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Schwedenklee schlief in dieser Nacht wunderbar! Er träumte angenehm: er packte Koffer, Koffer, streute Trinkgelder um sich, Scharen von Kellnern dienerten, Autos rollten, Dampfer tuteten, beglückt fühlte er Ellens Gegenwart in jeder Sekunde, ohne daß er sie eigentlich je sah – sie waren unterwegs.
Spät am Morgen erwachte er, dampfend und erfrischt vom Schlaf. Es war fast schon neun Uhr. Ellen hatte soeben gefrühstückt und erhob sich vom Tisch, als er eintrat.
Sie errötete, rasch und tief – augenblicklich mußte er wieder an ihre heißen, weichen Lippen denken – flüchtig, mit einer gewissen Hast, berührten ihre kühlen Finger seine Hand.
»Was für Langschläfer wir doch sind!« rief sie lachend aus. »Ich habe einen richtigen Katzenjammer!« Und sie strich sich mit den Fingerspitzen über die Schläfen, so daß die Hände ihr Gesicht verbargen. »Und was für törichte Dinge ich wohl geschwatzt haben mag, heute nacht?«
Schon war sie zur Türe hinaus.
Schwedenklee fand ihre mädchenhafte Verwirrung entzückend. Sie schämte sich, ohne jeden Grund. Wie herrlich, diese Reinheit!
Nein, er hatte natürlich nicht erwartet, daß sie ihm um den Hals fallen würde, keineswegs. Sie war ein junges Mädchen, vor eine bedeutsame Frage gestellt, sie mußte Zeit zur Überlegung haben – er würde weder mahnen noch drängen, nicht, daß man einmal sagen könnte, er habe sie überrumpelt.
Und doch ...
Nein, nein, Schwedenklee war gewissermaßen dankbar, daß sich die erste Begegnung nach seinem Antrag so und nicht anders abgespielt hatte.
Er frühstückte mit gutem Appetit. Aber, während er ein Ei in der Hand aufschlug, konnte er doch den Gedanken nicht unterdrücken, daß es schließlich nicht nötig war für Ellen, so rasch, so verwirrt und verlegen wegzulaufen. Nein, nein, ganz unter uns, er hätte es hübscher und richtiger gefunden, wenn sie ihm zum Beispiel beim Frühstück Gesellschaft geleistet hätte.
Mit einer kleinen Falte in der Stirn zerlegte er eine Sardine.
Schwedenklee begann den Tag mit einer gewissen Feierlichkeit. Er ging bedächtig durch die Ställe, was er selten tat, er sprach lange und fast freundschaftlich mit dem Pächter, er stand und blickte über Felder und Äcker. Hell glänzte der Tag, eine Lerche schmetterte im Sonnendunst, sein Herz wurde heiter und froh.
Trotzdem – je länger er stand und in den hellen Tag hineinblickte – desto leerer und verwirrter wurde es in seinem Herzen. Er fühlte sich vereinsamt, verlassen, der Glanz des Tages bedrückte ihn. Obschon er sich geschworen hatte, Ellen in ihrem Versteck im Walde nie mehr zu belauschen, trieb ihn doch ein unwiderstehliches Verlangen, sie zu sehen, hinein in den Wald. Er pirschte sich vorsichtig durch das Erlengebüsch, erschreckend bei jedem Knacken eines Astes. Die Naturbühne aber war verlassen. Ellen war nicht da.
Schwedenklee kehrte enttäuscht in den Garten zurück und nahm, um die Langeweile zu verscheuchen, die Leere, mit übertriebenem Eifer seine Arbeit auf. Der Garten, muß man wissen, stieg von der Eingangspforte zur Treppe des Hauses sanft an. Schwedenklee beabsichtigte, diese Steigung in zwei Terrassen abzubauen, die, mit Stauden und Sommerblumen bepflanzt, dem Vorgarten ein heiteres und repräsentatives Gepräge geben sollten. Schon seit Wochen war er mit dieser Terrassierung beschäftigt, die Arbeit würde noch Wochen beanspruchen.
Eifrig handhabte er den Spaten. Die Sonne stach scharf ins Genick. Und Ellen, wo war sie?
Plötzlich hörte er eine Stimme, eine kernige, helle, etwas selbstbewußte, ja arrogante Männerstimme.
»Erlauben Sie mal, hören Sie mal!« rief diese Stimme.
Schwedenklee richtete sich auf. Ein dicker Schweißtropfen lief über seine Nase.
An der Gartentüre stand ein junger Mann. So unangenehm ihn der selbstbewußte, herrische Ton der Stimme berührt hatte, so sympathisch erschien ihm zu seiner Überraschung das Aussehen des jungen Mannes. Er war ein hübscher, großer Bursche mit gebräuntem Gesicht und hellen blauen Augen, blonden, strähnigen Haaren, die flott zurückgebürstet waren. Das Gesicht strahlte Jugend, Gesundheit und Selbstvertrauen. Er trug einen lichtgrünen Touristenanzug, graue Wickelgamaschen, gelbe Schuhe und einen weichen, breiten Kragen. Keinen Hut. Ein Badegast, dachte Schwedenklee. Häufig verirrten sich Badegäste an seine Türe.
»Sind wir hier richtig?« rief die helle, selbstsichere Stimme. »Ist dies die Residenz des Herrn Schwedenklee?«
Schwedenklee, etwas verwundert, nickte.
»Nun wohl, Dank den erhabenen Göttern!«
Der junge Mann klinkte die Türe auf und stieg die Stufen empor.
In der Geste des Aufklinkens der Pforte, in der Art des Eintretens erkannte Schwedenklees geschultes Auge sofort die Bühne.
Etwas unwillig stach er den Spaten in die Erde und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
»Und wo, teurer Freund,« fuhr der Eindringling mit strahlender Miene und einer höflichen Verbeugung fort, »wo können wir diesen sagenhaften Millionär Schwedenklee finden?«
»Schwedenklee, das bin ich.«
Lachend, mit übertriebenem Erstaunen trat der Gast einen Schritt zurück. »Sie? Verzeihen Sie, man sagte mir: ein älterer Herr! Es ist mir eine Ehre, mich Ihnen zu Füßen zu legen: Richard Pohl – nicht zu verwechseln mit dem berühmten Nord- oder Südpol gleichen Namens – Mitglied der Vereinigten Sommertheater in Hamburg.« Kräftig und zutraulich schüttelte er Schwedenklees Hand. »Also Sie sind es, dessen Güte die Himmel rühmen? Es ist mir eine hohe Freude!«
»Seit einigen Tagen bin ich hinter Ihnen her«, fuhr Pohl gesprächig und lebhaft fort. »Sie sehen eine Art Odysseus vor sich! Ja, in der Tat, es ist nicht leicht, Sie zu finden, Ehrwürdiger, und selbst hier im Ort hatte ich noch Mühe. Aber nicht Sie suche ich eigentlich, obschon es sich der Mühe lohnte, sondern eine Dame: Ellen Blank!«
Aus der weitschweifigen Erzählung erfuhr Schwedenklee, daß Pohl mit der Familie Blank schon seit der Dresdener Zeit bekannt war. Er war der Sohn eines Musikers der Dresdener Oper, und Blank war sein erster Lehrer gewesen. Zufällig hatte er in einer Fachzeitung von Blanks Tod gelesen. Er schrieb einen Brief an Ellen nach Berlin, bekam ihn aber als unbestellbar zurück, mit einem zweiten Brief erging es ihm ebenso. Sobald seine Tätigkeit es ihm erlaubte, fuhr er nach Berlin, um Ellens Spur aufzufinden, was ihm erst nach vieler Mühe gelang, nachdem er die Hilfe der Polizei in Anspruch genommen hatte. Ja, und nun also war er endlich hier, und er strahlte vor Freude und Genugtuung, sein Ziel erreicht zu haben.
Schwedenklee hörte ihm mit zerstreuter Miene zu. Ganz offen gestanden, zu keiner Zeit hätte ihm der Besuch ungelegener kommen können als gerade heute, an einem solch ungeheuer bedeutsamen Tage.
»Welcher Teufel führt ihn gerade heute hierher!« dachte er, während Pohl seiner Bewunderung über die herrliche Aussicht beredten Ausdruck verlieh. Diese Aussicht riß ihn derart hin, daß er Miene machte zu singen. »Gerade heute, da ich auf Ellens Bescheid warte und nicht weiß, was ich vor Ungeduld tun soll!« Die überschäumende Fröhlichkeit und heitere Natürlichkeit des Sängers – trotz seiner etwas erkünstelten Redeweise – söhnten ihn indessen rasch wieder aus. »Nun gut, er wird über Mittag bleiben, und am Abend sind wir ihn wieder los!«
»Einen kleinen Imbiß werden Sie wohl nicht abschlagen?« Immer wenn Schwedenklee in Verlegenheit war, bot er seinen Gästen zu essen oder zu trinken an.
Pohl aß mit vorzüglichem Appetit. Er hatte seit Tagen, während seiner Irrfahrt, nur sehr wenig zu sich genommen. Mit Genuß schlürfte er eine kleine Flasche Bordeaux.
Ellen war noch immer nicht zurückgekehrt.
Pohl wollte sie im Walde suchen, aber Schwedenklee machte ihm klar, daß der Wald tief und labyrinthisch sei und Ellen ihre geheimen Schleichpfade habe.
»Gut, so werden wir sie rufen!«
Schwedenklee lächelte.
Aber Pohl kümmerte sich nicht darum. Er trat einen Schritt vor, reckte sich in die Höhe und legte die Hände an die Wangen. Dann pumpte er die breite Brust voller Luft und schrie: »Ellen!« Schwedenklees Ohren gellten, der Ruf fuhr hell dahin, das Echo klang aus dem Walde. In der Ferne arbeiteten Landleute auf dem Felde, sie alle hoben die Köpfe.
»Sie werden sehen, es wird nicht lange dauern und wir haben sie hier. – Ellen!« Noch lauter hallte der Ruf. Die Luft schmetterte, der ganze Wald hallte. Laut und hell antwortete das Echo. Die Pferde, die in der Koppel grasten, blieben stehen und blickten neugierig herüber.
Das Sonderbare geschah: kurz nach Pohls drittem Rufe erschien etwas Gelbes zwischen den Büschen. Es war Strolly, hoch auf den Beinen stehend, den Kopf gehoben. Dann teilten sich die Brombeerstauden, und Ellen sprang auf den Acker. Ihr weißes Kleid flatterte im Winde.
Pohl rief und schwenkte die Arme. Ellens Haltung war ganz Staunen. Sie erkannte ihn nicht. Plötzlich aber stieß Ellen einen hohen Schrei aus und winkte und begann zu laufen. Wie der Wind flog der blonde junge Bursche ihr entgegen, und während er lief, lachte und rief er.
Schwedenklee kehrte, etwas übelgelaunt, zu seinem Terrassenbau zurück. Er wollte bei der Begrüßung nicht stören.
Ellen erschien bei ihm. Sie umschlang ihn freudig mit den Armen. »Ich habe Besuch bekommen!« rief sie, glühend vor Erregung. »Richard ist gekommen! Ich muß Augusta verständigen. Er hat Zeit bis zum Frühzug. Augusta muß ihm ihr Zimmer abtreten. Du bist doch einverstanden, daß er bei uns bleibt? Ich kenne Richard schon seit sieben Jahren.«
»Du bist ja die Herrin im Haus!« antwortete Schwedenklee schweißtriefend und strich etwas verlegen über ihre heiße Wange.
Ellen stürzte ins Haus.
Das Mittagessen verlief in ausgelassener Stimmung. Ellen konnte kaum einen Bissen über die Lippen bringen, so sehr mußte sie über Pohls Schnurren und seine drollige Ausdrucksweise lachen. Er hatte eine Anrede für Schwedenklee gefunden, die sie begeisterte! Er nannte Schwedenklee, etwas keck und zutraulich nach einer so kurzen Bekanntschaft: Don Philipp!
»Don Philipp! Wie herrlich der Name zu dir paßt!« lachte sie, indem sie sich an ihn schmiegte.
Nach Tisch legte sich Schwedenklee aufs Ohr. Er war noch müde vom gestrigen Abend. Nach einstündigem Schlaf erwachte er: in vorzüglicher Laune. Er war nunmehr direkt erfreut über Pohls Besuch! Seit vielen Wochen war er mit Ellen allein, ihre Gespräche waren etwas monoton geworden, viele Gesprächsstoffe nahezu erschöpft. Oft war es etwas sehr still auf Siebenbirken, nicht für ihn, o nein, er liebte die Ruhe, aber, wie er fand, für Ellen. Der Besuch regte sie an. Es war sehr wohltuend, daß ein Hauch der Umwelt in das Leben auf Siebenbirken strich.
»Don Philipp, Edler von Siebenbirken – Pauken und Tusch!« begrüßte ihn Pohl, der mit Ellen in der hellen Sonne auf einem Heuhaufen der gemähten Wiese saß. (Schon mußte Ellen wieder laut herauslachen!) »Habt die Gnade, das Programm entgegenzunehmen, das wir für Euch, um unsere Ergebenheit zu bezeigen, entworfen haben: Zuerst die olympischen Spiele, die sofort ihren Anfang nehmen. Sodann Festtafel bei Don Philipp mit königlichen Weinen. Hierauf Festvorstellung im Hoftheater Euer Durchlaucht: Figaros Hochzeit. Später Divertissements, Empfang, Defilé, Cour. Genehm? – Anfang! Don Philipp befiehlt den Beginn! Pagen heran! Zurück der Pöbel!«
»Ich starte,« fügte Pohl rasch hinzu, »nimm die Uhr, Ellen. Los!« Wie ein fliehender Hirsch umrundete er die Wiese. Nie in seinem Leben hatte Schwedenklee solch einen Läufer gesehen.
»Ellen Blank!« schrie Pohl. Und Ellen lief. Schwedenklee war ergriffen, als er sie laufen sah. Sie schleuderte die Knie, daß man ihre Wäsche sah. Ihr Haarschopf fiel herunter und sie steckte ihn im Laufen auf. Während sie lief, schrie sie aber ununterbrochen vor Vergnügen und Erregung.
Nun kam die Reihe an Schwedenklee. Er tat sein Bestes, um sich nicht zu blamieren. Blutrot und schwitzend kam er an.
»Don Philipp hat gewonnen!« entschied Pohl. Er behauptete allen Ernstes, daß Schwedenklee ihn um zwei Sekunden geschlagen habe, und überreichte ihm mit feierlicher Ansprache einen Birkenzweig.
Es ist eine Tatsache, daß Erwachsene viel kindischer sein können – in besonderen, seltenen Stunden – als Kinder, und es kann als Maßstab ihrer Unverdorbenheit und Güte gelten, wenn sie diese Fähigkeit noch besitzen.
Jedenfalls, je länger die olympischen Spiele währten, desto ausgelassener wurden die drei.
Pohl war unerschöpflich an Erfindungen. Es gab Läufe, Sprünge, Hüpfen auf einem Bein. Dann mußte man mit einer Hand an einem Aste hängen. Schwedenklee hing, bis er blau im Gesicht wurde. Er schlug alle Rekorde.
Zuletzt kam der Sprung in den Strohhaufen – vom Dache des Stalles aus, drei Meter tief. Pohl sprang im Hechtsprung, als spränge er ins Wasser. Ellen sprang mit festgehaltenen Kleidern, schreiend und lachend. Schwedenklee riskierte einen Purzelbaum. Kaum aber war er ins Stroh versunken, so spürte er, wie die beiden über ihn herfielen und ihn immer wieder mit Stroh bedeckten. Völlig außer Atem (und fast etwas böse!) wühlte er sich endlich heraus. Er war mit Strohhalmen gespickt und sah so komisch aus, daß Ellen laut herauslachen mußte.
Pohl kniete vor ihm. »Don Philipp, nehmet mein Haupt!«
Schwedenklee hatte seine gute Laune schon wiedergefunden.