber weiter keine Gedanken dabei. Doch als sie durch den Saal ging, die Runde zu machen, war Jochens Bett leer. Wo in aller Welt konnte er hingekommen sein? Die Saaltür ging auf den Vorflur zwischen den Einzelzimmern und stand zwar offen, aber draußen die Haustür war verschlossen, hatte zudem ein Sicherheitsschloß. Da konnte er nicht hinauskommen. Wie sie das Licht anknipste – es brannte während der Nacht nur über dem Mitteltisch im Saal eine elektrische Birne –, da fand sie den Jungen zusammengeknäult in der Ecke hinter seinem Bett. »Was soll denn das?« fragte sie.

Er blinzte sie mit seinen pechschwarzen Augen an und schwieg.

Major von Färber wurde wach. »Ist er durchgegangen, Schwester?«

»Er liegt hier auf dem Steinboden. Der ist nicht ganz richtig, Herr Major. Antworten tut er auch nicht.«

»Helfen Sie mir mal ein bißchen in die Höhe!« Den Oberkörper zu dem Landstreicher wendend, so daß er ihm in das Gesicht sehen konnte, fuhr er ihn an: »Willst du wohl auf der Stelle in dein Bett gehen! Das Herumliegen auf der Erde gibt es hier nicht.«

Der Junge kam verdutzt in die Höhe und kroch auf sein Lager.

»Der hat sicher noch nie in einem Bett gelegen,« sagte der Major zur Nachtwache. »Es gibt solche Existenzen; man sollte es nicht für möglich halten.«

Er hatte recht mit seiner Vermutung, Der Sechzehnjährige wußte nicht, was ein Dach über dem Kopf war, kaum daß er während des strengsten Winters einmal auf Strohlager in einer Herberge geschlafen hatte. Woher er stammte? Es wurde nie klar, denn der alte Landstreicher, der neben ihm gestorben war, hatte ihn als siebenjährigen Jungen auf der Straße gefunden, wo er heulend neben der toten Mutter gestanden, die jedenfalls auch eine Herumstreicherin gewesen war. Der Bengel hatte sich ihm angeschlossen, sooft er ihn auch fortgescheucht hatte. Zuletzt hatte er ihn geduldet, sich an ihn gewöhnt; endlich waren sie untrennbar gewesen. Der Alte hatte dem Kinde allen eigenen Haß gegen Ordnung, Seßhaftigkeit und Gesetze eingeimpft. In einer Schule war er nie gewesen; er konnte weder lesen noch schreiben, und es war ihm eine Qual, in all der Sauberkeit und Ordnung des Krankenhauses zu weilen. Aber wandern mit den erfrorenen Zehen? Das war einstweilen ausgeschlossen. Er mußte bleiben. Und wie ein Tag nach dem andern ging, suchten seine Augen immer schon beim Erwachen nach der blonden Schwester, die ihn betreute, und die so nett zu schelten und noch netter zu loben wußte. Schelte hatte er bisher nicht gekannt, nur Schimpfworte. Und Lob – das war etwas so Wunderliches, daß er anfangs Augen und Ohren aufsperrte, wenn Engel sagte: »Sieh mal an, Jochen, du ißt ja schon ganz sittsam! Ja, kau' das Brot nur ordentlich! Schling es nicht so hinunter! Du bist doch kein Tier.«

»Obgleich man es manchmal meinen sollte,« murrte der Major nebenan.

»Und deine Sachen hast du ja auch schon halbwegs ordentlich auf den Stuhl gelegt. Hast dich früher auch abends ausgezogen?«

Jochen grinste. »Nee, nie!«

»Wie konntest du dich denn waschen?«

»Waschen?« Er lachte sehr belustigt. »Was braucht man waschen?«

»Na ja, deine Läuse sprachen von seltsamen Gewohnheiten!« warf der Major wieder ein.

Einmal – der Junge war von Nikolsen in die Badewanne gesteckt worden – sprach Engel mit dem alten Herrn über ihn. »Was soll nun aus solchem Menschen werden?«

»Nichts, Schwester. Der geht einfach vor die Hunde.«

»O nein, sagen Sie das doch nicht! Glauben Sie nicht, daß er noch zu erziehen ist?«

»Das wird schwer halten. Und wer will die Mühe auf sich nehmen?«

»Es soll doch solche Anstalten geben für Trinker und Landstreicher.«

»Ja, die gibt es. Sie stiften auch Segen, aber die meisten der Vagabunden reißen doch nach einiger Zeit wieder aus. Sie können die Regelmäßigkeit eines geordneten Lebens nicht ertragen.«

»Wenn man irgend etwas fände, was ihn festhielte.«

»Was sollte das wohl sein?«

Sie wußte es auch nicht, aber es ging ihr nach Tag und Nacht. Sie konnte sich ja nicht gewöhnen, nur Schwester zu sein in dem Sinne, daß sie ihre Tagespflicht tat. Sie mußte darüber hinaus immer noch weiter für ihre Schützlinge planen und denken.

Am nächsten Tage hatte sie eine unerwartete Freude. Sie wurde in das Dienstzimmer gerufen zu der Oberschwester, die alle Angelegenheiten der Schwesternschaft ordnete.

»Schwester Engel, sind Sie vor etwa zehn Tagen in Blankenese gewesen?«

»Ja, Oberschwester.«

»Dann sind diese beiden Körbe voll Blumen und dieser Brief für Sie. Sie wurden eben abgegeben für die Schwester Engel in Sankt Georg, die am zwölften Februar die Gewächshäuser von Senator Breidenkamp besichtigte«. Sie nahm ein hüllendes Papier von den Körben.

»Oh!« sagte Engel nur, ganz erschüttert.

In dem einen Korb waren Schnittblumen und grüne Ranken, im andern sechs Töpfe mit lebenden Blumen. Sie griff nach dem Brief. »Sie erlauben, Oberschwester?« – Ein Unbekannter schrieb:

 

Sehr geehrte Schwester! Der Gärtner Franz Nöldeke des Herrn Senators Breidenkamp erzählte mir von Ihrem Besuch der Gewächshäuser und der Freude, die Sie an den Blumen gehabt haben, zugleich auch von Ihrem Bedauern, nicht etwas von der Überfülle den armen Kranken, die Ihre Pfleglinge sind, bringen zu können. Ich weiß mich als Bevollmächtigter von Herrn Senator Breidenkamp seiner Einwilligung durchaus sicher, wenn ich dem Gärtner den Auftrag gab, zweimal im Monat Ihnen eine Sendung Blumen zugehen zu lassen, über die ich Sie bitte, ganz nach Gutdünken zu verfügen. Möchte es vielen eine kleine Freude in ihren Leiden sein, wenn eine gütige Schwesternhand ihnen diese Frühlingsgrüße auf das Krankenlager legt!

In vorzüglicher Hochachtung ergebenst

Hugo Behrend,
Rechtsanwalt.

 

»Das ist zuviel, das ist zuviel!« stammelte Engel.

Die Oberschwester sah sie musternd an. »Wer schickt Ihnen denn diesen ganzen Frühling, Schwester?« Es war etwas in der Frage, was Engel aufhorchen ließ.

»Kein Verehrer, Oberschwester. O nein, ganz und gar nicht! Die Blumen sind für unsre Kranken. Ist es nicht herrlich? Und jeden Monat zweimal kommen neue. O wie freu' ich mich! Der alte Major bekommt gleich welche, und die arme kleine Scholle. Heute früh ist sie gestorben, und nicht eine Blume kann sie auf den Sarg bekommen, so arm ist der Vater. Hätte ich sie ihr doch noch in das lebende Händchen geben können!« Sie trug einen Teil der Blumen zur eigenen Station, der Oberschwester die Verteilung der übrigen überlassend. Sie wußte, daß die das gern hatte.

»Was? Maiglöckchen und Primeln für mich alten Knaben?« fragte der Major. »Das ist wirklich mehr, als man erwarten kann. Küss' die Hand, Schwester Engel. – Du, Nauke« – er sah zu dem Landstreicher hinüber –, »magst du auch Blumen? Oder ist dir der Zauber noch nicht aufgegangen?«

»Kann man nicht essen,« grinste Jochen.

»Banause!«

Eine zweite Schwester, welche die Einzelzimmer zu betreuen hatte, kam heran. »Wenn Sie einen Blumentopf übrig haben, Schwester Engel, aber nichts, was stark duftet, gönnen Sie es meinem Geheimrat! Das ist ein so feiner alter Herr, der freut sich sicher.«

Engel ging mit ihr und brachte eine schneeweiße Azalee in das Zimmer des Patienten. Wie sie ihn sah, erkannte sie sofort an den tiefen Gesichtsnarben den alten Herrn, mit dem sie vor einigen Tagen am Tor zusammengerannt war.

»Schwester Engel möchte Ihnen einen Blumenstock bringen, Herr Geheimrat,« sagte Schwester Fanni.

Als er den Namen hörte, erkannte der Geheimrat auch Engel.

»O wie liebenswürdig! Was für ein wunderschöner Stock! Das kann ich ja gar nicht annehmen, Schwester!«

»Ich habe den Blumenstock eben bekommen, um einem Kranken eine Freude damit zu machen. Ich freue mich, wenn Sie ihn haben mögen, Herr Geheimrat.«

»Hier in meiner Gefängniszelle,« sagte der alte Herr und sah sich in dem Zimmer um, das nur das Notwendigste enthielt, wie es in Krankenhäusern zu sein pflegt, »ist es ein wahrer Genuß, solch Stück Schönheit betrachten zu dürfen. Recht herzlichen Dank, Schwester!«

Engel ging wieder. Da sie aber die Pflege des Stockes als ihre Pflicht ansah, kam sie jetzt an jedem Morgen, ihn zu begießen. Dabei unterhielt sie sich dann mit dem Leidenden.

Es war ein Fall, wie hier viele vorkamen: leichte Lähmungen nach einem Schlaganfall, der nur eine Warnung gewesen war. Vielleicht wiederholte er sich nie, vielleicht kam er schon bald zum zweiten- und zum drittenmal und nahm den Betroffenen von der Erde fort.

Bisweilen, wenn Schwester Fanni in Anspruch genommen war oder ihren freien Tag hatte, massierte Engel den gelähmten Arm, die nervös zuckende Gesichtshälfte. Und der Geheimrat fand immer größeres Wohlgefallen an ihr.

Da er nicht ständig zu liegen brauchte, nachmittags bei gutem Wetter oft auch eine Autofahrt machte, lud er Engel einmal, als sie einen freien Nachmittag hatte, ein, mit ihm zu fahren. Sie nahm gern an. Autofahren, das war ein seltenes Vergnügen.

»Ja,« sagte sie zu Schwester Fanni, »das ist das Honorar für den Blumenstock. Ein zu netter alter Herr! Aber wie heißt er eigentlich, der Herr Geheimrat?«

»Herr von Trummer heißt er.«

»Wie?«

»Von Trummer. Ist der Name so auffallend?«

»Ach, an sich ja nicht! Hm – ob er das ist?«

»Sie reden in Rätseln, Engel.«

Engel lachte. »Na, es wird sich ja aufklären.«

Als sie nachmittags, warm eingepackt – denn trotz eines schönen Vorfrühlingstags war es frisch bei solcher Fahrt – um die Alster fuhren, fragte der Geheimrat: »Schwester Engel, ich habe Sie schon immer fragen wollen, sind Sie aus der Marsch?«

»Ja, Herr Geheimrat, vom Duvenhof.« Sie sah ihn an, und beide wußten, daß der andre aus dem Hause war, das seit hundert Jahren und mehr dem andern gegenüber in einer wunderlichen. Rechtstellung stand.

»Sie wissen doch meinen Namen?«

»Ja, Herr von Trummer. Gestern nannte Schwester Fanni ihn mir. Aber es gibt doch noch mehr Trummers.«

»Freilich, aber unsre Linie steht nur noch auf vier Augen. Meine Schwester Amalie, bisher Klosterdame in Preetz, und ich sind die letzten. Sie wissen, was eintritt, wenn wir zwei nicht mehr am Leben sind?«

Engel mochte nicht sagen: »Ja, dann bekommen wir endlich unsre Wiesen wieder.« Das schien ihr doch gar zu taktlos. Sie begnügte sich, leicht den Kopf zu neigen.

»Erzählen Sie mir von sich und den Ihren! Haben Sie Brüder?«

Da waren sie bald in eifrigem Gespräch, denn den Kindern vom Duvenhof ging das Herz auf, wenn sie von Daheim reden konnten.

Als sie nach einer Stunde wieder am Krankenhaus ankamen, sagte der Geheimrat: »Nun haben sich also endlich zwei zusammengefunden, die längst hätten Frieden schließen sollen. Ich bleibe noch etwa acht Tage hier im Krankenhaus, aber ich hoffe, wir sehen uns auch später noch, Schwester Engel. Sie wissen vielleicht, daß die protestantischen Damenstifte, die alten Klöster, sozusagen auf den Aussterbeetat gesetzt sind. Neue Klosterdamen werden nicht mehr aufgenommen, und für die, welche jahrzehntelang dort lebten, ist es auch nicht mehr, was es war. So ist meine Schwester jetzt den größten Teil des Jahres hier bei mir in Hamburg. Sie wird sich freuen, wenn Sie einmal zu uns kommen. Jugend ist etwas, was wir selten sehen. Wenn es Ihnen nicht zu langweilig ist bei uns alten Einsiedlern …«

Engel versicherte, daß sie mit großem Vergnügen kommen werde, wenn sie dürfe. Ob sie ihren Eltern unbekannterweise einen Gruß bestellen dürfe? Die würden sich auch sehr freuen, wenn sie ihnen von der neuen Freundschaft berichte.

Eine Woche später ging Herr von Trummer, und Engel dachte nicht mehr viel an ihn, denn sie hatte so viel Arbeit und Unruhe um sich, daß der einzelne Kranke, wenn er das Krankenhaus verlassen hatte, sofort von neuen Eindrücken abgelöst wurde.

Aber als wieder acht Tage vergangen waren, bekam sie einen Brief von Fräulein Sidonie von Trummer, Klosterdame zu Preetz, die ihr außerordentlich liebenswürdig schrieb, sie würde sich sehr freuen, Fräulein Engel Röder-Möwke an einem von ihr selbst zu bestimmenden Tage bei sich zu sehen, am liebsten zu einer Tasse Tee abends um acht Uhr, da sie durch ihren Bruder wisse, daß förmliche Besuche für vielgeplagte Schwestern unmöglich seien. Doppelt würden sie und ihr Bruder sich freuen, wenn eine oder beide Schwestern von Fräulein Engel sie begleiten würden.

Engel lief abends nach dem Dienst zu den Schwestern. Sie fand beide in Verstimmung. Ehe sie noch von der Einladung sprechen konnte, fing Hansine schon an: »Also, das ist ja nett, daß du uns noch nicht ganz vergessen hast! Wir sitzen hier in lauter Not, und du läßt dich nicht sehen.«

»Ja denkst du vielleicht, ich sitz' in lauter Wohlleben?«

»Ich soll eine Preisarbeit liefern zum nächsten Sonnabend – die ganze Klasse – Entwurf zu einer modernen Schleppe – Spitzen und Silberstickerei. Stell' dir vor!«

»Gut, daß ich das nicht soll!«

»Wenn du mir sonst weiter nichts zu sagen weißt – du bist aber, offen gestanden, wirklich recht herzlos.«

»Ja, Mann, was soll ich sagen? Ich könnte es doch wirklich nicht. Aber du wirst schon ganz gut damit fertig werden. Und natürlich bekommst du den Preis.«

»So, was du nicht weißt! – Natürlich bekomm' ich ihn nicht und bin unsterblich blamiert.«

»Es kann ihn doch nur einer bekommen, und ihr seid ja wohl dreißig in eurer Klasse. Wenn die sich alle unsterblich blamiert fühlten …«

»Aber ich will ihn haben! Ich muß ihn haben! Wozu hat man seinen Ehrgeiz? Und wenn ich eben sitz' und zermarter' mein Hirn und meine Finger, dann fängt Dine mit ihren Übungen an. Die ganze Tonleiter singt sie mit der Geige rauf und runter, rauf und runter – es kann einen Hund jammern.«

»Kannst du denn in dieser Woche nicht ein bißchen weniger üben, Dina?«

»Ich muß sogar noch viel mehr üben als sonst, Engel. Am Montag ist doch unser Konzert! Professor Paegelow gibt jeden März mit seinen Schülern eins. Ich hab' dir doch auch schon davon gesagt.«

»Ach ja!« Engel fühlte Reue, daß sie das vergessen hatte. – »Ich weiß, mein Lüttjes! Sei nicht böse! Ich bin bei meinen tüdeligen Männern auch oft ganz tüdelig und bekomm' alles durcheinander. Kinder, mein Landstreicher soll nun entlassen werden in den nächsten Tagen, und nun erwartet dies Unglückswurm ausgerechnet von mir, daß ich ihm sage, wohin es soll, weil ich ihm immer gepredigt hab': ›Auf die Landstraße geht es nicht wieder; jetzt wird anständig gelebt und gearbeitet.‹ Gearbeitet hat er im Leben noch nicht, und was anständig leben heißt, davon hat er nicht den entferntesten Begriff. Sein bisheriger Schützer aber ist tot.«

»Ach, laß doch den Landstreicher! Was soll der immer!«

»Jetzt bist du aber herzlos, Hans.«

»Wenn dir solch fremder Kerl wichtiger ist als deine Schwestern …«

Da hatten sie sich nach ihrer Art einmal wieder bei den Haaren. Aber Ovedine sagte in ihrer sanften Weise: »Nun will ich erst mal Tee kochen. Ihr könnt ja immer Tee trinken. In der obersten Kommodenschublade ist wohl noch Topfkuchen von Zuhause. Hans, hol' ihn mal heraus! Engel, da auf dem Tisch stehen zwei Tassen. Wasch sie mal draußen an der Leitung! Ich nehm' ein Glas vom Waschtisch. Und nun glättet inzwischen ein bißchen das Gefieder, statt es euch zu zerraufen!«

Sie ging in die Küche und sah sich nach heißem Wasser um. Engel machte sich an die Zeichnungen der Schwester. »Sind das die Entwürfe zur Schleppe? Aber die sind ja entzückend, Hans! Wie kannst du damit nur nicht zufrieden sein? Ich hab' noch nichts Schöneres gesehen.«

»Aber ich. Du sitzst ja auch eingespunnt in deinen vier Wänden. Aber wenn man hier durch die großen Modenhäuser geht – ach, Engel, was fehlt mir noch alles!«

»Wird schon werden, wird alles schon werden, mein alter Hans! Du willst mal wieder mit dem Kopf durch die Wand. O diese stilisierten Lilien! Wie die aus der Spitze herauswachsen! Die auf ganz feinen Tüll gestickt – entzückend muß es werden!«

Hansine bekam ein vergnügteres Gesicht. »Du verstehst zwar nicht viel davon, Engelchen, aber es tut doch wohl, gelobt zu werden. Ich war ganz verkommen vor innerer Unzufriedenheit. Die arme Dina hat es nicht leicht mit mir. Sie singt mir auch immer vor, daß sie am Montag durchfällt, obgleich sie so tapfer übt. Dies Capriccio von Rubinstein, das spielt sie einfach zum Entzücken. Aber das Lampenfieber, das sie hat! Sie müßte einen besseren ›Kehrdichannichts‹ haben. Tröste sie nur auch ein bißchen! Dann will ich auch Interesse für deinen Landstreicher haben, und was du dir da sonst an Schützlingen zulegst.«

Dina kam wieder herein, den dampfenden Teetopf in der Rechten. »Nein, aber mit euch ist auch nichts anzufangen! Habt ihr nun die Tassen sauber gemacht? Bewahre! Ach ja, es ist ein Kreuz mit den großen Schwestern!«

Nach drei Minuten aber saßen sie bei ihrem Tee, suchten Zuckerkrumen aus der Tüte und verzehrten einen Rest Topfkuchen, der zwar schon recht trocken war, aber nichtsdestoweniger herrlich nach »Zuhause« schmeckte.

»Nun will ich aber erst sagen, warum ich heute abend noch gekommen bin.«

»Hoffentlich doch aus schwesterlicher Liebe.«

»Denke gar nicht daran. Aus lauter Haß. – Nein, also im Ernst, ich soll euch eine Einladung bringen. Ratet mal, von wem?«

»Vom neuen Vetter.«

»Den hab' ich weder gesehen noch telephonisch gesprochen. Der ist doch in der Hauptsache dein Vetter, Hans. – Nein, aber auch jemand, der so aus der Vergangenheit herüberragt in unsre Gegenwart. Ihr ratet es doch nicht. Also, das Klosterfräulein Sidonie von Trummer lädt uns zum Tee ein.«

»Wer?«

»Ja, da wundert ihr euch! Das hängt nämlich so zusammen.« Sie berichtete.

»Ich kann nicht,« sagte Hansine. »Ich hab' die nächste Woche noch viel zu tun. Aber Dina kann. – Was? Du kannst auch nicht? Natürlich kannst du! Montag ist euer Konzert. Von da an bist du frei, ob du durchgefallen bist oder nicht. Und heute ist Freitag. Ja, von Dienstag an kann sie jeden Abend, Engel.«

»Wenn man dich hört, Hans … Als wenn ich selber nichts mehr zu sagen hätte!«

Sie einigten sich auf den Mittwoch und verfaßten gleich gemeinsam den Brief an Fräulein Trummer.

»Ich kann ihr vorher keinen Besuch machen,« sagte Engel. »Dienst, Dienst, wieder Dienst. Aber du mußt Sonntag um eins hingehen, Dine.«

»Ich muß doch üben!«

»Der Tag hat fünfzehn Stunden. Wenn du zehn übst, ist es schon mehr als Hans' Nerven ertragen können. Entschuldige mich recht nett und sei sehr höflich! Flicht auch dein Konzert ein bißchen ein! Vielleicht gehen sie hin.«

»Erstens ist es nicht mein Konzert – ich bin nur ein kleines Gestirn unter vielen hellen Sternen –, und zweitens will ich gar keine Menschen da haben, die mich nachher darauf anreden.«

»Wann fängt es an?«

»Um acht Uhr.«

»Dann werde ich sehen, daß ich noch hinkomme. Vielleicht läßt mich die Ober mal eine halbe Stunde eher gehen.« –

Ovedine ging am Sonntag zur »Schönen Aussicht« und fragte, ob das gnädige Fräulein zu sprechen sei. Aber das gnädige Fräulein war nicht zu Hause, und Dina ging sehr erleichterten Herzens fort, denn Besuche machen war ihr etwas Entsetzliches.

Wie sie aber nun an der Alster hinging und ihre kurzen, goldroten Locken im hellen Frühlingslicht förmlich leuchteten, kamen Schritte hinter ihr her und eine Stimme sagte: »Nach den Haaren und dem Gang muß das meine kleine Cousine sein.«

»Ach, Herr von Hamm!«

»Ich sah Sie eben bei meiner Tante aus der Pforte kommen.«

»Ihrer Tante?«

»Richtiger gesagt: meiner Großtante. Wissen Sie nicht, daß der ganze holsteinsche Adel untereinander verschwippt und verschwägert ist?«

»Doch, ich weiß; sie sind wie eine große Familie.« Sie erzählte, was sie zu den Trummers geführt hatte. Und wie es so kam, sie wußte es nachher selber nicht, sie sprach auch von dem Konzert am Montag und von ihrer Angst. »Im Leben werd' ich keine Künstlerin, allein wegen meiner zitternden Angst vor dem Publikum.«

»Aber wer verlangt es denn von Ihnen? Ihre Eltern?«

»Ach nein, meine Eltern verlangen das keinen Augenblick! Das ist so gekommen, ohne mein Zutun. Ich habe immer die Musik leidenschaftlich geliebt. Und unser alter Kantor, der mir Stunden gab, sagte schon zu mir, als ich kaum zehn Jahre alt war: ›Dina, daß du mir später nach Hamburg zum Professor gehst!‹ So wurde das Wort ›Professor‹ wie eine Lebensbestimmung für mich. Dann gingen die Schwestern hierher, und ich war es immer gewöhnt, ihnen nachzulaufen. So bin ich ihnen auch hierher nachgelaufen. Es tat mir auch nie leid, solange es nur um die Stunden ging. Aber wenn ich denke, ich soll später immer auf das Podium hinaus, und all die hundert Augen starren mich an, womöglich noch mit Operngläsern – ich laufe sicher davon.«

»Sie werden schon nicht davonlaufen. Ich traue Ihnen zu, daß Sie etwas können. Einen Nichtskönner ließe Ihr Lehrer gar nicht vor die Öffentlichkeit.«

»Das nützt alles nichts, ich bin ein Hase.«

»Ich werde mich morgen überzeugen, daß Sie keiner sind.«

»Ach nein! Ach bitte, gehen Sie nicht hin! Wenn ich ein bekanntes Gesicht sehe, ängstige ich mich noch viel mehr.«

»Also, ich gehe nicht hin. Beruhigt es Sie?«

Sie begannen nun beide zu lachen, und weil der Tag so schön war, ließ Dina sich überreden, mit dem Vetter einen langen Spaziergang am Wasser zu machen, bis es ihr weit draußen an der Uhlenhorst plötzlich einfiel, daß sie Hansine versprochen hatte, um drei Uhr wieder am Haus zu sein. »Die wird aber schelten! Wir sollen noch zusammen zu einer ihrer Kolleginnen.«

»Sie haben noch zwölf Minuten Zeit. Da kommt ein Auto, das braucht sicher noch keine zwölf.«

Eh sie recht wußte, wie ihr geschah, saß sie in den weichen Lederpolstern, und da flogen sie hin am Wasser.

»O wie herrlich!«

Hamm sah sie freundlich an. Es lohnte wirklich, den Duvenhofer Cousinen eine Freude zu machen. Sie waren noch ganz unverwöhnt und genossen eine gute Stunde mit vollem Herzen. Viel zu schnell für Dinas Freude waren sie in der Kirchenstraße.

»Aus Wiedersehen!« sagte Adolf von Hamm. »Am Dienstag werde ich mir erlauben, nachzufragen, ob Sie wirklich in der Angst umgekommen sind.« –

»Und du gehst mit ihm um die halbe Alster,« rief Hans, »und läßt dich von ihm im Auto nach Hause bringen? Dina, du bist und bleibst ein Gör!«

An dies Wort war Dina so gewohnt, daß sie nur die Achseln zuckte. »Erstens ist er ein Vetter, und zwar ein sehr netter und hübscher, und dann ist er ein alter Herr.«

»Was ist er?«

»Findest du ihn nicht alt? Ich find' alle Leute, die ihr Examen gemacht und schon eine Anstellung haben, uralt, uralt.«

»Na, das ist auch eine Ansicht!« sagte Hansine trocken.


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