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17

Die Türen zu Ellens Zimmer standen immer offen. Am Tage behütete sie Augusta und in der Nacht Schwedenklee. Er hatte die Schlösser von Ellens Türen abgeschraubt. Jede Nacht wachte er, lesend, rauchend, mit sich plaudernd, Gedanken hingegeben, bis er Augusta am Morgen in der Küche hörte.

Ellen genas rasch. Eines Tages saß sie in ihrem Bett aufrecht, die Wangen gerötet, wie in leichtem Fieber, das brünette lockere Haar, das einen Anflug ins Rötliche hatte, lässig um den zart, gleichsam zerbrechlich geformten Kopf geschlungen, und lächelte. Zum erstenmal sah Schwedenklee sie lächeln. Ihr Gesichtsausdruck war verändert. Ihr Auge verträumt, voller Glanz und Hoffnung.

»Schrauben Sie die Schlösser wieder an,« sagte sie klar und wach, »ich verspreche Ihnen –«

»Kann man Ihnen vertrauen?« fragte er lächelnd.

»Ja!« Sie nickte beschwörend. »Ich gebe Ihnen mein Wort.« Sie winkte ihn heran. »Jetzt erst verstehe ich Papa!« sagte sie, ihn ernst und groß anblickend, und berührte seine Hand mit leisen, zarten Fingern. »Er hat mir viel von Ihnen erzählt. Ein paarmal sagte er mir: wenn du irgendeinen Rat brauchst, man weiß ja nicht, wie es kommen kann – so gehe getrost zu Herrn Schwedenklee. Er ist gütiger als alle Menschen.«

Schwedenklee brachte keine Silbe über die Lippen. Er errötete und schlug rasch die Augen nieder.

»Jetzt erst verstehe ich Papa!« wiederholte Ellen nickend und zog sich mit leisen Händen an ihn heran. »Wie soll ich Ihnen danken?«

Schwedenklee lachte, um seine Verlegenheit zu verbergen.

»Sie können mir danken, Ellen, indem Sie mir vertrauen. Sprechen Sie mit mir, wie mit« – beinahe hätte er Vater gesagt – »wie mit einem Bruder. Verfügen Sie über mich und versprechen Sie, immer Vertrauen zu mir zu haben, was es auch sei.«

»Ich verspreche es Ihnen«, erwiderte Ellen mit einem ernsten, hellen Blick. »Ich war so unglücklich!« setzte sie flüsternd hinzu und drückte leise, kaum merklich, seine Hand, und er fühlte, daß ihre Finger zitterten.

Schwedenklee sagte nichts. Verwirrt und scheu verließ er ihr Zimmer.


Schwedenklee hatte über eine Woche das Haus nicht verlassen. Er sprach mit niemanden, er hütete sein Geheimnis! Natürlich war es nicht zu umgehen gewesen, daß er Nelly von den Ereignissen der letzten Wochen unterrichtete. Er hatte sie gebeten, ihn für einige Zeit zu entschuldigen – bis alles in Ordnung gebracht sei. Telephonisch hatte er ihr alle Einzelheiten erzählt – besonders den Selbstmordversuch Ellens hatte er ausführlich und mit allen Einzelheiten berichtet, obwohl er sich seiner Schwatzhaftigkeit schämte, noch während er am Telephon stand. Aber es war doch notwendig, Nelly zu überzeugen, daß er für einige Zeit ans Haus gebunden sei.

Nelly telephonierte täglich. Der Patient sei noch immer nicht recht in Ordnung. Er ermahnte sie, ihren Gesangsunterricht nicht zu vernachlässigen und den dramatischen Unterricht ja nicht zu unterbrechen. Er sei auch damit einverstanden, daß sie als dramatischen Lehrer doch Dunker nehme – ein ziemlich junger, hübscher Schauspieler, der wegen seiner Liebesabenteuer berühmt war.

Schwedenklee hatte keine Eile, Nelly zu sehen.

Eines Tages aber trat Nelly ohne jede telephonische Anmeldung bei ihm ein.

Sie erschien Schwedenklee fremd, sozusagen unbekannt. Er erblickte sie wie aus weiter Ferne – ihre Züge, ihre interessante Blässe und die turmartige Frisur, diese »schweren Flechten«, ließen ihn völlig unberührt.

Nelly verstand seinen Blick sofort: diese unverschämte Gleichgültigkeit eines erkaltenden Geliebten! Sie war außerordentlich freundlich, teilnahmsvoll.

»Es ist merkwürdig,« sagte sie, »du hast mir nie gesagt, daß du so intime Freunde hättest. Im Gegenteil, du klagtest ja immer, du habest keine Freunde!«

Sie hielt die Teetasse auf den Fingerspitzen, spielte die Dame auf Teebesuch.

Schwedenklee behandelte sie mit grausamer Höflichkeit. Er spielte den Herrn, der eine Dame auf Teebesuch bewirtet.

»Natürlich habe ich Freunde – von früher her. Wir alle haben Freunde nur von früher her, aus der Jugend. Es ist allerdings wahr, meine Freunde haben sich wenig um mich bekümmert, und es ist ebenso wahr, daß ich mich wenig um sie bekümmerte.«

Er sprang auf und reichte ihr Feuer für die Zigarette.

Sie dankte. »Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir so lebhaft zu Dunker geraten hast!«

»Ist er also doch tüchtig?«

»Oh!« Nelly lächelte sonderbar, indem sie die Augen zur Decke hob. »Er ist ein wirklich moderner Künstler! Aber er ist keck –!« Schwedenklee sagte nichts. »Er ist sehr keck. Er verfolgt mich unaufhörlich mit seinen Anträgen.«

»Aber du bist ja kein Kind mehr, Nelly!« Oh, wie gleichgültig klang hier Schwedenklees Stimme!

Welch bösen Blick sie ihm gab! Aber sofort lächelte sie wieder gleichmütig. »Ich sagte ihm: spielen Sie Theater auf der Bühne!«

»Sehr gut!« lobte Schwedenklee und lachte.

Pause. Nelly forschte in seinem Gesicht.

»Du bist gar nicht eifersüchtig?« Nelly lachte.

»Eifersüchtig? Ich kenne dich ja, Nelly!« sagte Schwedenklee im Tone unerschütterlichen Vertrauens.

Nelly kokettierte über die Teetasse.

»Vielleicht kennst du mich doch nicht? Er ist ein netter Junge! Erst fünfunddreißig.« Sie lächelte anmutig.

Schwedenklee ignorierte diesen impertinenten Angriff. Dabei war er überzeugt, daß Nelly sich gar nichts aus Dunker machte – es war ihm übrigens völlig gleichgültig.

»Er ist nett. Und was das Reizendste an ihm ist, er ist solch ein Kind. Er ist – trotz allem – ein kleiner Junge!«

»Wirklich?« Schwedenklee lachte anerkennend. »Gerade diese Naivität liebe ich bei Männern.«

Hier richtete sich Nelly in ihrem Sessel auf. Sie gab ihrem Kopf einen Ruck und schleuderte die Tasse auf den Teppich. Sie stand auf.

»Aber Nelly?« sagte Schwedenklee, scheinbar völlig erstaunt und gut gelaunt.

»Was zuviel ist, ist zuviel!« Nellys Brauen flogen in die Höhe.

»Aber ich bitte dich, Nelly!«

»Wenn du mich loshaben willst –«, schrie Nelly mit funkelnden Augen.

»Einen Augenblick ..« Schwedenklee schloß eine Türe.

»Ach so!« sagte Nelly, voller Hohn.

Schwedenklee wurde rot, seine Schläfe zuckte.

»Sie ist ein Mädchen«, sagte er beruhigend, aber seine Stimme zitterte etwas, im Gefühl der Befriedigung, ihren impertinenten Angriff von vorhin mit gleicher Impertinenz erwidert zu haben. »Sie soll sich erholen, und ich möchte jede Aufregung von ihr fernhalten.«

»Oh, welche Rücksichtnahme! Jede Aufregung von ihr fernhalten –!«

»Bitte, Nelly!« sagte Schwedenklee lächelnd, beschwichtigend.

Seine Ruhe und Gleichgültigkeit versetzten sie in Raserei. Ja, Schwedenklee war als Gegner nicht zu verachten, wenn es darauf ankam.

»Bitte, Nelly«, äffte sie ihm nach. »Ich möchte jede Aufregung von ihr fernhalten. Ja, ja! Halte mich nicht für so töricht ...«

Schwedenklee sandte ihr einen warnenden Blick zu. Er wußte – und er empfand es triumphierend –, daß sie jetzt verspielen würde.

»Du hast dich in ein kleines Mädchen verliebt, das ist alles«, schrie Nelly außer sich. »Und alles andere – das mit dem Freunde, mit der Doppelwaise, mit dem Selbstmordversuch, ist einfach eine dumme Komödie!«

Sie ist verloren, dachte Schwedenklee mit Befriedigung – und schon mit einem gewissen Mitleid.

»Nelly!« sagte er beruhigend, beschwörend. »Ich schwöre dir, alles ist Wahrheit. Du bist heute sehr erregt –«

Ja, Nelly war verloren. Sie schrie, sie verleumdete, beschimpfte. Sie tobte und verließ rasend das Haus.

Schwedenklee tat aufs tiefste gekränkt und machte keinen Versuch, sie zurückzurufen.

»Es ist sehr schade«, sagte Schwedenklee, als er allein war und sich mit zitternden Fingern eine Zigarette anzündete. »Es ist sehr schade, daß man mit Frauen nicht offen sprechen kann. Nun gut, daß es zu Ende ist! Fort mit ihr! Fort mit allen – ich will sie alle nicht mehr sehen – Gott sei Dank!«

Schwedenklee horchte an Ellens Türe. Kein Laut. Ellen hatte von der ganzen Szene nichts gehört.

Einige Wochen später aber sagte Ellen: »Es war einmal eine Dame bei Ihnen. Sie war sehr erregt. Ich möchte nicht irgendwie im Wege sein.«

»Aber Ellen! Wie können Sie so etwas denken. Sie sind zu jung, um das zu verstehen!«


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