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Neunzehntes Kapitel.
Ein kleiner Bruder

Man schrieb den vierten Juli. Glutheiß war der Tag gewesen. Die Sprengwagen und die Wasserschläuche hatten ihr möglichstes getan, trotzdem waren Staub und Hitze unerträglich in den Straßen. Hansine ging gegen Abend zu Engel hinaus; es war im Park des Krankenhauses immer noch erträglicher als auf ihrem Zimmer.

Engel saß vor der Tür des Schwesternhauses und war redlich müde. »Weißt du, Hans, nervöse Männer – na, schön ist was andres. Aber quängelige Weiber – o du mein Schreck! Sie haben mich heute schön in Trab gehalten! Von der Hitze waren sie alle wie verdreht, und das lassen sie dann an den Schwestern aus, bis unsre Ober erklärte, wem die Hitze so zu Kopf steige, der müsse eine kalte Dusche haben. Das half bei einigen.«

»Warum bist du Schwester geworden! Wir haben dich alle gewarnt.«

»Wahrscheinlich hab' ich mir gesagt, diese Arbeit müßte auch getan werden, und ich würde sie gern tun.«

»Also stöhne auch nicht!«

»Ich stöhne nie.«

Eine andre Schwester, die dabei saß, fragte: »Müssen Sie sich denn immer zanken?«

»Wir?« Großes Erstaunen von beiden Schwestern. »Wir zanken uns nie.«

»So? Na, dann ist ja alles gut.« Nun lachten alle drei.

Ein junger Beamter kam heran. »Schwester Engel möchte doch gleich auf das Bureau kommen; es ist von auswärts angeklingelt.«

»Telephon? Von auswärts? – Es wird doch zu Hause nichts geschehen sein?«

Engel sprang auf, Hansine folgte ihr; so schnell es sich mit schwesterlicher Würde vertrug, liefen sie durch den Park.

»Ja,« sagte der Postbeamte im Bureau, »es ist von Brarup angerufen.« Er nahm den Hörer. »Hier Krankenhaus St. Georg. Bitte, Schwester!«

Engel trat heran. »Ja, hier Engel. Ja – ja, Hansine ist gerade hier bei mir. Du bist da, Vater? Was ist – wie – – –? Bitte, ich verstand nicht. Was – – –?«

Ihr Gesicht war so merkwürdig unsicher und erregt, daß Hansine ungeduldig rief: »Um des Himmels willen, was ist denn geschehen? Was machst du für ein Gesicht?«

Engel wandte sich ihr zu. »Ich weiß nicht, es ist doch Vater, der spricht, aber er redet solchen Unsinn.«

Hansine nahm ihr kurzweg den Hörer aus der Hand. »Bist du noch da, Pap? Ja? Hier Hansine. Was ist denn? Engel benimmt sich ja ganz wunderlich.«

Sie lauschte und hörte an ihrem Ohr die Stimme des Vaters in verhaltenem Lachen. »Die arme Engel! Sie scheint schwer von Begriff. Ich sagte nur, euer kleiner Bruder läßt euch herzlich grüßen. Es geht ihm und Mutter ausgezeichnet.«

»Was!« schrie die lebhafte Hansine. »Ein kleiner Bruder? Du machst ja Unsinn, Pap, liebster!«

»Ich werde doch mit solchen Dingen keinen Scherz treiben. – So, hier kommt Dina.«

An das gespannt lauschende Ohr Hansines schlug nun die Stimme der Schwester. »Es ist reizend, Hans, ein zu prächtiger Junge! Acht Pfund, und den ganzen Kopf voll langem blondem Haar. Und an jedem Finger einen kleinen, rosigen Nagel. Und schreien kann er …«

Da griff Engel hin, die nicht länger warten wollte, was da an das Ohr der Schwester klang, und lauschte weiter und hörte noch: »… und er soll nach uns drei Schwestern genannt werden: Hans Ove Angelus. Und wir sollen seine Paten sein.«

Da ließ Engel den Hörer fallen und fiel der Schwester um den Hals. Als Hansine den Hörer wieder aufnahm, zeigte es sich, daß die Telephonistin in Brarup die Verbindung gelöst hatte.

»Engel, ich fahr' morgen hin.«

»Untersteh dich nicht! Ich kann nicht fort für die nächsten Wochen, sie sind hier jetzt alle auf Urlaub. Du fährst nicht eher, als bis ich mit kann.«

»Engel, ein Bruder, ein kleiner Bruder! Kannst du es dir vorstellen? Nach so langen Jahren wieder ein Sohn auf dem Duvenhof. Nun muß er wieder Möwenhof heißen. O Engel, wie sich die Eltern wohl freuen!« Sie liefen aus dem Bureau und verkündeten es allen Schwestern, denen sie begegneten: »Wir haben einen kleinen Bruder bekommen!« Sie ärgerten sich gewaltig, als eine Schwester dagegen fragte: »Und darüber freuen Sie sich?«

»Laß sie!« sagte Engel zornig. »Die weiß nicht, was das für uns Möwkes bedeutet. Der Sohn auf dem Hof, der rechte Erbe. Nun brauchen wir uns keine Vorwürfe mehr zu machen, daß wir nicht Landwirtschaft treiben wollen. Hans, liebster Hans, ist das nicht tausendmal mehr wert als der Preis, um den du dich so quältest?«

»Hunderttausendmal mehr. Ich muß etwas anstellen vor Freude.«

Aber es ist nicht so leicht, in einer großen Krankenanstalt etwas »anzustellen«; sie mußten sich damit begnügen, auf Engels Stube zu gehen und einen glückseligen Brief an die Eltern zu schreiben, nur einen, denn es war nur ein Federhalter vorhanden. Den nahmen sie sich gegenseitig alle paar Reihen aus der Hand, und so entstand ein sehr wunderliches Schriftstück. Aber die Eltern verstanden es doch und lasen aus jeder Zeile den Jubel der fernen Töchter heraus.

»Wir wollen ihn alle so lieben und behüten, und er soll unser bestes Glück sein,« schrieb Engel. »Wann werden wir ihn sehen? Ich führe am liebsten noch heute nacht zum Duvenhof.«

»Der muß jetzt Möwenhof heißen,« setzten Hansines Schriftzüge ein. »Hat Papa das nicht gleich heute auf dem Amt beantragt? Hätte ich es gewußt, alle kleinen Sachen hätte ich genäht!«

»Windeln mit gestickten Möwenschwingen …« – das war wieder Engel. Da hatte es einen Klecks gegeben, denn die Schwester hatte ihr den Halter gewaltsam entwunden.

»Engel ist unter die Spötter gegangen, und ich muß jetzt nach Hause gehen, denn eben war die Oberschwester im Zimmer und sagte, es sei für fremde Leute an der Zeit, sich zu entfernen. Aber ich schreibe morgen noch einmal. In vierzehn Tagen fangen die Ferien an, da komm' ich heim. Hurra!«

Als Hansine heimging, war sie noch so ausgelassen vor Glück, daß sie fast die Straßen entlang tanzte. Auf dem lebhaften Steindamm nahm sie sich noch zusammen, so gut es ging, aber wie sie in die stille Kirchstraße kam, begann sie, nach Duvenhofart vor sich hin zu pfeifen, und ihre Füße gingen im Takt der Melodie. Oben im eigenen Zimmer trillerte sie hellauf vor Glück, und dann stimmte sie mit ihrem hellen Sopran Löns' Heidelied an, das sie immer sang, wenn sie so recht im Herzen froh war:

»Alle Birken blühen in Moor und Heid',
Jeder Brambusch leuchtet wie Gold.
Alle Heidlerchen dudeln vor Seligkeit,
Der Birkhahn kullert und tollt.«

So jubelnd hatte sie es noch nie gesungen. Doch müde Leute haben kein Interesse für den schönsten Gesang. Herr Ignaz Maier, Reisender in Seifen und Parfüm, der nebenan hauste, klopfte nachdrücklich an die Tür und rief, es sei sieben Minuten nach zehn, er müsse morgen um fünf auf die Tour und bitte um Ruhe.

»Banause!« schalt Hansine vor sich hin. »Na, dann hilft es nicht. Nicht mal freuen darf man sich in der Fremde!« Sie steckte die Nase in ihr Federkissen und dachte mit Sehnsucht an den Duvenhof. Da hätte sie droben im großen Giebelzimmer so lange singen und lachen dürfen, wie sie nur konnte und wollte. –

Vierzehn Tage später fuhr sie heim. Engel hatte sie zur Bahn gebracht und stand mit dicken Tränen in den Augen neben ihr, als es zum Abschiednehmen ging.

»Wer wird denn so dicht ans Wasser bauen!« neckte Hansine.

»Ich,« war die kurze Antwort. »Und ich schäme mich auch gar nicht; das bilde dir nur nicht ein! Ich beneide dich glühend, daß du fahren kannst. Ich würde ich weiß nicht was geben, wenn ich mit könnte. Du mußt mir alles von ihm schreiben. Ich kann gar nicht genug bekommen. – Sieh mal, da kommt ja Gerd von Hamm! Will der auch verreisen?«

Hamm kam, eine kleine lederne Reisetasche in der Linken, den Bahnsteig her und streckte die Rechte den Schwestern entgegen.

Engel musterte ihn nachdenklich beim Gruß. Sie hatte ihn zufällig am Tage vorher getroffen, und da war es zur Sprache gekommen, daß Hansine heute heimfuhr. Aber sie ließ sich ihre Gedanken nicht merken. »Wollen Sie ein bißchen nach Flottbek oder Blankenese?«

»Nein, ich will nach Lilebüll. Unsre Museumsleitung hat es sich in den Kopf gesetzt, das alte Altarbild zu erwerben. Man hat mich noch einmal mit einer Verhandlung deswegen beauftragt.«

»Da geben Sie sich nur keine Mühe! Die Marschbauern haben Schädel wie Eichenkloben. Da gleiten schöne Worte geradeso ab wie derbe Schläge.«

»Man muß es jedenfalls versuchen.« Er legte ohne weiteres seine Handtasche in das Abteil zu Hansines altem Leinenkoffer. Sie sah es mißmutig mit an. Der Koffer war schon lange nicht mehr schön, nun, neben der eleganten Tasche, wirkte er geradezu vorsintflutlich.

»Ja,« sagte der lange Vetter, als merke er ihren Mißmut gar nicht, »wir haben verschiedene Ziele. Sie wollen etwas ganz Junges, Neues an das Herz drücken, und man gibt es Ihnen mit tausend Freuden, und ich will eine ganz alte Scharteke erwerben, und man verweigert sie mir.«

»Ich möchte mich nicht immer mit solchen alten Sachen abgeben. Wenn man jung ist, muß man an jungen Dingen Freude haben.«

»Ich weiß nicht, ob ich mir ihren Ausspruch nicht bald sehr zu Herzen nehmen werde. Aber nun müssen wir einsteigen. Auf Wiedersehen, Cousine Engel! Übermorgen komme ich zurück, dann erzähle ich Ihnen von dem kleinen Bruder. Ich suche natürlich den Duvenhof auf.«

»Möwenhof!« rief Hansine.

Da pfiff der Zug und rollte aus der Halle. Engel stand und sah ihm nach und merkte nicht, wie ihr die dicken Tränen aus den Augen rollten. Erst ein mitleidiger Blick aus den Augen einer alten Dame weckte sie auf. Sie wischte hastig die Tränen fort, warf den Kopf in den Nacken und ging heim zu ihren Kranken.

Hansine aber saß dem Vetter gegenüber, und weil sonst kein Mensch im Abteil war, sang sie wieder vor sich hin: »Alle Birken blühen in Flur und Heid' …«

»Jeder Brambusch leuchtet wie Gold,« fiel der Vetter ein.

»Lieben Sie die Lönslieder auch so?«

»Wer liebt sie nicht? Ich kenne die Heide so gut, die weite Heidefläche der Geest, wo sich der Höhenrücken gegen die Marsch hin hebt und sandig wird und nur schlechten Ackerboden gibt. Aber im Sommer blüht es golden von Ginster und später purpurrot und violett von Erika, und die Bläulinge fliegen zu Hunderten um alle Blüten, und von den Föhren strömt ein Harzgeruch aus in der Sonnenglut, betäubend, und abends steigen aus den tiefer gelegenen Mooren die dicken weißen Nebelschleier und wandern zwischen den Wacholderbüschen wie weiße Gespensterfrauen mitten zwischen dunklen Kobolden. Ich bin oft in der Heide gelegen, mit der Büchse in der Hand, und hab' auf Kaninchen und Hasen gelauert. Und im Winter hab' ich hinter dem Wacholder gestanden, wenn der einsame Hirsch über die Lichtung kam, im Frühjahr aber bin ich in hohen Wasserstiefeln mit meinem Treu neben mir auf Entenjagd gegangen. Kennen Sie die Heide auch so gut?«

»Nein, aber ich möchte sie so kennen.«

»Wir haben ein kleines Jagdhaus. Hammerhus heißt es; uralt ist es, in der tiefsten Einsamkeit gelegen. Aus dicken Eichenstämmen sind die Wände, Moos ist dazwischen gestopft, und der Herd ist aus Feldsteinen, mit Lehm bestrichen. Drüber ist der Rauchmantel, der Qualm steigt geradeswegs aus dem Dach hinaus. Die Kessel und Töpfe stehen auf Dreifüßen über der offenen Glut.« Er sah Hansine an. »Ich möchte da einmal mit Ihnen zusammen hausen, Hans.«

»Ja, das wäre fein.« Dann spürte sie in seinem Blick einen fremden, fragenden Ausdruck, und sofort wurde sie steif. »Ja, wenn ich nämlich wirklich der Hans wäre.«

Hamm bog sich vor. »Den Hans wollen wir verabschieden, nicht wahr? Ist es Ihnen nicht viel schöner zu denken, daß die Hansine künftig allein ihr Leben beherrschen sollte? Haben Sie nicht oft gewünscht – verzeihen Sie, vielleicht nicht oft, aber doch bisweilen – die ganze Berufstätigkeit möchte in alle Winde stiegen und der eigentlichste Beruf der Frau …«

Aber so leicht gab sich Hansel Möwke nicht. »Sie reden, wie die Männer reden, denen jede Berufstätigkeit der Frauen nur eine Lächerlichkeit ist.«

»Lächerlichkeit! O nein, das ist sie mir keineswegs! Ich sehe es gut genug ein, daß die Frauen eigene Wege gehen müssen im Leben, jetzt mehr denn je. Aber wem sich ein andres Leben bietet …«

»Der soll gleich zugreifen, nicht wahr? Etwa gar noch gewaltig dankbar sein für solche Gabe? Und alles, was ihm bis dahin lieb war, das soll er plötzlich gering achten? Nein, so bin ich nicht. Ich fühle mich sehr wohl in meinem Beruf. Ich habe ihn mir aus freien Stücken erwählt.«

»Du Kratzbürste!« dachte Hamm. Laut sagte er: »Sie möchten also den Beruf nicht aufgeben?«

»Warum sollte ich? Ich hoffe, ihn noch lange auszuüben, immer weiter zu kommen, viel zu lernen.«

Der Vetter lächelte, ein bißchen ironisch, wie ihr schien, und das machte sie ganz wild. »Ich bin eine Möwke, und die Möwkes haben harte Köpfe und steife Nacken, und was sie wollen, das wollen sie ganz.«

»Ich weiß schon. Wer mit solcher wilden Möwe zu tun hat, der soll sich hüten, daß sie ihn nicht in die Finger hackt.« Oder in das Herz, dachte er noch, aber das sprach er nicht aus.

»In vier Wochen ist Taufe,« sagte Hansine nach einer Weile, und ihre Stimme war ganz weich. Sie sah in die Ferne, und in den Augen hatte sie einen warmen Schein. »Dann müssen Sie auch kommen, Vetter, damit alle auf dem Möwenhof sind, die von alters her mit ihm in Verbindung stehen. Es sind so viele Familienbeziehungen verlorengegangen und eingeschlafen, und unser kleiner Bruder soll doch den alten Hof zu neuem Leben bringen. Dazu müssen alle helfen, die zur Familie gehören.«

Er hatte im ersten Augenblick ablehnen wollen, aber als sie weitersprach und so still vor sich hin sah, wieder eine ganz andre als einige Minuten vorher, neigte er sich ein bißchen und antwortete: »Wenn Ihre Eltern mich an dem Tage haben wollen, ich komme gern.«

Gegen Mittag waren sie auf der Braruper Station, wo Hansine von ihrem Vater abgeholt wurde. Der Vetter aber fuhr noch eine Station weiter. Er würde am andern Tag von Lilebüll hinüberkommen zum Hof, wenn er aber nicht käme, in vier Wochen zur Taufe dann sicher.

Am nächsten Tag aber kam statt seiner eine Karte, daß der Handel leider, wie er ja gefürchtet, nichts geworden sei, und daß er darum mit dem ersten Zug nach Hamburg zurückfahre.

Es gab allgemeines Bedauern, und Hansine fühlte eine so scharfe Enttäuschung, daß sie selber darüber erschrak und den ganzen Tag sehr stachlig war. Dina spürte das und spürte auch den Grund, aber die kleine, feine Dine hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als mit einem Wort an Dinge zu rühren, die keine Berührung ertrugen.

So ließ sie die Schwester gehen. Die saß bei dem Wagen des kleinen Bruders und bewunderte heimlich solch junges Leben in seiner ganzen Winzigkeit, die doch schon eine ganze Vollendung ist, wie in der geschlossenen Knospe schon alle Blätter der herrlichen Rose verborgen sind, und nicht nur die Blätter, sondern auch der Duft, der die Seele der Blume ist. Wenn der kleine Hans – so riefen sie ihn – die Augen öffnete, die einmal blau werden wollten, dann suchte die Schwester in ihnen die junge Seele, die sich selber noch nicht kannte und doch da war, still und geheimnisvoll. Die Mutter, die sie beobachtete, lächelte über ihre beiden Hänse, und einmal fragte sie: »Willst du ihm nun das Bubenrecht abtreten, mein Hans? Du bist nun einundzwanzig Jahre, es wird am Ende jetzt Zeit.«

»Wenn er läuft, wenn er mit den Füßen aufstampft und seine Bubenart zeigt. Bis dahin laß mich nur noch, Mutter! Ich kann nicht so mit einem Male aus meiner Haut heraus.«

Sina Möwke schien noch etwas sagen zu wollen, doch sie zwang es wieder hinunter. Sie dachte an Hamm und daß er vor einem halben Jahr hier im Hause gewesen war und sich Neffenrechte erbeten hatte, und was er dabei in stiller Stunde zu ihr, der Mutter, gesprochen. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie der Tochter davon sagen sollte, doch sie verschloß es wieder. Hansine hatte wohl recht, so mit einem Male kommt keiner aus seiner Haut heraus; sie hatten sie alle zu lange als Buben behandelt. Es muß alles seine Zeit haben.

»Du sollst bei dem schönen Wetter nicht immer im Hause sitzen, mein Altes,« sagte die Mutter nach einer Weile. »Dina darf noch nicht zuviel gehen mit ihrem Fuß, aber für dich müßte es doch schön sein heute zu baden. Es ist Flutzeit. Nimm deine Siebensachen und geh hinaus!«

Eine kurze Überlegung. »Ja, ich will gehen. Ich glaube, ich muß mir heute mal den Wind gründlich um die Ohren wehen lassen. Und die Springstange nehm' ich mit. Einmal muß ich mein Bubendasein noch auskosten.« Sie ging hinauf in das große Giebelzimmer und packte Badelaken und -anzug zusammen, trat an das rechte Seitenfenster – vor dem Mittelfenster stand der sehr breite Tisch, der die alte Leuchtlampe und den Messingschirm trug – und sah über Land und Deich hinweg auf die See.

Ja, es war Flutzeit. Nur wenn die Flut an den Strand rennt, kann man baden. Der starke, ziehende Ebbstrom nimmt jeden Schwimmer mit hinaus in die uferlose Weite. Aber wenn die tausend kleinen tanzenden Wellen am warmen Sommertag gegen den Strand springen, ihre Perlenschleier auf den Sand werfen und kichernd vergehen, dann ist es herrlichste Badezeit.

Drei Minuten später sahen Frau Sina und Dine, die aus dem großen Eßzimmer über die Fennen blickten, Hansine in weitem, hohem Schwung die Gräben überfliegen und geradeswegs auf den Deich zuhalten. Nun war sie drüben, nun klomm sie empor und verschwand an der andern Seite.

Wie sie aber dort ankam und den Strand überblickte, ob er auch menschenleer sei, entdeckte sie einen Mann, der im Sande saß, dort, wo der Sand feucht war, und mit einem Stöckchen etwas hineinschrieb oder -zeichnete. Bei näherem Hinsehen erkannte sie Schlackerjochen. Na, was tat denn der hier, wo bei der Ernte alle Hände voll Arbeit waren? Sie ging heran. Er war so vertieft in sein Tun, daß er sie nicht einmal bemerkte, als sie hart hinter ihm stand. Da sah sie in dem feuchten Sand viele Möwen abgebildet. Mit wenig Strichen hatte der junge Mensch jeden einzelnen Vogel hingezeichnet, wie er mit weit gebreiteten Schwingen schwebte, niederstürzte, sich auf den Wellen wiegte, im Aufstieg mit den Schwingen schlug. Hansine war so erstaunt, daß sie laut ausrief: »Was ist denn das? Bist du ein verkappter Maler, Jochen?«

Der schreckte nicht schlecht zusammen. Sein Stöckchen glitt rechts und links über den Sand und wischte hinweg, was es erreichte.

Doch das Mädchen hatte schon genug gesehen. »Du solltest gewiß beim Aufstacken helfen, was? Und sitzt statt dessen hier im Sand und machst Möwen. Tust du das öfter?«

Der junge Bengel, immer noch unsicher, sobald ihm ein entschlossener Wille begegnete, wußte nicht zu antworten.

»Na, ich klatsche dich nicht an. Wenn der Verwalter dich nicht vermißt … Aber ich will wissen, seit wann du dies betreibst.«

»All immer.«

»Wieso all immer?«

Jochen schluckte und ruckte, sich selber Mut machend. »Ich mein' man, wie ich noch mit Schneidermaxe tippelte. Wenn wir irgendwo lagen, dann zeichnete ich so in den Sand, oder in der Herberge mit en Stück Kreide auf 'n Tisch, so Tiere und Gesichter. Denn gaben sie mir was zu essen und zu trinken, die andern.«

»Auf Papier zeichnetest du nicht?«

»Papier? Nee, wo sollt' ich woll dabei kommen!«

»Sehr richtig. – Na, wenn du dich nun ein bißchen dalli hier empfiehlst und an die Arbeit gehst, dann kannst du dir heute abend von mir Papier und Bleistift holen und die Möwen mal so hinzeichnen, daß sie nicht gleich wieder vergehen. Wie guckst du mich denn an? Wie die Kuh das neue Tor! Ja, ja, ich schenk' dir weißes Papier und zwei Stifte und meinetwegen auch bunte Kreidestifte; ich hab' ja massenhaft von dem Zeug. Was bunte Kreide ist, weißt du wohl gar nicht? Du wirst schon dahinter kommen. So, nu aber etwas schnell auf das Feld! Der Roggen soll heute noch rein.«

Schlackerjochen raffte seine langen Gliedmaßen zusammen und verschwand über den Deich.

Hansine suchte sich das alte Boot, das auf dem Vorland umgestürzt lag, und ließ ihre Kleider in seinem Schutz liegen. Dann ging sie hinein in das sonnenwarme Wasser, und wie sie mit den Armen scharf ausstreichend sich auf den Wellen wiegte, hatte sie selber etwas von einer Möwe, die in ihrem eigensten Element wohlig hin und wider gleitet.

Als sie abends einmal hinaufging in ihre Stube, stand dort auf dem Bodengang der Schlackerjochen. Er hatte schon fast eine Stunde wartend gestanden, einmal mußte das Fräulein doch kommen. Jochen hatte gewaltige Achtung vor ihr und wäre nicht gewichen, wenn er auch die ganze Nacht hätte warten müssen.

»Ach so, da bist du ja! Na, dann komm mal her! Ja, du darfst hier in die Tür kommen. Siehst du, das ist ein Zeichenbrett, und das ist Zeichenpapier; da sind Stifte und Kohle, und das ist farbige Kreide; in dem Kasten da sind Wasserfarben und Pinsel, die wollen wir nur einstweilen in Ruhe lassen. Hier, nimm dir diese Blätter mit und diese Stifte und Kreiden! Ja, etwas vorsichtiger mußt du das alles anfassen, sonst zerbrichst du es. Und morgen abend setz' dich in die Bohnenlaube hinter der Scheune, da werd' ich mir ansehen, was du gemacht hast. Wenn es zu brauchen ist, geb' ich dir Unterricht. Du kannst ruhig den Mund zumachen, wenn man mit dir spricht; gebratene Tauben fliegen nicht hinein.«

Jochen grinste hilflos und glücklich, nahm die Herrlichkeiten, die er bisher kaum dem Namen nach gekannt hatte, murmelte etwas, was guter Wille als einen Dank ansehen mochte, und polterte über den Boden davon.

Am nächsten Abend, als Hansine in die Bohnenlaube kam, saß er da, geduckt wie ein Hund, der zu viele Schläge bekommen hat und sich nicht recht traut, und doch mit einem heimlichen Hoffen in den Augen. Wenn das Fräulein nun fand, daß er seine Sache nicht schlecht gemacht hatte? Wenn sie ihm nun Unterricht gab? Darunter konnte er sich schon eher etwas vorstellen, denn er mußte dreimal in der Woche auf Befehl des Gutsherrn zum Schullehrer, um lesen und schreiben zu lernen, und dem Umstand, daß er Griffel und Feder zu halten gelernt hatte, war es zu verdanken, daß er nicht jeden Bleistift gleich abgebrochen hatte.

Als Hansine zu ihm trat, schob er ihr ein Blatt hin. Sie hätte beinahe einen Schrei des Erstaunens ausgestoßen. Da war die Hundehütte und Mohr davor, nahe dabei Dina, die Hündin, und Dina hatte es augenscheinlich auf die Schüssel des Hofhundes abgesehen. Der aber lag, und seine Augen wichen nicht vom Napf. Es war mit wenigen Strichen hingezeichnet, doch in den Augen der Hunde, in der lässigen und doch aufmerkenden Haltung des Kettenhundes war starkes Leben. Ja, Jochen hatte in seinem Wanderleben gelernt, auf Hunde zu achten, sie waren sozusagen ein Bestandteil seiner täglichen Sorgen, aber ein andrer hätte diesen Beobachtungssinn doch nicht gehabt; dazu gehörte das Auge des geborenen Zeichners.

»Jochen, wer war dein Vater?«

»Weiß ich nicht.«

»Wer war denn deine Mutter?«

»Weiß ich nicht.«

Es war unmöglich, verwischten Spuren nachzugehen. Irgendwelche verlorene Menschen, deren Schritte im Staub der Straße lange vergangen waren, hatten diesem Jungen ein Erbteil hinterlassen, dessen er sich bisher gar nicht bewußt geworden war und ohne Engels Fürsorge, ohne Hansines plötzliche Erkenntnis nie wirklich bewußt geworden wäre.

»Ich will dir Stunde geben, jeden Abend, solange ich in den Ferien hier bin. Nachher müssen wir weiter sehen. Aber sie haben mir gesagt, du wärest einmal davongelaufen und hättest dich drei Tage lang herumgetrieben; das darf nicht wieder vorkommen. Geschieht das noch einmal, kümmere ich mich nie wieder um dich.«

Der lange Mensch sah in die Ferne. Die lockte. Wenn man gewandert ist, solange man denken kann, dann will es nicht munden, immer auf einem Fleck zu sitzen, dann hat man die Unruhe in den Füßen und im Kopf. Dagegen das andre: zeichnen können, wirklich zeichnen, alles abschildern dürfen, was die Augen sehen. Er wußte nicht, was ihm lieber war.

Hansine überhob ihn der Entscheidung. »Du unterstehst dich also nicht, noch einmal davonzulaufen! Ein Jahr hältst du hier aus und bist ordentlich und fleißig beim Jungvieh und lernst beim Lehrer. Wenn ich nicht mehr hier bin, kannst du bei dem zeichnen, und wenn du dich ordentlich gemacht hast die Zeit, will ich mit meinem Vater reden, daß du bei Malermeister Timm in Brarup Lehrling wirst. Später, wenn du in einer großen Stadt arbeitest, kannst du bei einem ordentlichen Lehrer noch viel zulernen. Also so wird es gemacht.«

»Ja,« sagte der Schlackerjochen, von so viel Bestimmtheit ganz benommen.


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