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Sechstes Kapitel.
Selige Jugend

Ich war acht Jahre alt damals, es war im Jahr 1890, da kamen die Tante und der Onkel zu uns auf Besuch. Meine Mutter war eine Enkelin von Ovedine Tamsen-Möwke, und als sie meinen Vater heiratete und mit ihm in die holsteinische Stadt zog, wo er sein Korngeschäft hatte, da bat sie ihn, auch er möge seinem Namen den alten Familiennamen anfügen, weil es nur noch so wenige seien, die ihn führten. Er tat ihr gern den Gefallen.

Bei unserm Hause lagen die großen Speicher, in denen das ganze Korn unsrer Landschaft im Herbst zusammenströmte, und wie das so ist, hatten wir natürlich unendlich viel Federvieh, das mit den Abfällen, mit allem, was man auf den Böden zusammenkehrte, gefüttert wurde: Hühner und Enten – denn hinter dem Garten zog sich der Fluß hin – und unzählige Tauben. Die waren den ganzen Tag um die Speicher herum, gurrten um alle Wagen und fanden auf den Abladeplätzen immer genug und übergenug für ihre Schnäbel. Als die Eltern mit Onkel und Tante, die sie von der Bahn geholt hatten, an unser Haus kamen, flatterten die Tiere in Scharen auf, und Tante Christel sagte: »Das ist ja, als wenn man auf den Duvenhof kommt! Da schwirrt es einem immer um den Kopf, sobald man den Hof betritt.«

Ich stand auf der Haustreppe und erwartete die Gäste, hatte Blumen in der Hand und knickste tief zum Willkommen. »Sieh,« meinte der Onkel, »das ist ja richtig eine blonde Duve!«

»Nein,« sagte ich, »ich bin keine Taube, ich bin eine Möwe. Die Tauben sind langweilig.« Denn ich hatte von klein auf eine Vorliebe für die Möwen und konnte sie stundenlang beobachten, wenn sie über den Fluß hinstrichen.

Das Kinderwort ist es gewesen, das den Verwandten wie ein Wink erschienen ist. Sollte es doch noch einmal eine Möwe auf dem Duvenhof geben? Und mit der Möwe vielleicht ein richtiges Wiedererwachen des alten Namens?

Es kam noch eins hinzu. Die von Drummer, denen vor mehr als zweihundert Jahren die großen Deichwiesen zugesprochen worden, waren im Aussterben. Es lebten nur noch zwei Mitglieder der Familie, Bruder und Schwester. Der Bruder, Herr Aloisius von Drummer, war ein Sonderling. Zwar war er erst vierzig Jahre alt, doch dachte niemand, daß er noch heiraten würde, denn er hatte eine Abneigung gegen die Frauen, die nach seiner Ansicht nur gut seien zum Scheuern, Nähen, Schwatzen und Sichputzen. Er ist denn auch ledig geblieben. Seine Schwester Melitta von Drummer aber war sechs Jahre älter als er und kurz vor jenem Verwandtenbesuch als Konventualin in das Kloster zu Preetz eingetreten. Das Kloster war kein Kloster mehr, es führte nur noch den Namen und diente seit über dreihundert Jahren älteren adligen Damen zum Aufenthalt. Die, die dort Anrecht auf eine Klosterstelle haben wollten, mußten von den Eltern schon bei der Geburt eingekauft werden. Sooft eine der Insassinnen starb, trat eine der eingekauften Damen, die oft schon recht zu Jahren gekommen waren, an ihre Stelle. Eine solche Stelle hatte das Fräulein Melitta von Drummer.

Nun sahen Onkel und Tante also den Tag nahe, der die Wiesen wieder an den Hof zurückbringen würde, und wenn dann wieder einmal ein Knabe auf ihm aufwachsen sollte …

Als sie zu uns kamen, hatten sie wohl an meinen Bruder Ernst gedacht. Ich hatte zwei Brüder: Kurt, der einmal das Geschäft haben sollte, und Ernst, über dessen Zukunft noch nichts bestimmt war. Aber Ernst hatte gar keinen Sinn für das Landleben. Er träumte schon damals, zehn Jahre alt, nur davon, daß er Afrika erforschen wolle oder den Südpol. Er war sich noch nicht ganz klar, welches Ziel mehr lockte. Im Winter schwärmte er für Afrika, wo »man nicht so zu frieren brauchte«, im Sommer für den Südpol, »wo es nicht so infam heiß war«. Und wenn wir spielten, machten wir Reisen durch die halbe Welt.

Da sahen die Verwandten bald ein, mit Ernst – das war nicht sehr aussichtsvoll. »Du könntest uns ja mal auf dem Duvenhof besuchen,« sagte die Tante zu ihm.

Er sah sie nachdenklich an. »Kann man da mit einem Schiff ausreißen?«

»Ausreißen? Um des Himmels willen, Junge! Wohin willst du denn ausreißen?«

»Och, so zu den Walfischen und den Löwen!«

»Die sind doch nicht gerade zusammen zu finden!«

»Wenn ich man erst eins von ihnen hab'!«

»Nein,« sagte die Tante, »Schiffe, mit denen du zu Löwen und Walfischen fahren kannst, die haben wir da nicht auf Lager. Aber du kannst mit den Knechten ins Heu fahren und kannst die Ochsen hüten und …«

»Nee,« sagte meine brüderliche Liebe sehr aufrichtig, »darum brauch' ich nicht zu reisen. Fahren kann ich hier auch mit den Bauern, wenn sie Korn bringen, und Ochsen sind so langweilig, sooo langweilig.«

Ja, das sah nicht danach aus, als wenn er sich sehr zum Landmann eignen würde.

Darauf fragte der Onkel Peter mich, was ich zu einem Besuch auf seinem Hof meine, und ich war gleich bereit. Ich hatte schon so allerlei von dem alten Familienhof gehört; es schwirrte das zwar in meinem Kopf noch durcheinander wie Kraut und Rüben, aber verlockend war es doch. Vor allem war da die See. Man konnte sie in einer halben Viertelstunde erreichen, wie die Mutter wußte, und ich hatte eine Liebe für die See, die mir im innersten Blut gesessen haben muß vom ersten Lebenstage an; denn als wir Kinder zum erstenmal mit den Eltern an die See gefahren waren – von uns aus war das eine Fahrt von zwei Stunden –, da war ich dreijähriges Wurm den tanzenden Wellen mit Jubelgeschrei entgegengerannt und gleich hinein in das Wasser. Die Nässe und Kälte muß mich auch nicht im geringsten erschreckt haben, denn als der nachstürzende Vater mich eilig herausholte, soll ich gewaltigen Lärm angestellt haben, nicht wegen der Feuchtigkeit, die mich durchnäßte, sondern weil ich doch in das »schöne, vergnügte Wasser« wollte. Erinnerung daran habe ich nicht; nur wie ein verträumtes Bild sehe ich Licht, Wasser, einen hellen Strand. Das mag wohl eine Erinnerung an jenen ersten Anblick der See sein, denn ich weiß es anders nicht unterzubringen.

Es sind dann Jahre hingegangen, bis ich wieder an die See kam. Ich war sieben Jahre geworden an dem Tag. Es war Hochsommer, und die Eltern hatten mich vorher gefragt: »Was wünschst du dir?« Sie werden wohl die Antwort erwartet haben: »Eine Puppe,« aber die Antwort lautete ganz anders: »Ich möchte an die See fahren.«

Wir sind dann gefahren. Ich erinnere mich noch ganz gut daran. Es war aber nicht Sonne und flirrender Sand und tanzendes blaues Wasser; sondern mitten im hellen Tag, eben ehe wir in dem kleinen Badeort da an der Küste ankamen, zog ein Gewitter auf mit dicken Wolkenmassen, Regengüssen und Wirbelwinden. Es goß auch den ganzen Tag weiter. Trotzdem sagte ich abends zu meinem Bruder Kurt, der vier Jahre älter war als ich: »Solch einen schönen Geburtstag hab' ich noch nie erlebt.« Es muß also trotz dem Unwetter für mich ein Genuß gewesen sein, an die See zu kommen.

Seitdem waren wir noch zweimal dagewesen, und nun – als die Verwandten bei uns waren – stand wieder mein Geburtstag vor der Tür. Und da geschah das ganz Unerwartete, Wunderbare: der Onkel fragte mich: »Willst du deinen Geburtstag auf dem Duvenhof feiern?«

Als wenn das nichts Besonderes sei, als wenn man so ganz einfach verreisen könne, wenn man doch erst neun Jahre wird! Reisen waren in unserm Städtchen nicht Mode. Eine von meinen Mitschülerinnen war im vergangenen Sommer drei Tage bei einer Tante gewesen, die eine halbe Stunde vor der Stadt einen Kramladen auf dem Lande hatte. Wir hatten sie alle höchlichst bewundert wegen dieses Ereignisses. Und nun sollte ich …

Ich bin dem Onkel an den Hals gesprungen vor Aufregung wie eine junge Pantherkatze. Er rief um Hilfe; ich habe ihn erwürgen wollen, behauptete er nachher. »Du entsetzliches kleines Mädchen! Zeigst du deine Freude so, daß du die Menschen umbringst, die es gut mit dir meinen?«

»Onkel, Onkel Peter!«

»Na ja,« sagte Onkel Peter ganz ergeben, »wenn du mich erwürgt hast, wirst du eben hier bleiben müssen!«

Da ließ ich ihn los und stürmte hinaus zu den Brüdern, mein Glück zu verkünden.

Die nächsten Tage waren für Mamsell Rasmussen eine harte Prüfung. Wer die Rasmussen war? Unser Faktotum. – Mutter hatte einmal einen schweren Fall durch die Speicherluke getan, und seitdem war ihr ein Schmerz in der Hüfte geblieben, der sie hinderte, selber viel im Hause anzufassen. Und es gab Arbeit bei uns. Das Geschäft hatte allein vier Kontorräume im Erdgeschoß, die täglich gesäubert werden sollten. Dann waren zwei Lehrlinge Mittagsgäste an unserm Tisch, denn sie stammten von befreundeten Familien vom Lande, und wenn sie auch eine Unterkunft in anderm Hause gefunden hatten, so fühlte Vater, der seinen Leuten gegenüber sehr vornehm dachte, sich doch verpflichtet, für ihre gute tägliche Kost zu sorgen. Dann kam fortwährend Besuch, denn die Landleute, die ihr Korn an unser Haus lieferten, blieben häufig zu den Mahlzeiten bei uns, und so saßen wir oft zu zwölf Personen am Tisch. Da war Mamsell Rasmussen zu uns gekommen. Sie stammte auch aus Tondern wie Mutter, hatte dort in der Nähe auf einem Gut Mamsell gelernt, wie sie es nannte, und betrachtete sich bei uns als zum Hause gehörig. Sie war zu jener Zeit, als ich zum erstenmal auf den Duvenhof sollte, in meinen Augen schrecklich alt, aber wenn ich es jetzt nachrechne, war sie nicht älter als vierzig Jahre. Na ja, vierzig Jahre, wo ein Jahr schon eine solche Ewigkeit dauerte!

Sie führte ein strammes Regiment, die Rasmussen. Wir drei Banditen – so titulierte sie uns – mußten tanzen, wie sie pfiff. Aber wir peinigten sie trotzdem, denn sie war diejenige, die unsre geheimsten Wünsche zu erfüllen hatte. In jenen Tagen ergoß sich ein Sturzbach von Fragen und Wünschen auf die Arme: »Mamsell, ist auch mein rotes Kleid bis Donnerstag gewaschen? – Mamsell, krieg' ich auch ganz gewiß meine Stiefel noch gesohlt? Die Zeugstiefel? – Mamsell, ist da auch ein Schloß am Korb, wo meine Sachen reinkommen? – Mamsell, ich brauch' da auf dem Duvenhof doch keine bunten Schürzen zu tragen?«

Das weiß ich noch, diese Frage schlug Mamsells Geduldfaß den Boden aus. »Nu wird es Tag! Keine bunten Schürzen? Alle Tag weiße, was? Und noch mit Stickerei dran, was? Und wer soll die dir da waschen und plätten, du Tober, du? Deine arme alte Tante? Die wird schon sehen, was für eine Plage sie sich mit dir aufgeladen hat!«

Als aber der große Tag gekommen war, wo ich in die Eisenbahn stieg und mit den Verwandten fortfuhr, da war alles in meinem Reisekorb auf das beste gepackt, und wenn die Mutter ebenso wie die Rasmussen leider ebenfalls auf bunten Schürzen bestanden hatte, es gab doch auch vier weiße, und noch dazu nagelneue. Was das für mich bedeutete, kann nur der verstehen, der als Kind ebenso einfach aufgewachsen ist wie wir.

Ich weiß nichts mehr von der Fahrt und von der Ankunft auf dem Duvenhof, denn das alles wurde zugedeckt von dem ersten großen Eindruck, der mich erfüllte, als Tante Christel mich gegen Abend an die Hand nahm und sagte: »Für heute hab' ich leider keine Zeit mehr, mit dir an deine geliebte See zu gehen, aber sehen sollst du sie doch noch.« Dann führte sie mich die Treppe hinauf in die Oberstube und an das Fenster. Das stand weit offen, und da sah ich nach Westen zu den ganzen Himmel in Glut, und unter all den rosenroten und feuerfarbenen Tüchern, die der Wind in weichen Streifen am Himmel hingefegt hatte, lag es grün und schäumend und kam in langen, breiten Schwellungen gegen das Ufer. Ich konnte nichts sagen; es packte mich ganz tief im innersten Herzen.

Tante Christel nahm aus einer Kommode ein kleines Fernglas, stellte es, gab es mir, zeigte mir, wie ich es drehen und halten müßte, damit es für mein Auge passe, und dann durfte ich damit hinaussehen. Da schienen die herrlichen Wogen geradeswegs in die Stube hineinrennen zu wollen, ihr Schaum sprühte so nahe und wunderbar; ich dachte, er müßte mir um die Stirn stiegen.

»Das kleine Fernrohr schenke ich dir,« sagte die Tante. »Es ist bereits sehr alt. Mein lieber Bruder – er ist schon lange nicht mehr bei uns – hat es mir zum Geburtstag geschenkt, als ich vierzehn Jahre alt wurde. Er war damals nicht älter, als du jetzt bist, aber er hatte die gleiche Liebe für die See; hier oben am Fenster haben wir oft zusammen gestanden und hindurchgesehen. Laß es nicht zerbrechen und nicht verloren gehen!«

Ich habe das kleine Rohr noch. Ihr kennt es, meine lieben Mädchen. Oft habt ihr euch gewundert, daß ich es euch nie allein überließ, aber es ist mir immer wie ein kleines Heiligtum gewesen, als hätte mich die Tante mit dieser ersten Gabe schon gewissermaßen dem Duvenhof verlobt.

»Morgen bekommst du auch junge Gesellschaft,« sagte die Tante. »Sonst würdest du es hier wohl nicht lange aushalten. Die Tochter von Professor Lernemann aus Kiel kommt. Die ist ein bißchen blutarm, und ihre Großmutter – sie stammt auch aus Tondern – hat es eingefädelt, daß das Mädchen für vier Wochen auf den Duvenhof kommt. Es ist auch noch ein Kind, ich glaube, so dreizehn Jahre.«

Ich freute mich gar nicht über diese Ankündigung. Ich wäre viel lieber allein auf dem Duvenhof geblieben. Langeweile kannte ich nicht, und hier waren ja so viele Leute auf dem Hof, Verwalter und Mamsell und Knechte und Mädchen, und so viel Vieh und junge Pferde und dann ganz nahe die See. Als wir, von der Station kommend, durch das Dorf gefahren waren, hatte ich auch Scharen von Kindern gesehen; die Welt starb hier in Brarup noch lange nicht aus. Ich sah also der Gefährtin aus Kiel mit gemischten Gefühlen entgegen. Und meine Gefühle blieben auch fernerhin gemischt.

»Ein Kind,« hatte Tante Christel gesagt. Ja, dreizehn Jahre rechnen eigentlich noch zum Kindesalter. Aber Iduna Lernemann war nur den Jahren nach noch ein Kind. In der ersten halben Stunde sagte sie zu mir: »Wie du tobst! Du hast ja ganz rote Flecken auf der Stirn! Das leidet meine Tante nicht.«

Eine Mutter hatte sie nicht mehr. »Ich möchte es auch gar nicht. Na, du bist ja auch noch solch Gör!«

Gewiß war ich noch »ein Gör«, ein ganz richtiges; aber wie sie das sagte, schien es mir doch eine große Kränkung. »Ich werde übermorgen zehn Jahre.«

»Zehn Jahre! Dafür bist du schon sehr lang. Aber so mager! Und was du für große Füße hast! Läufst du immer in Sandalen? Da wachsen die Füße gräßlich.«

»Zu Hause trag' ich meistens Stiefel, aber Tante Christel sagt, hier in der Freiheit sollen auch meine Füße Luft und Sonne haben.«

»Ja, dann lauf nur in Sandalen! Ich tät' es nicht. Aber mir legt ja auch mein Name Verpflichtungen auf.«

Ich weiß noch, wie sie diese Worte sagte, und wie ich ganz erstarrt stehen blieb. So erhaben hatte noch nicht einmal ein Erwachsener zu mir gesprochen. Ich fand keine Worte, ich starrte nur auf Iduna Lernemann, der ihr Name Verpflichtungen auferlegte. Und ich bekam gewaltige Hochachtung.

Ihre Blicke prüften mich weiter. Viel zu loben fand sie nicht an mir. »Du hast ja ganz langes Haar!« Das stimmte, ich hatte ein paar stattliche Zöpfe, und die waren mein Stolz. »Aber du wirst sicher nicht blond bleiben. Man sieht es schon. Wäschst du dir das Haar nicht mit Kamillen?«

»Mit Kamillen? Mein Haar? Wozu denn? Kamillen gibt uns Mamsell Rasmussen nur, wenn wir schwitzen sollen.«

»Gänzlich unkultiviert!« sagte Iduna. Dann ging sie in unser Zimmer – wir schliefen zusammen in der Giebelstube – und begann, ihre Sachen in die Kommode und den Kleiderschrank zu räumen. Das verstand sie. Alles, was sie legte und hängte, war peinlich genau geordnet. Ich sah ihr bewundernd zu. Aber die vielen Sachen! Mit vier Kleidern und einem Dutzend Schürzen war ich mir als Krösus erschienen. Was hatte Iduna da in ihrem riesigen Plattenkoffer! Hilf, Himmel! Da waren Dinge, die ich kaum dem Namen nach kannte. Und die Wäsche! Alles mit Spitzen. Und jeder Pack mit rosa Seidenband gebunden. Und sogar Frisiermäntel! Und seidene Strümpfe! Und ein Toilettenkasten mit weißen Kämmen und Bürsten, und auf jedem Stück ein goldenes – wenigstens hielt ich das für Gold – J. L.! Und zuletzt noch ein Kästchen, in dem waren winzige Scheren und Stifte und Feilen und alles mögliche, was ich nur ein einziges Mal in Kaufmann Holters Schaufenster gesehen hatte. Etwas ganz Seltsames und Feines war es, mit rotsteinernen Griffen und mit mattgelber Seide ausgeschlagen.

»Iduna, wozu ist denn das?«

»Wozu? Aber du bist auch zu kindisch! Das weißt du nicht? Das ist mein Manikürkasten. Damit pflege ich meine Fingernägel.« Sie streckte die Hand aus.

An sehr weißen Händen saßen spitze, rosenrote Nägel. Ein wahres Wunderwerk war diese Hand, wenigstens für mich. Bis dahin hatte ich mir über Hände noch nie Gedanken gemacht. Mit einem Male spürte ich den gewaltigen Unterschied zwischen Hand und Hand. Ganz beschämt versteckte ich die eigenen auf dem Rücken. Sie hatten vorhin im Garten Schnecken gesammelt, um die Hühner damit zu füttern, außerdem Erdbeeren gepflückt und das Gras vor der Haustür ausgerupft. Sie waren braun und unsauber und schon jetzt mindestens ebenso groß wie Idunas Hände, obgleich ich so viel jünger war. Mein Blick ging zu einem großen Spiegel, der, schon ein bißchen blind in seinem Glanz, deshalb wohl in das Fremdenzimmer verbannt war. Da sah ich uns zwei nebeneinander. Das Bild steht mir noch ganz deutlich vor Augen. Iduna zierlich, ganz hellblond, mit einem Gesicht, dessen Züge fast zu fein waren, um hübsch zu sein, mit einer farblosen Haut und sehr blassen Lippen. Aber doch sehr schön, fand ich. Sie trug ein hellblaues Kleid mit weißem Spitzenkragen und hellbraune Strümpfe und Stiefelchen genau im gleichen Ton; an dem rechten Arm hatte sie unendlich viele dünne silberne Reifen, die klingelten und klirrten, sooft sie den Arm bewegte; Freundschaftsreifen nannte sie die. Und an dem rechten Ringfinger hatte sie einen Ring mit einem roten Stein. In unsrer ganzen Schule hatten wir keine solche Prinzessin.

Und ich daneben! Braungebrannt, mager, lang aufgeschossen, die Haare um die Stirn herum wie ein Busch – sie ließen sich weder mit Wasser noch mit Pomade zwingen–, in einem graugrünlichen Kleide, von der Rasmussen aufgefärbt als »Rumtreibekleid« auf dem Hof, die Schultern herauskriechend aus dem verwachsenen Ausschnitt … Mir saßen plötzlich die Tränen in der Kehle. Hatte mich die Mutter denn gar nicht lieb, daß sie mich nicht ebenso schön machte wie Iduna? Oder war bei mir Hopfen und Malz verloren? Ich fühlte mich mißhandelt von Welt und Menschen.

Leise schlich ich aus dem Zimmer, über die große Diele drunten hinaus in den Garten, ließ aber die hellen Blumenbeete hinter mir, die stimmten nicht zu meinem trüben Sinn, und verkroch mich im Obstgarten zwischen den alten Pflaumenbäumen.

Da fand mich Onkel Peter, als er vom Felde zum Mittagessen kam. »Hoiho!« rief er, als er mich wie ein Häufchen Unglück im Grase hocken sah. »Warum ist denn dir die Petersilie verhagelt? Hast du schon Heimweh?«

Ich schüttelte den Kopf. »Onkel, sag' mal, was heißt das: Iduna sagt, ihr Name lege ihr Verpflichtungen auf. Was heißt das?«

»Was?« fragte der Onkel, beugte sich tiefer zu mir, hielt die Hand hinter das Ohr und fragte noch einmal: »Was tut ihr Name?«

»Er legt ihr Verpflichtungen auf.«

»Donnerwetter!« sagte der Onkel und streckte sich wieder. »Das ist ja ein ganz gefährlicher Name!«

Da mußte ich lachen.

»Wo ist denn die Dame Iduna? Als ich heute früh wegging, war sie noch nicht gekommen.«

»Sie packt ihren Koffer aus. Ach, Onkel Peter, sie ist wunderschön! Sie hat Seidenstrümpfe und Armbänder und ein himmelblaues Kleid, und ihr Haar wäscht sie mit Kamillen.«

»Das ist ja die reine Weihnachtspuppe!«

Da mußte ich wieder lachen, und dann war meine gute Laune wieder da, und wir gingen zum Essen. Und es gab, wie jeden Mittag, als Nachtisch dicke saure Milch mit geriebenem Schwarzbrot und viel feinem Zucker darüber, ein Gericht, für das ich alles andre stehenlassen konnte. Da aß ich meine drei Schalen leer und war wieder ganz auf der Höhe des Lebens und mit dem Dasein sehr zufrieden, bis Iduna nach Tisch zu mir sagte: »Du ißt ja nicht, du frißt ja!«

Sagen läßt sich das nicht, wie ich mich schämte.

Zum Glück hatte Tante Christel die Worte gehört und trat für mich ein. »Saure Milch gibt gesundes Blut, und dir wäre es auch gut, Iduna, wenn du tüchtig davon essen wolltest. Du pickst ja nur an den Speisen herum!«

»Die Gerichte sind alle so – so kräftig!«

»Du sollst dir hier auch Kräfte holen.«

Aber Iduna war sehr verwöhnt. Sie kannte die Konditoreien in Kiel zu gut und hatte immer, wenn ihr etwas nicht zusagte, die Ausrede: »Das verträgt mein Magen nicht.«

Mir, auf die leicht Eindruck zu machen war, nötigte auch dieser herrische Magen Achtung ab.

Wir mußten uns miteinander abfinden, und es ging die erste Zeit leidlich, solange ich unbedingt in allem gehorchte, was mir befohlen wurde. Allerdings spielte Iduna grundsätzlich nur ein Spiel: Prinzessin. Dann war sie natürlich die hohe Dame und ich die Kammerjungfer. Ich mußte ihr die Schuhe schnüren, ihr Haar kämmen, bürsten und frisieren – es war zum Glück weder lang noch dick – und dann zog sie irgend eins ihrer schönen Kleider an und ließ sich darin von mir bewundern. Auf die Dauer wurde uns beiden das Spiel langweilig. Ich fand auch andre Gesellschaft, denn der Landrat in Brarup hatte drei Jungen und der Apotheker zwei Mädel, und dann war da noch eine ganze Menge Kinder von den Hofbesitzern. Sie kamen alle nur zu gern auf den Duvenhof, wo sie bisher kaum gewesen waren, und wir tobten im Hölzchen und in dem großen Garten. Als ich ein bißchen eingelebt war, ging es mit Hussa und Juchhei über die weiten Wiesen, auf denen das Gras so hoch stand, daß wir bis an die Köpfe darin verschwanden. Sie lehrten mich auch mit der Springstange über die Gräben setzen, und das ist das größte Vergnügen meiner Kindertage geblieben. So im vollen Lauf heranrennen an den Graben, die Stange einstoßen in den Grund – und schon schwebt man wie ein Vogel hoch in der Luft; die Stange wendet sich, sich neigend, zum andern Bord – da steht man jenseits auf der Wiese. Wir übten es erst auf trockenem Lande, aber schon am zweiten Tag flog ich mit den andern um die Wette über den Graben, der unten am Wäldchen zwischen Holz und Weide die Grenze bildet. Meine langen Zöpfe, die mir dabei um den Kopf flogen, wurden im Kranz aufgesteckt; so, nun war nichts mehr hinderlich.

O dies wundervolle Fliegen! Ich spüre es noch in allen Fibern, wenn ich nur daran denke. So leicht ist man als Kind! Die Stangen so hoch und stark! Für Augenblicke löst man sich von der schweren Erde und wird zur Möwe. Ich konnte es nicht lassen; wenn ich so im Schwung über die Wasserläufe setzte, mußte ich hell aufschreien wie die langschwingigen Vögel, die über uns in blitzendem Flug durch die Luft schossen. Hatte ich sie schon immer gern gehabt, hier draußen wurden sie mir noch viel lieber. Ich kannte sie alle, von der kleinen, zierlichen, dem Strandläufer an, bis zu der großen Sturmmöwe, die so stark und hoch auf ihren weitgebreiteten Flügeln dahersegelt.

Und dann hatte ich mit meinen Kameraden den Strand und das Watt. Wir durften freilich nicht weit hinein in Schlick und Sand, wenn die Ebbe kam; Onkel und Tante hatten Angst, es könnte mir etwas zustoßen. Aber wie weit und herrlich war dennoch unser Spielplatz! Was haben wir für Burgen gegraben und gestürmt! Wie schnell haben sie mich schwimmen gelehrt! Wie oft saßen wir bei Fischer Swensen im Boot, wenn der Alte hinausfuhr und die Netze stellte!

Ihr Kinder habt diese Spiele und Künste von klein auf betrieben, euch waren sie nichts so Großes; aber für mich, die ich erst mit zehn Jahren so ganz in die Freiheit von Land und Sand und See geriet, für mich war es ein Paradies.

Und dann der Garten mit dem vielen Obst. Ich durfte Beeren essen, soviel ich mochte. Und dann war da das Turnreck, das Onkel Peter schon vor seiner Reise zu uns hatte aufrichten lassen, weil er doch dachte, sie würden meinen Bruder Ernst mit sich auf den Duvenhof nehmen. Der Onkel brauchte keine Angst zu haben, es umsonst erbaut zu haben. Ich turnte wie ein Junge. Zu Hause im kleinen Stadtgarten hatte ich genug mit den Brüdern geübt, aber da waren sie immer die Herrscher gewesen, und ich hatte zu gehorchen. Hier gehörte mir das Turngerät ganz zu eigen, denn Iduna sah es mit Verachtung an. Einmal, als ich gerade eine schöne Kniewelle schlug, dreimal hintereinander – Apothekers Christian hatte gesagt, das kriegt kein Mädchen fertig, also mußte ich mich doch darauf einüben – da kam Iduna durch den Garten. Sie ging im hellen Voilekleid, mit einem breiten Hut, der ihr Gesicht vor Sonnenbrand schützte, hatte zum Überfluß noch einen Sonnenschirm aufgespannt, und an den Händen – das war überwältigend – trug sie Handschuhe. Handschuhe im Garten! Ich saß auf der Stange und sah sie herankommen. So erschütterten mich die Handschuhe, daß ich von meinem Stangensitz in das Gras fiel. Da blieb ich hocken und verschlang sie mit den Augen.

»Was ist denn dir?« fragte sie verwundert. »Hast du noch keinen Menschen gesehen? Wie starrst du mich an?«

»Handschuhe! Und ein Schirm! Willst du ausgehen?« fragte Möweken erstaunt.

»Zu dumm bist du! Ich trage die Handschuhe, um mir nicht die Finger zu verderben. An deinen braunen Fäusten würden sie allerdings sehr wunderlich aussehen.« Einen Augenblick stand sie vor mir, rümpfte die Nase und meinte: »Daß du dich gar nicht schämst! Wie ein Junge bist du.«

Ich hatte gerade niemand zum Spielen, so steckte ich die Vorwürfe ein, die mich wenig rührten; ich hatte mich schon an sie gewöhnt und sagte: »Wollen wir in die Himbeeren gehen? Ich kann sie dir ja pflücken, daß du dir die Finger nicht schmutzig machst.«

»Danke. Ich kann keine Beeren mehr sehen. Ich hole mir lieber Pfirsiche.«

»O Iduna, die Pfirsiche sollen wir doch nicht pflücken! Onkel hat es noch gestern wieder gesagt. Er hat den Baum erst vor zwei Jahren gepflanzt. Es ist die einzige ganz frühe Sorte.«

»Reg' dich doch nicht auf! Du brauchst sie ja auch nicht zu pflücken. Und wenn ich mir zwei hole, davon wird dein Onkel Peter nicht arm werden.« Also ging sie und holte sich Pfirsiche.

Nicht um die Welt hätte ich sie verklatscht, obgleich ich selber ein paarmal von Onkel gefragt wurde: »Möweken, bist du über dem Pfirsichbaum gewesen? Oder deine Kumpane?« Ich konnte mit gutem Gewissen nein sagen, denn zu meinen Kumpanen rechnete er Iduna nicht.

Vier Wochen bin ich damals auf dem Duvenhof geblieben. Weil es das erstemal war, ist mir alles so deutlich in Erinnerung geblieben. Ich spüre noch, denke ich an jene Tage zurück, den heißen Holz- und Teergeruch der Baracken, wo wir die Sauerkirschen pflückten, und die Seefeuchte, wenn ich morgens im Giebelzimmer das Mittelfenster öffnete. Ich glaube, es hat in den vier Wochen nie geregnet. Mir schweben jene Tage vor wie lauter Sonnenschein und Heugeruch, Sensenklingen, Kinderlachen, Lerchengetriller, ein Stück Kinderparadies, aus dem mich nichts vertreiben kann.

Die Tante hatte mich anfangs mit meinem vollen Namen gerufen: Hansine. Dann nannte sie mich, wie es daheim Sitte war, Sina, und endlich nahm sie den Namen an, den der Onkel mir gleich gegeben: »Möweken«, wegen des schrillen Schreis, den ich beim Springen mit der Stange auszustoßen pflegte. Zuletzt riefen mich sogar die Leute auf dem Hof und im Dorfe so, und ich war stolz darauf. –

Von da ab durfte ich meine Sommerferien stets bei den Verwandten verbringen.


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