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Morgens um neun war die alte brave »Nikoline« von Hamburg abgegangen. Es zog dunstig über die Elbe, und die Kirchtürme der Stadt standen im Nebel. Nur hin und wieder blitzte ein Kreuz oder ein Turmhahn auf, von einem Strahl aus der Höhe getroffen. Die Luft war naß und frostig, und Hansine Röder schüttelte sich, als sie über das schwarze Laufbrett hinüberstieg an Bord.
»Ja,« sagte Ovedine, die hinter ihr ging, »wir hätten doch lieber mit der Bahn fahren sollen.«
»Hätten – sollen! Sei du froh, daß wir gerade noch den Dampfer bezahlen können! Die Bahn hätte drei Mark mehr gekostet.«
»Wenn wir gestern nicht noch in der Teestube gewesen wären …«
»Wenn … Sprich doch nicht immer in Bedingungssätzen! Nu waren wir da. Du hast dich herrlich unterhalten, und ich hab' ein Dutzend neue Einfälle aufgegriffen für Nachmittagskleider. – Ach, sind Sie heute Kapitän, Herr Moritz? Wo ist denn Sauerbier?«
»Hat en Hexenschuß, Fräulein. Liegt in der Koje unten und schimpft und schandiert. Aber haben Sie man keine Bange nich, ich bin en alten Fahrensmann und kenn' den Weg grad so gut. Wollen woll en büschen nach Haus zu Vater und Mutter? Is recht, daß Sie bei der ›Nikoline‹ an Bord gehn; unsereins hat auch gern mal was Junges und Hübsches auf Deck.«
Ovedine zupfte die Schwester am Mantel. »Er hat schon einen zuviel, Hans. Wenn ich gewußt hätte, daß Moritz heute fährt …«
»Fängst du schon wieder mit Wenn und Aber an? Nu laß man! Moritz wird ja wohl noch von Hamburg nach Lilebüll finden können!«
»Aber wo es so diesig ist!«
Hansine hob den blonden Kopf auf den schlanken Schultern unternehmungslustig. »Ich hab' noch nie auf meinen Hamburger Fahrten das geringste Abenteuer erlebt; ich wollt', es käme mal eins.« Dann nahm sie den einen Handkoffer, den sie mit sich führten, Ovedine griff nach dem zweiten, und gemeinsam kletterten sie die kleine Treppe in die Kajüte hinunter.
Ein länglicher, schmaler Raum war das, mit roten, sehr abgeschabten Samtbänken an den Wänden und einem Tisch am breitesten Ende. Der Tisch war an den Beinen festgeschraubt, und über ihm hing in einem Ringe eine Messinglampe, die am Abend ein trübes, übelriechendes Licht verbreitete. An dem Tisch saßen vier dicke Männer, Viehhändler aus der Provinz, die Ochsen nach Hamburg gebracht hatten und nun gemütlich mit der »Nikoline« heimgondeln wollten. Sie rauchten einen kräftigen Tabak und spielten dazu Skat. Der eine schlug eben triumphierend mit der flachen Hand auf den Tisch. »Und ich sag' Null an, Null ouvert.« Er breitete seine Karten vor sich hin. »Na, was sagen Sie dazu, meine Herren? Da kann keiner dran tippen.«
»Hier ist das nicht auszuhalten,« murmelte Dina, nachdem sie die Koffer unter die Samtbank verstaut hatte. »Wir wollen wieder an Deck gehen.« Und in ihrer tiefsten Seele setzte sie hinzu: »Wären wir gestern lieber nicht in die Teestube gegangen!«
Der alte Kasten begann zu stampfen und zu schnauben. Es rasselte in seinem Bauch, es quiekte und schnurrte; dann wurden die Geräusche zu einem gleichmäßigen Stampfen, und sie trieben den Strom hinab. »Komm,« sagte Hans, »wir setzen uns hier auf die Bank dicht bei der Maschine! Hier kommt es ordentlich warm von unten herauf. Wickel' dich mit in die Decke! So. Die Füße mußt du hineinwickeln! Mein Himmel, Dina, du bist wieder wie ein Baby!« Sie packte die Schwester ein und setzte sich neben sie. »Was sie wohl zu Hause für Gesichter machen, wenn wir heute mittag ankommen statt morgen früh?«
»Zum Glück weiß die gute Mutter nicht, daß wir auf der ›Nikoline‹ sind. Die würde sich sicher mächtig ängstigen. Sieh mal, es wird immer nebliger!«
»Das gibt sich, wenn wir nur erst auf See fahren. Ob wir mit den dicken Viehhändlern die einzigen Fahrgäste an Bord sind?«
»Vorhin, als wir kamen, stand da noch ein Herr vorn; der war kein Seemann. Da kommt er gerade.«
Ein großer, schlanker Mann in Wettermantel und Sportmütze kam am Deck entlanggegangen. Er sah gar nicht hin zu den zwei Mädchen, sondern schien nur Interesse für die Ufer zu haben. Die alten Straßen von Sankt Pauli und Altona zogen wie verschwommene Bilder vorüber. Ringsum im Strom war ein Kommen und Gehen von Fahrzeugen, und die »Nikoline« bahnte sich langsam den Weg zur Strommitte. Da begannen die Räder schneller zu schaufeln, das Wasser rauschte und blieb als lange schäumende Bahn hinter dem Dampfer zurück.
»In zwei Stunden sind wir in Kuxhaven,« sagte der alte Moritz, als er einmal an den Schwestern vorüberkam. »Und draußen auf See geht der Wind, da haben wir klare Fahrt. Spätestens um zwei sind wir in Lilebüll. Wollen die Damen auch 'ne kleine Stärkung?«
»Danke, wir haben noch Butterbrot und Keks bei uns.«
»Und solch kleiner Schluck gegen die Seekrankheit?«
Sie lachten beide. »Wir und seekrank! Und dann bei solch stillem Wetter! Da müßten wir keine Möwkes sein.«
Gerade als Hansine das sagte, ging der große Mann im Wettermantel wieder vorüber, und als er die Worte hörte, warf er einen scharfen Blick auf die Sprecherin. Hansine sah es und wurde steif. Sie liebte durchaus keine unbegehrten Blicke. Davon konnte man in Hamburg mehr haben, als einem lieb war, besonders wenn man so schlank gewachsen war, so leicht und frei auf den schmalen Füßen ging und mit jeder Bewegung zu sagen schien: »Und wenn ich keine große Schönheit bin – ich hab' Rasse.« Denn die hatte sie, und die ist nach der Meinung vieler Menschen mehr als ein blühendes Gesicht und regelmäßige Züge.
Hansine war immer blaß, von einer bräunlichen, gesunden Blässe. Ihre Nase war durchaus nicht griechisch, und die Augen waren nicht groß und strahlend. Aber wechselndes Leben war im Blick, und dann hatte das Auge etwas Eigenartiges; das nannten sie in Brarup die Augen der Möwkes. Sie waren hell, doch umrandet von langen, dunklen Wimpern, und trotz der blonden Haare, welche die drei Schwestern hatten, zogen sich die Brauen wie ein pechschwarzer Strich in schmalem Bogen über die Augen. Diese hellen, dunkelumschatteten Augen sollten sich seit Jahrhunderten in der Familie fortgeerbt haben, und es war den Schwestern schon als Kinder geschehen, daß fremde Menschen sie angesprochen und gesagt hatten: »Seid ihr nicht vom Duvenhof? Man sieht es an euren Augen.«
Damals hatte Engel zornig gesagt: »Als wenn man immer einen Steckbrief mit sich herumträgt!« Aber Hansine hatte mit den Achseln gezuckt: »So haben wir doch etwas, was uns aus der Menge heraushebt.«
Und wie der große Mann sie so scharf ansah, zeigte es sich, daß er die gleichen Augen hatte; nur waren sie nicht bernsteinfarben wie Hansinens, sondern von dem ganz ausgeprägten Blau, wie es die Bilder des Alten Fritz zeigen. Aber um sie waren die dunkeln Wimpern und Brauen.
Ovedine hatte es auch bemerkt. »Der sieht dir ähnlich, Hans.« »Sieh ihn doch nicht an! Du bist noch immer ein Gör, Dine.« Dine war es gewohnt, von den zwei älteren Schwestern gegängelt zu werden; sie machte sich nichts daraus. »Ich wunder' mich nur, daß er auch so etwas an sich hat wie die Möwkes.«
»Ich seh' das nicht.«
»Das kommt wohl, weil du selber so aussiehst. Aber ich schlag' mehr in Vaters Familie, und da merk' ich es.«
»Du siehst dem Herrn so innig nach, als ob er dich brennend interessierte.«
»Brennend nicht gerade, aber er interessiert mich. Er hat so das gewisse Etwas, was ich an den Menschen gern sehe.«
»Sollt' man es denn glauben, daß du neunzehn Jahre bist, liebe Dine? Wenn er sich umwendet …«
»Dann seh' ich schon rechtzeitig weg. Sieh mal, der Nebel wird nächstens so dick, daß man das Ende des Decks nicht mehr erkennt! Die Ufer sind vollständig verschwunden, als wenn wir schon auf hoher See wären.«
Da riß unter einem plötzlichen Windstoß der Nebel wie ein Vorhang auseinander, und eingerahmt zwischen grauen Wänden lagen die weißen Dünenhöhen von Blankenese mit ihren Hunderten von zierlichen Fischerhäusern, mit ihren weiten Parks und den stolzen Villen droben auf der Höhe. Zwei Minuten nur, dann wogte es von allen Seiten wieder heran, spann silberne Schleier vor das Bild, zog sie dichter und immer dichter, färbte sie alsbald grau, bräunlich, und wieder war nichts umher als das glitschige Schiffsdeck und drunten die gurgelnde, gelbe Flut der Elbe.
Das Schiff fuhr mit halber Fahrt, denn ringsum im Nebel läuteten Schiffsglocken, gellten Dampfpfeifen, heulten Sirenen. Einmal tauchte es auf wie ein riesenhoher, schwarzer Berg, und hart an der kleinen, dicken »Nikoline« vorüber glitt ein ungeheurer Hapagdampfer stromauf der Stadt zu.
»Wie sicher sie doch steuern,« sagte Hansine, »daß sie im Nebel so dicht aneinander vorbeifahren können!«
»Der hätte uns um ein Haar in den Grund gerannt,« sagte der große Herr neben ihr. »Im letzten Augenblick schwenkte er nach links hinüber.«
Gleich darauf schrie Moritz ein Kommando in den Raum. Die »Nikoline« schnaubte leiser, die Räder drehten sich langsamer; nun lag sie wie ein toter Seevogel auf der Flut.
»Seevogel!« sagte Hansine, als Dina diesen Vergleich brauchte. »Sag' lieber, wie ein dickes Walroß!« Und aufseufzend setzte sie hinzu: »Wir hätten doch nicht in die Teestube gehen sollen. Wer weiß, wann wir in Lilebüll ankommen!«
Der große Herr, dessen Bemerkung von den jungen Mädchen mit Schweigen beantwortet wurde, nahm an, daß man seine Unterhaltung nicht wünsche, zog sich ein Stückchen zurück und setzte sich in einen geschützten Winkel, wo er sein mitgebrachtes Frühstück zu verzehren begann.
»Wir könnten auch ein bißchen futtern,« meinte Hansine und kramte die kleine Reisetasche aus. »Weißt du, es ist schändlich kalt. Nachher müssen wir doch hinunter zu den Viehhändlern. Mir graut ordentlich davor, wenn ich daran denke.«
Kapitän Moritz kam heran. Nun, wo die »Nikoline« still vor Anker lag, gab es auch für ihn nichts zu tun. »Wenn die Damen nicht unten sein mögen – Sauerbier laßt sagen, ich solle den Damen hier die kleine Kajüte an Deck öffnen.«
Es war das ein winziger Raum; vier Menschen konnten zur Not drin sitzen. Sie war Sauerbiers Privatheiligtum. Zwei fest an die Wand geschlossene Bänke, ein kleiner Tisch, ein Wandschränkchen, ein paar Seekarten an der Wand, mehr gab es da nicht. Aber es ging ein Dampfrohr der Maschine durch den Winkel und machte ihn behaglich warm.
»Du,« sagte Dina, »sollten wir nicht dem Herrn sagen, daß er sich auch in die Wärme setzt? Er leckt schon vom Nebel. Guck' nur einmal seinen Mantel an!«
»Laß du den nur für sich selber sorgen! Solch ausgewachsenes Exemplar der Spezies Mann wird wohl wissen, wie es durch die Welt kommt. Außerdem kann er ja zu den Viehhändlern hinuntersteigen, wenn es ihm oben zu naß wird.«
»Vielleicht mag er den Tabaksqualm auch nicht.«
»Dina, du stirbst noch mal an zu gutem Herzen, wie andre an zu gutem Essen. Wenn du nur nicht immer meintest, jemand betreuen zu müssen! Wärest du beispielsweise wie Engel Schwester geworden, ich bin überzeugt, die Kranken hätten dich schon im ersten halben Jahr mit ihren Ansprüchen zu Tode gequält.«
Dina lachte ihr leises, weiches Lachen, streckte sich aus die eine Bank, zog, weil diese Liegegelegenheit sehr kurz war, die Knie an sich, den Rock tief hinunter über die Füße, und als Hansine ihr noch ein altes, dickes Kissen des Kapitäns – es roch allerdings nach Tabak – unter den Kopf geschoben hatte, behauptete sie, so weich gebettet zu sein wie in Abrahams Schoß. Nun wollte sie ein bißchen schlafen; denn sie hatte die glückliche Gabe, überall und unter allen Umständen schlafen zu können.
Hansine saß aufrecht auf der gegenüberliegenden Bank und sah hinaus in den Dunst. Nach einer kleinen Viertelstunde wurde es wieder heller, und langsam, schnaubend und immer von Zeit zu Zeit gellende Pfiffe ausstoßend, setzte sich die »Nikoline« wieder in Bewegung. Hansine träumte. Sie war eine Natur, die selten träumte; aber was bleibt übrig, wenn man so langsam über den Strom gleitet und in stundenweiter Ferne die Heimat winkt?
Der graue Herr öffnete ein wenig die Schiebtür der Kabine. »Verzeihen Sie, wir sind gleich in Kuxhaven. Wenn es Sie vielleicht interessiert …«
Hansine hatte Kuxhaven schon mehr als einmal gesehen, aber das ging den Fremden ja nichts an. Sie stand auf und trat aus der Tür, schloß die sorgsam, daß Dina nicht vom eindringenden Nebel belästigt würde, und trat an die Reling.
Es gab nicht viel zu sehen. Sie legten an bei der Alten Liebe. Zollbeamte, die auf der Brücke standen, riefen etwas hinüber; sie verstand nur: »Draußen noch viel diesiger.« Post kam an Bord, dann wurde das Tau wieder losgeworfen und sie waren in See. Längst hatte sich der Strom zur meilenbreiten Mündung gedehnt, und doch schien es dem Mädchen, als ob es jetzt erst Salzhauch schmecke, und seinen Ohren klang das Rauschen am Bug vertrauter und heimatlicher als bisher. Ihre Augen leuchteten auf. »See,« sagte sie glücklich, »meine See!«
Der Blonde sah sie von der Seite an. Unter der schlichten Reisemütze, die sie trug wie ein Junge, drängte sich dichtes, krauses Haar hervor. Es bewies die angeborene Natur seiner Krausheit dadurch, daß es im Nebel immer dichter zusammenwirrte, statt schlaff und naß niederzuhängen. Wie unzählige grauweiße Perlen saß die Feuchtigkeit der Luft in dem dunkelblonden Gespinst. Hinten war das Haar ganz unter der tief herabgezogenen Mütze verborgen. Über dem dunkelblauen Kostüm trug das junge Mädchen einen grauen Gummiregenmantel, an dem die Tropfen abglitten, ohne eindringen zu können; auffallend hohe Stiefel schlossen sich um den Fuß und bis zu der halben Höhe des Unterschenkels. Alles in allem eine praktische und bei aller Einfachheit tadellose Tracht.
»Drei Stunden,« stellte Hansine befriedigt fest, »nur noch drei Stunden, dann sind wir in Lilebüll.«
»Wenn!«
»Wie wenn? Haben Sie etwa Zweifel daran, daß dem so ist?«
»Warten wir mal ab! Der Nebel sollte sich gehoben haben hier auf See. Aber er denkt gar nicht daran. – Trauen Sie dem alten Moritz viel zu?«
Das tat sie nicht, doch wollte sie es nicht aussprechen. »Er sagt, er kenne das Watt wie seine Tasche.«
»Es gibt Leute, die auch in ihren eigenen Taschen nicht Bescheid wissen.«
Hansine lachte hellauf. Und weil Lachen die Leute viel schneller zusammenführt als stundenlange Unterhaltung, fragte sie nun: »Kennen Sie Moritz genauer?«
»Nein, ich fahre die Strecke zum erstenmal. Aber ich fing ein paar Worte auf, die sich zwei Seebären zuriefen, als wir abfuhren. Die sprachen nicht gerade anerkennend über seine navigatorischen Kenntnisse.«
»Was sagten sie?«
»Sie riefen: ›Wenn de oll Dam‹ – damit meinten sie augenscheinlich die, ›Nikoline‹ – ›hüt middag nich up 'n Steinsand sitt, denn sitt se up 'n Plattensand.‹ Ich nehme an, daß Sie besser wissen, wo diese Orte sich befinden.«
»Ach ja, ich kenne sie! Nette Aussichten! Und sitzen wir erst auf dem Sand, dann sitzen wir da gut, denn im vorigen Jahr kam ein Dampfer, der nach Husum wollte, dort fest, und sie haben drei Tage mit zwei Schleppern an ihm herumgezerrt, bis sie ihn wieder flott hatten. Na, das kann ja nett werden!« Ihr Gesicht sah nicht aus, als ob diese Aussicht sie besonders beschwere. Hansine ließ sich um drohende Ereignisse keine grauen Haare wachsen.
»Meine Schwester gähnt,« sagte sie, sich umwendend und in das Kajütenfenster spähend. »Sie wird sich wundern, wo ich geblieben bin.« Dann, mit einer höflichen Kopfbewegung: »Wollen Sie nicht auch lieber dort sitzen? Es ist warm drinnen.«
»Wenn Sie mir erlauben, mit hineinzukommen. Ich glaubte, es sei nur Ihnen gestattet …«
»Ich will es Sauerbier gegenüber verantworten. – Na, Dina, bist du wieder munter? Unten in der Küche scheinen sie Bohnen und Speck zu kochen; es riecht schon über das ganze Deck. Hoffentlich hat Moritz ein Einsehen und läßt uns auch etwas zukommen, wenn er schon statt vier Stunden mindestens sechs mit uns herumfährt.«
Moritz hatte ein Einsehen. Ein Matrose kam, legte ein Tischtuch auf – es war das einzige an Bord –, brachte Teller und Löffel – Hansine putzte sie mißtrauisch unter dem Tisch mit einem Zipfel des Tischtuchs –, und dann erschien eine Riesenschüssel Bohnensuppe mit Würfeln fetten Schweinefleisches.
Die Wasserluft hatte allen miteinander Appetit gemacht; sie aßen tüchtig, und der neue Bekannte war ein äußerst vergnügter Gesellschafter. Er hielt es für nötig, seinen Namen zu nennen; als das Essen begann, sagte er, sich verneigend: »Darf ich mich den Damen …«
»… vorstellen?« fiel ihm Hansine in die Rede. »Ach nein, bitte nicht! Man wird gleich ungeschickt und muß sich so gesellschaftsmäßig benehmen, wenn man erst weiß, woher man kam der Fahrt, und wie der Nam' und Art. Wir sind Wasservögel, und ich nehme an, daß Sie eine Landratte sind. Und da unsre Bekanntschaft doch wohl ein Ende hat, wenn die Anlegebrücke von Lilebüll in Sicht kommt, wollen wir es bei dieser Gattungsbestimmung genug sein lassen.«
Dina sah aus, als sage ihr dies kurze Verfahren der Schwester nicht zu, aber wann hatte Dina je dreinreden dürfen, wenn Engel und Hansine etwas anordneten?
Der Blonde lachte und begann ein Gespräch über Wasservögel, wobei es sich allerdings zeigte, daß die beiden Schwestern ihm in ihren Kenntnissen auf diesem Gebiet weit überlegen waren.
Sie hatten eben die kräftige Bohnensuppe mit Wohlbehagen verzehrt und fanden sich so behaglich durchwärmt, daß sie beschlossen, der Kälte an Deck zu trotzen und einen kleinen Dauerlauf draußen zu machen, da kam von drunten aus dem Schiff ein gewaltiger Lärm. Jemand schrie, als wenn er am Spieß stecke, und eine Glocke ging. Sie sprangen alle drei in die Höhe, liefen hinaus und zur Treppe, die in den Raum hinunterführte.
»Na, na,« sagte der Matrose, der ihnen das Essen gebracht, »regen Sie sich man nich auf! Das is bloß uns' Kaptän, der schandiert da unten in allen sieben Sprachen. Der spürt, daß Moritzen was falsch gemacht hat; nu will er von unten kommandieren. Der hat das so im Gefühl; ich glaub', bis in die große Zeh' spürt er das, wenn die ›Nikoline‹ nicht richtige Fahrt macht.«
Kapitän Moritz kam mit dunkelrotem Kopf von unten herauf. »Ist ja verrückt, der Alte!« schrie er. »Was, ich soll hier nicht Bescheid wissen? Ich kenn' die ganze See bis hinter Kap Finisterre und Jamaika, und denn nicht in dem ollen Wattenmeer zurechtkommen?« Er spuckte wütend über Bord. »Da hör' ich gar nicht nach hin.« Dann ging er an den Mast und kratzte, um den Wind zu locken, denn immer noch steckte die »Nikoline« im Nebel wie in einem Wollsack.
»Solltest man lieber auf ihn hören,« riet der Mann am Steuerrad. »Sauerbier is en ganzen Schlauen. Ich glaub' allemal, wir sind drei Seemeilen zu nah am Land.«
»Du hast überall nicht mitzureden. Pass' du man auf dein Ruder und laß alte Leute zufrieden! – Hoha!«
Es gab einen Stoß unter dem Kiel, als streife die »Nikoline« den Grund. Schon war sie wieder frei, aber gleich darauf stieß es zum zweitenmal und kräftiger.
»Na,« fragte der Steuermann, »was sagst nu?« Er fuhr die Strecke seit sieben Jahren, und Moritz nötigte ihm durchaus keine Achtung ab. »Nu sitzen wir auf. Ist bloß die Frage, ob es der Steinsand ist oder der Plattensand.«
Es gab Lärm auf Deck. Die Viehhändler, die bisher unentwegt in der Kajüte Karten gespielt hatten, kamen herauf und spektakelten gewaltig, als sie erfuhren, was los war. Moritz kommandierte, ließ die Schraube rückwärts arbeiten, das Ruder bald nach Backbord, bald nach Steuerbord herumreißen und erreichte nur, daß sich die »Nikoline« immer tiefer in den dicken Schlick des Bodens preßte. Eine angenehme Lage.
»Wenn sie uns vom Lande aus bemerken, werden sie uns holen,« sagte Ovedine heiter.
»Ja, mein Schäfchen, wenn sie uns bemerken! Kannst du Land sehen? Also, wie sollen sie uns sehen?«
Es gab Signalschüsse und Raketen an Bord; als nach einer kleinen Stunde keine Aussicht war, den Dampfer wieder flottzubekommen, ließ Moritz, der sehr kleinlaut geworden war, sie lösen. Aber der ziehende Ebbstrom hätte jedes Boot am Kommen verhindert, wenn die Fischer auch fahren wollten. So mußte man warten bis zum Nachmittag, wo um fünf die Flut zurückkehrte.
»Die macht uns schon wieder frei,« sagte der Schiffer; doch die Flut stieß wohl an dem plumpen Kasten und schob ihn ein bißchen weiter, aber frei wurde er nicht. Endlich, um halb sechs Uhr, hörten Teten und Harm in ihrer Hütte die fernen Signalschüsse und sahen dann eine der Raketen aufblitzen.
Fast sieben Uhr war es, als der Schlepper S 7, von Lilebüll kommend, sich dem Steinsand näherte. Er brüllte und läutete gewaltig, man hörte ihn schon von fern. Aber er war doch nicht der erste, welcher der Unfallstelle nahte. Die beiden Fischer waren fünf Minuten vor ihm mit ihrem Boot bei der »Nikoline« eingetroffen und hatten sich, auch ohne Brüllen und Läuten, bemerklich gemacht. Als der Schlepper, der ein Lilebüller Fischerboot bei sich hatte, herankam, verhandelten die zwei Braruper schon darüber, die Fahrgäste an die Küste zu bringen.
Günter Möwke horchte hoch auf, als er Stimmen durch den Nebel hörte, ehe er noch die Menschen unterscheiden konnte. Die frische, helle Stimme kannte er doch. »Also, Harm Sörensen, Sie nehmen uns mit. Unser Vater bezahlt es. – Ja, meine kleine Schwester ist auch hier und zwei kleine Koffer. – Wie? – Nein, die andern Herrschaften wollen alle nach Lilebüll; die warten wohl auf den Schlepper.«
»Hans!« rief der Vater.
»Herrje, Vater! Wo bist du? Drüben auf dem Schlepper? Ja, ich seh' dich schon. Komm 'runter von Bord! Sörensen und Wagner sind hier mit einem Boot. Dina holt unsre Koffer von unten.«
Dina und der nette Herr kamen eben mit den Koffern. Der Blonde hatte auch mit den Fischern fahren wollen; als er aber hörte, es sei mit dem Schlepper ein Lilebüller Boot eingetroffen, zog er dieses vor, da er, wie er sagte, in der Lilebüller Kirche zu tun habe und am andern Morgen weiter müsse. Es gab einen eiligen Aufbruch, ein Händeschütteln: »Auf Wiedersehen beim nächsten Schiffbruch!« Dann kletterten die beiden Mädchen an der Schiffstreppe nieder in das Boot, und zwei Minuten später stieg auch der Vater vom Schlepper herab zu ihnen. Lachen und Winken nach allen Seiten. Schon tauchten die Ruder der Fischer in die tote See, und der Nebel trennte sie.
Als Dina und Hansine abends in der großen Giebelstube schlafen gingen – »so schön schläft es sich doch nirgends als zu Hause!« –, da fragte Dina: »Hans, sag' mal, warum warst du eigentlich so komisch und wolltest nicht, daß sich der nette Herr vorstellte?«
»Kannst du dir das nicht selber sagen? Gerade weil er so nett war. Wenn er nun Ferdinand Meier geheißen hätte und Reisender in Strümpfen gewesen wäre – ich bin nicht so sehr für Enttäuschungen, und das wäre eine gewesen. Nun bleibt er immer ›der nette Herr‹, das ist viel hübscher.«
»Er reiste nicht in Strümpfen,« sagte die Kleine bestimmt. »Er war etwas ganz andres.«
»Dina, in der heutigen Zeit greifen die Menschen zu den wunderlichsten Berufen. Na, das ist ja auch ganz gleichgültig. Wenn du nun wirklich irgend einen Namen – Hans Pommerenke oder Isidor Schulz oder so – mit ihm verbinden könntest, was wäre dabei anders? ›Der nette Herr‹, das bleibt er für mich.«
Dann legten sich beide schlafen.