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Fünftes Kapitel.
Irren und Wirren

Die Ehe von Engel Möwke mit Horst Stein soll eine ganz besonders glückliche gewesen sein. Sie hatten im Jahr 1821 geheiratet, und es wurden ihnen drei Töchter geschenkt, von denen eine als kleines Kind wieder starb. Dann, nach zehnjähriger Ehe, kam ein Sohn. Der Jubel soll groß gewesen sein auf dem Duvenhof. Eltern, Großeltern, Schwestern und Gesinde, alles wetteiferte, den kleinen Detlev Ludwig zu verziehen.

Im Gartensaal hängt sein Bild mit der roten Schülermütze auf den blonden Kraushaaren. Ein herumziehender Malersmann hat es angefertigt, als der Fünfzehnjährige in den Ferien von Kiel nach Hause gekommen war. Ein großer Künstler war der Maler wohl nicht, aber man sieht doch, wie froh die Augen gelacht haben, und wie hell und frisch die feinen Züge waren. Daß der Detlev geliebt und verwöhnt wurde, erscheint nach dem Bilde nicht wunderbar. Er hatte erst die Schule in Meldorf besucht, dann schickten ihn die Eltern auf sein Bitten nach Kiel.

Einmal, im Sommer, war nämlich Besuch aus der Ferne gekommen, Otto von Hamm, ein junger Student der Rechtswissenschaft, ein Vetter zweiten oder dritten Grades, ein Enkel der schönen Hansine, die den adligen Herrn freite. Sie lebte nicht mehr, auch ihr Mann nicht, aber der Sohn entsann sich, mit welcher Liebe die Mutter immer von der Heimat gesprochen hatte, und er schickte den eigenen Sohn zu den Verwandten. Der freundete sich mit dem drei Jahre jüngeren Vetter an, und er war auch die Veranlassung, daß Detlev Ludwig auf die Schule nach Kiel kam. Da konnte er an den Sonntagen nach Uhlenhorst hinausfahren zu den Verwandten.

Aber in beiden jungen Vettern war der jache Zorn, der den Möwkes immer wieder in das Blut fährt. Oft, wenn sie eben in Frieden und Freundschaft zusammengesessen hatten, zuckte es plötzlich auf bei der geringsten Kleinigkeit, und sie gerieten aneinander wie ein paar wilde Doggen. Nachher war die Freundschaft doppelt groß.

Mit achtzehn Jahren sollte Detlev Möwke von der Schule abgehen. Es war schon ausnehmend lange, daß der Vater ihm den Besuch der Schule gestattete, denn die andern jungen Söhne aus der Gegend mußten heimkehren, wenn sie konfirmiert wurden.

Man schrieb das Jahr 1847 und Weihnachten stand vor der Tür. Da haben sie auf der Bude des Schülers zusammengesessen, noch ein paar andre junge Menschen dabei, und haben davon geredet, daß böse Zeiten für die Herzogtümer kämen, und daß sie alle mitwollten, wenn es losginge gegen Dänemark. Denn es stand der dänische Thronwechsel bevor, und von dem neuen König erwartete niemand Gutes für alles, was deutsch hieß.

Sie hatten sich heißgeredet. Da soll Otto von Hamm geäußert haben, wenn es losginge, würde der Adel Schleswig-Holsteins an der Spitze stehen, wie er immer an der Spitze gestanden hätte, sobald es für die Freiheit der Herzogtümer und gegen Dänemark ging.

»Immer nicht, immer nicht,« hat Detlev Möwke dazwischengerufen. »Denn vor ein paar Jahrhunderten hat der Holstenadel mit dem König von Dänemark mehr als einmal gemeinsame Sache gemacht, die Dithmarschen, die doch gut deutsch waren, zu besiegen und ihrer Freiheit zu berauben.«

Da waren sich die zwei Kampfhähne schon wieder in die Haare geraten.

Die Freunde haben erst gelacht, dann zum Guten geredet, schließlich ihnen ernstlich Ruhe geboten. Aber sie hörten nicht. Irgend ein scharfes Wort über das »Dithmarsche Bauernvolk« hatte der junge Hamm ausgestoßen, worauf Detlev Möwke in hellem Zorn rief: »Ach was, euer Adel ist eine ganz verrottete Einrichtung!«

Außer den Fragen, ob deutsch, ob dänisch, brannten damals die ganzen Freiheitsgedanken der neuen Zeit in den aufgeregten jungen Seelen.

»Das Wort nimmst du zurück!« schrie Otto von Hamm. »Sofort nimmst du es zurück, sonst fordere ich dich!«

»Hältst du mich für feige? Meinst du, ich kann meine Worte nicht mit der Waffe verteidigen?«

Es ist später festgestellt worden, daß der Streit so verlaufen ist. Detlevs Schwester Martina hat es aufgeschrieben, denn der Bruder war ihr alles.

Die beiden jungen Menschen haben richtig einander Sekundanten geschickt, und es wurde vereinbart, das Duell solle ausgetragen werden, sobald Detlev Möwke die Schule verlassen habe. Denn es kamen häufiger Reibereien zwischen Schülern und Studenten vor, so daß Duelle von Schülern auf das strengste verboten waren und schwer bestraft wurden.

An Weihnachten fuhr Detlev Ludwig nach Hause, doch hat er von dieser Sache nicht gesprochen. Er ist überhaupt so sonnig und vergnügt gewesen wie immer, und keiner hat ihm etwas angemerkt. Er hat vielleicht selbst dem allem wenig Wert beigelegt. Ein Duell war für einen jungen Dithmarschen etwas so Wesensfremdes, etwas so Unerhörtes, da ist ihm wohl gar nicht recht klar geworden, was das bedeuten könnte. Und bis Ostern – ach, bis Ostern konnte noch viel Wasser am Deich verschäumen! Wie oft hatten sie sich in den Haaren gelegen! Immer war nach ein paar Tagen alles wieder im Lot.

Am dritten Januar wollte er mit der Post von Brarup nach Meldorf fahren, von da weiter nach Kiel, denn am fünften ging die Schule wieder an. Vergnügt wie immer packte er seine Siebensachen, ließ den Knecht, der Korn zur Stadt fuhr, den Koffer bis Meldorf mitnehmen und wanderte selber zu Fuß nach Brarup. Morgens um acht Uhr ist er fortgegangen von daheim. Um zehn fuhr die Post ab von Brarup; um zwölf kam ein Handelsmann, der mit seinem Pack über Land ging, in großer Aufregung auf den Hof gerannt und fragte nach Horst Möwke, denn auf halbem Wege zwischen dem Duvenhof und dem Dorfe, auf einer Wiese nahe der Straße, hatte man den jungen Detlev Ludwig erschossen aufgefunden. Mitten durch das Herz war die Kugel gegangen. Die Waffe hatte er noch in der Hand gehabt; er mußte sich selbst entleibt haben.

Entsetzliche Stunden müssen es auf dem Hof gewesen sein, als das bekannt wurde. Selbstmord! Das konnte ja gar nicht sein! Das war so sündhaft, so gegen alle göttliche und weltliche Ordnung, das war ganz unmöglich, wenn ein Mensch nicht entweder ganz verkommen oder wahnsinnig war. Und dieser gesunde, helle, gute Mensch … Sie konnten es nicht glauben, sie wollten es nicht glauben – mußten es aber schließlich doch.

Der Arzt kam und das Gericht, und man forschte und fragte in der ganzen Gegend, ob ihn denn noch jemand gesehen habe, ehe er jene Wiese betrat. Da kam langsam ein wenig Licht in das Dunkel, freilich ein trübes und trauriges Licht.

Der Posthalter, der zugleich Krugwirt in Brarup war, hatte ihn gesehen an jenem Morgen. Er war angekommen, fröhlich und guter Dinge. Ein Wanderlied pfeifend, hatte er sich dem Haus genähert und da drei junge Herren gesehen, die am Abend vorher gekommen waren, im Krug genächtigt hatten und nun, an der Tür stehend, Ausschau hielten in die Gegend. Es war dem Krugwirt so vorgekommen, als hätte Detlev Möwke ein bißchen gestutzt, als er die drei erblickte, doch dann sei er auf sie zugetreten. Sie hätten sich begrüßt, etwas feierlich; die Hand hätten sie ihm nicht gegeben. Darauf seien sie eine Weile vor dem Hause auf und ab gegangen, dann sei einer wieder in die Tür gekommen, habe aus dem Zimmer, wo sie geschlafen hatten, einen Kasten geholt, und endlich waren alle vier zusammen fortgegangen, dem Duvenhof zu. Eine halbe Stunde später sei nur einer wiedergekehrt, habe bezahlt, die paar Sachen, die sie bei sich gehabt, abgeholt und sei fortgegangen. Er habe gesagt, sie wollten nach Meldorf und weiter mit der Post. Die Post werde sie dort wohl treffen, wenn der Postillion sie nicht schon unterwegs einhole.

Das war alles, was der Mann wußte. Seine Wahrnehmungen wurden von seiner Frau und dem Knecht bestätigt. Gekannt, nein, gekannt hätten sie die jungen Leute nicht. Aber Herren seien es gewesen, richtige Herren, nicht solche, denen man einen Überfall oder Mord zutrauen konnte.

Mit wem hatte Detlev da gesprochen? Die Eltern wußten sich keinen Rat. Es gab ja noch keine Telegraphen und Telephone. Alle Nachforschungen in solchen Sachen gingen unendlich langsam; die Spuren waren oft verwischt, ehe der Untersuchungsrichter die Fäden nur halb in der Hand hatte.

Die Waffe, aus welcher der Schuß gefallen, war dem Vater übergeben worden. Er kannte sie nicht. Sie war von guter Arbeit, doch augenscheinlich kein neues Stück. Woher hatte der Sohn sie genommen? Am zweiten Tag, als der Hofbauer sie wieder prüfend in der Hand hielt, fiel ihm etwas auf, was er zwar gleich gesehen, aber nicht sonderlich beachtet hatte: am Kolben war eine Stelle, als habe dort ein Stück Metall gesessen, das herausgebrochen war. Wohl irgend eine Verzierung, die sich gelöst hatte. Doch nun, als er die Stelle so ansah, kam es ihm vor, als zeichne sich im Holz in dunklen Umrissen eine Art Zeichnung ab. Was war das? Obgleich er nicht dachte, daß es etwas helfe, holte er sich doch ein Vergrößerungsglas, hielt es über die Stelle und erkannte auf dem Holz die eingedrückte Zeichnung eines Wappens. Was da herausgebrochen war, war augenscheinlich ein Wappen gewesen. Das Metall hatte sich in dem weicheren Holz abgedrückt, und dies Wappen kannte er: es war das Wappen der Hamms. Wie kam Detlev zu einer Pistole der Verwandten, und wer hatte das Wappen entfernt? Er selber oder ein andrer? Der Verdacht ist ihm selber ungeheuerlich erschienen, dennoch – nachgehen mußte er dieser Spur.

Inzwischen setzten sie den jungen Toten auf dem heimatlichen Friedhof bei wie einen, der sich selbst gerichtet hat. Denn außer den Eltern und Geschwistern schien doch allen ein Selbstmord das einzig Gewisse. Vor Tau und Tag trugen sie den Sarg hinaus, kein Prediger ging mit. An der Mauer, wo die Verbrecher lagen, wo seit zweihundert Jahren kein Sohn der Gemeinde begraben worden war, da gruben sie ihm das Grab, und den Angehörigen wurde zu allem Leid auch noch die Schande auf die Schultern gelegt. Denn die Menschen waren in jenen Tagen strenger in ihrem Denken und sittlicher in ihrem Handeln; aber sie waren auch oft hart und lieblos und selbstgerecht, und das Wort des Pharisäers: »Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie jener,« hatte viel Geltung unter ihnen.

Der Vater ging in der Stille jener Spur nach, die ihm so fremd und doch leider so notwendig zu erkunden schien. Er ließ durch Bekannte in Kiel nachforschen, wie der Sohn in den letzten Monaten mit dem Vetter gestanden habe, und da kam dann alles nach einiger Zeit an den Tag: daß sie in törichter Jugenderregung sich beleidigt und einander gefordert hätten, daß aber dies jungenhafte Duell einstweilen vertagt worden sei.

Wo war Otto von Hamm, der nun aussagen sollte? Er hatte die heimatliche Universität mit einer im südlichen Deutschland vertauscht, und es war nicht zu ermitteln, wo er sich befand. Die Eltern wußten es nicht oder gaben vor, es nicht zu wissen. Er selber sandte kein Lebenszeichen, und die Nachforschungen waren langwierig. Aber man fand den einen der Freunde, die mit ihm nach Brarup gekommen waren; er hatte sich Kameraden gegenüber in allerlei Bemerkungen ergangen. Das kam herum. Er wurde vor den Rektor der Universität zitiert, und da sagte er aus, was sich zugetragen hatte.

Otto von Hamm hatte, heftig wie er war, mit einem der Professoren eine Sache gehabt, die ihm das weitere Studium in Kiel verbot. Er sollte zum neuen Jahr fort nach Süddeutschland, nach Tübingen, Marburg oder Heidelberg, und schwierig, wie das Reisen damals war, wäre er wohl in Jahren nicht wieder nach Kiel gekommen, jedenfalls nicht vor bestandenem Examen. Da hatte es ihm als Korpsstudenten unmöglich geschienen, eine unerledigte Forderung hinter sich zu lassen, und er war mit der Post, begleitet von zwei Freunden, nach Brarup gefahren, den Vetter zum sofortigen Austrag ihres Zwistes zu veranlassen. In dem Postkrug hatten sie ihn erwartet, da sie wußten, er würde an jenem Tag die Rückreise antreten. Und dann war alles so schnell gegangen, daß der junge Mensch, der bei seiner Aussage ganz verstört war, nur immer beteuerte: »Es ist uns alles so über den Kopf gekommen – wir haben gar nicht überlegt.«

Detlev Ludwig hat sich wohl etwas verwundert, als die drei da im Krug saßen, hat aber, wohl um nicht feige zu erscheinen, zu allem ja gesagt. Da sind sie auf jene Wiese hinausgegangen und haben dort die Plätze abgemessen. Der eine der jungen Leute hat als Sekundant für ihn, der andre für den Vetter fungiert, alles so wenig nach den Gesetzen des Duells wie nur möglich, denn sie haben nicht einmal einen Arzt bei sich gehabt, und dann haben beide zu gleicher Zeit gefeuert. Detlevs Kugel ist in die Luft gegangen, ihn selber aber hat ein Herzschuß getroffen. Ohne noch einen einzigen Laut von sich zu geben, ist er, zum Entsetzen der andern, zusammengebrochen.

»Wir sind so wahnsinnig erschrocken,« sagte der Student. »Niemand hatte gedacht, daß die alten Pistolen überhaupt solch Unglück anrichten konnten. Wir sahen ja gleich, daß alles vorbei war, und dachten nur daran, daß Otto nicht gesehen werden dürfe. Da bin ich gleich mit ihm zur Straße und nach Meldorf gegangen. Unser Freund hat die eine Waffe noch mitgenommen und aus der andern, die der Tote in der Hand hielt, das Wappen ausgebrochen; dann ist er zum Dorf gegangen, die Sachen zu holen, und ist uns nachgekommen. Und wenn nicht das Wappen sich in den Kolben eingeprägt hätte …«

Ja, dann wäre es wohl nie an den Tag gekommen.

Aber was war gewonnen damit, daß es herauskam? Der Vorwurf des Selbstmordes war von dem Andenken des einzigen jungen Möwke genommen, aber er war für immer hinweggegangen; die Eltern bekamen graue Haare, die jungen Schwestern verlernten lange das Lachen, und die eine, Martine, von der sie sagen, sie habe den Vetter sehr gern gehabt, die wurde ein schroffer, bitterer Mensch und blieb einsam ihr Leben lang. Und alles um ein heftiges Wort und einen jähen Zorn.

Die andre Schwester, Christine, Christel genannt, heiratete später einen Vetter von ihres Vaters Seite her, auch einen Stein, und – doch erst will ich zu Ende kommen mit dem, was damals geschehen ist.

Die Nachbarn und Verwandten lagen Detlevs Vater in den Ohren, er dürfe diese Sache nicht stecken lassen, denn viel andres als ein Mord sei das nicht, was da an seinem Sohn geschehen sei. Aber Horst Stein war ein Mann, der all seine Gedanken und Taten unter Gottes Augen stellte, und er sagte: »Als die unglückliche Kugel mein Kind traf, da hatte dessen Hand im gleichen Augenblick den gleichen Schuß auf den Freund abgegeben. Und wenn er nun getroffen hätte, statt getroffen zu werden? Dann wäre er der Mörder gewesen, wenn es ein Mord war. Und wenn ich mich frage, was war das Schwerere und Härtere, zu töten oder getötet zu werden, dann … Ja, ich glaube, unser Herr ist ihm gnädig gewesen, daß er ihn nicht schuldig werden ließ. Darum kann ich nicht den andern verfolgen lassen, der sich selber, so wie ich ihn kenne, in große, große Not gebracht hat. Unglücklich für sein ganzes Leben wird er sein. Nie, auch wenn ihn kein irdisches Gericht verurteilt, wird er sich selber freisprechen können. Ich kann nicht hingehen und gegen ihn klagen. Ich muß es dem überlassen, der unsre Wege lenkt, wie alles kommen soll.«

Und seine Frau, Engel, die mit dem klugen Sinn und dem warmen Herzen, die nie anders dachte als er, die hat ihm recht gegeben.

Sie haben kein Gericht gegen den jungen Vetter gehetzt, und wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter.

So sind dann drei Monate darüber hingegangen.

Der Krieg gegen Dänemark, das damals die Einverleibung Schleswigs in das dänische Königreich verlangte, brach aus. Die ganze Jugend Schleswig-Holsteins eilte zu den Fahnen. Es herrschte eine große Begeisterung, und die Menschen gaben, was sie hatten, Gut und Blut, ihre Habe und ihre Söhne. Aber eins konnten sie nicht geben, denn das wollte langsam geschaffen sein: ein kriegstüchtiges Heer. So sind die begeisterten jungen Menschen umsonst den Tod für das Vaterland gestorben.

Detlev Ludwig Möwke wäre unter den ersten gewesen, die hinausgingen, wenn er dies erlebt hätte. Er schlief in der kalten Erde, aber der andre, der Freund, der doch an ihm zum Mörder geworden war, der lebte. Und der liebte sein Vaterland nicht weniger.

Es war an einem Abend im April, da ging der Vater in schweren Gedanken durch den Garten, bis dahin, wo der Garten ohne Gitter in das Holz übergeht, und er dachte wohl mit Leid an sein Kind und mit Sorge an die Heimat. Da hatte er das Gefühl, als sei jemand in seiner Nähe, der ihn beobachtete. Er sah sich um, bemerkte aber niemand. Doch nach einigen Schritten dasselbe Gefühl, nur noch stärker. Und wieder blickte er sich um und sah bei den Baracken, die in der Sturmflut die Nachbarn bergen, etwas sich bewegen. Es war ein Mensch, der sich halb verbarg, halb den Anschein erweckte, als wolle er wohl hervor und getraue sich nicht. Es war schon dämmrig.

»Wer steckt da?« rief Möwke. »Heraus, wer du auch bist!«

Und Otto von Hamm kam langsam auf ihn zu.

Horst Möwke hat später seinen Töchtern gestanden, im ersten Augenblick sei ihm gewesen, als fasse ihn der Tod an das Herz. Er habe beide Hände ausgestreckt, den Neffen zurückzuscheuchen. Der ist vor ihm in die Knie gebrochen, hat so elend und verzweifelt ausgesehen, daß es den älteren Mann doch in allem Gram und Zorn erschütterte, und hat gerufen: »Wenn du mich töten willst, ich wäre froh.«

Da hat er ihm gesagt, er solle aufstehen und sagen, was ihn herbringe, denn ohne Grund tue er ihm das wohl nicht an, daß er vor seine Augen komme.

Und Otto hat gesagt, er könne das Leben nicht aushalten mit dem Gedanken an den toten Freund; er sei es gewesen, der die unselige Kugel abgefeuert habe. Er hege jetzt nur den einen Wunsch, seine Tat zu sühnen. Wenn das nicht gewesen wäre, würde er wie all die andern in die Freischar eintreten, die von Studenten und Kaufleuten und Handwerkern und Jägern und Bauernsöhnen gebildet wurde, aber er sei es wohl nicht wert, für sein Vaterland zu fechten und zu sterben. Und darum bitte er den Onkel, er möge über ihn entscheiden; er wolle alles tun, was er verlange. Sollte er sich dem Gericht stellen? Oder durfte er, durfte er …

Ja, hat Horst Möwke gesagt, er dürfe hinausgehen. Mit dem Stellen vor dem Gericht sei niemand geholfen. Aber in diesen Tagen brauche das Vaterland jeden Mann und jeden Arm, und wer für sein Vaterland kämpfe, der tue besser, als wer nutzlos im Gefängnis schmachte. Und er hat es über sich gewonnen, dem Neffen die Hand auf das Haupt zu legen und zu sprechen: »Ich sehe jetzt, daß du ebenso leidest wie wir. Darum will ich versuchen, ohne Haß an dich zu denken. Und wenn du nicht wiederkommst, will ich dich in meinem Herzen freisprechen, denn dann hast du deine Tat gesühnt. Nun geh! Unser Land braucht dich notwendig.«

Das alles hat er später der Tochter gesagt, und sie hat es aufgeschrieben und darunter gesetzt: »Bei Bau bei Flensburg, wo die Blüte der schleswig-holsteinschen Jugend fiel, hat auch Otto von Hamm den Ehrentod gefunden.«

Das Grab von Detlev Ludwig, ob es auch an der Mauer lag, ist immer voll Blumen gewesen, denn seine Schwestern haben es betreut bis in ihr Alter. Und ich habe selber als Kind noch mit Großtante Christel an manchem heißen Sommerabend Wasser vom Braruper Dorfteich getragen, um die Rosen und Reseden zu begießen.

Martine Möwke heiratete nicht, und so ging der Hof auf ihre jüngere Schwester Christel über, die, wie ich schon sagte, einen Verwandten von Vaterseite, Peter Stein, heiratete. Sie war geboren im Jahr 1828 und ihre Hochzeit fiel in das Jahr 1852. So sind wir bei meinen Berichten langsam bis zu den Tagen gekommen, die noch in unsre Gegenwart hineingreifen. Denn bei Tante Christel und Onkel Peter hab' ich Kindesrechte gehabt, eigentlich müßte ich sagen, Enkelrechte, wegen des großen Altersunterschiedes.

Sie haben nie Kinder gehabt, und wären nicht die vielen Kinder der früheren Geschlechter gewesen, dann wäre der Duvenhof nun doch in fremde Hände gekommen. Aber die meisten hatten den Namen Möwke abgelegt, wenn sie heirateten, nur die kleine Ovedine, die den jungen Lehrer in Tondern geheiratet hatte, den, der während der Franzosenzeit sich zwischen den Eisschollen versteckt hatte, die hatte sich Tamsen-Möwke genannt – Tamsen war der Name des Lehrers gewesen –, und als nun der Duvenhof keine Kinder mehr aufwachsen sah, da beschlossen Onkel Peter und Tante Christel, es solle eine von den Nachkommen dieses Zweiges sein, die einmal auf dem Duvenhof Herrin würde. Und sie haben, aber ohne daß ich es wußte, mich schon als kleines Kind dazu ausersehen; denn, wie es manchmal wunderlich kommt im Leben, daß ganz kleine Dinge über Großes entscheiden, so ist es auch hier gewesen.


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