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Als Schwedenklee am nächsten Morgen, etwas müde und abgespannt, in seinem breiten Himmelbett erwachte, fiel ihm augenblicklich ein, daß er Blank für heute zum Abendessen eingeladen hatte.
Was für ein Dummkopf bin ich doch, dachte er, unzufrieden mit sich selbst, immer diese alte Gutmütigkeit. Ich bin wütend über einen Menschen und doch kann ich es mir nicht versagen, den Liebenswürdigen zu spielen. Aber sofort erinnerte er sich auch, daß es ganz unmöglich war, Blank, der Begriffe wie Zeit und Nachtruhe nicht zu kennen schien, auf andere Weise zu verabschieden. Er hatte sich auch in der verflossenen Nacht hin und her überlegt, wie er Blank seine Hilfe anbieten könnte, aber keine Möglichkeit gefunden. Da war ihm der Einfall der Einladung gekommen.
Lieber Himmel, dachte er plötzlich erschreckend und setzte sich auf, wie mag dieser arme kranke Mensch in der Nacht nach Hause gekommen sein? Nach dem Osten. Ob er wohl, wie er ihm riet, eine Droschke genommen hatte? Aber vielleicht hatte er gar nicht das Geld dazu? Ich selbst hätte ihm eine Droschke holen und den Kutscher bezahlen sollen – aber dieser Einfall kam reichlich spät.
Etwas Gutes hatte die gestrige Begegnung auf jeden Fall. Schwedenklee fühlte sich erleichtert! Das »im Hintergrund lauernde Schicksal«, wie er sich ausdrückte, hatte sich entschleiert. Obgleich Schwedenklee eigentlich nicht an Gott, an ein zweites Leben, an Auferstehung, Seelenwanderung und derartige Dinge glaubte, glaubte er doch an mystische Einflüsse, an ein Fatum, das unheilvoll in das Leben eines Menschen eingreifen konnte. In den zwei letzten Jahren hatte er sich unsicher gefühlt. Es war ihm, als wäre er von heimtückischen Gefahren umlauert. Einer seiner Bekannten starb plötzlich am Herzschlag, und schon dachte er: wer weiß es, ob du morgen erwachen wirst? Zuweilen sah er sich alt und krank als Bettler auf der Straße stehen und der Wind blies eisig. Oder ein unheilbares Leiden befiel ihn, zum Beispiel Krebs. Ganz deutlich spürte er die fortwährende Drohung feindseliger Mächte, und nur so – nicht anders – läßt es sich erklären, daß die Briefe Blanks auf ihn einen solch ungeheuren Eindruck machten. Nun also kam es, heimtückisch schlich es näher, um ihn zu umstricken und zu vernichten! Deutlich witterte er die Vorboten eines bösen Schicksals, das seine Demütigung und Vernichtung beschlossen hatte.
An diesem Morgen atmete er seit vielen Wochen befreit auf, seine düsteren Grübeleien erschienen ihm unsinnig und albern. Seine Hilfsbereitschaft für Blank entsprang ebenfalls, ohne daß er sich dessen bewußt wurde, diesem Gefühl der Erleichterung und einer gewissen Dankbarkeit gegen das Schicksal, das sich ihm nicht ungnädig gezeigt hatte.
Werde ich ihm denn abgelegte Kleider geben können? dachte er. Vielleicht aber wird es ihn verletzen? Also Geld. Aber wieviel und in welcher Form?
Man könnte ihm auch einen Korb mit Früchten und guten Sachen schicken, eine Flasche Kognak dazu. Das war ein ausgezeichneter Einfall, und Schwedenklee beschloß, noch heute den Korb zurecht machen zu lassen.
Den ganzen Vormittag war Schwedenklee mit dem gestrigen Abenteuer beschäftigt. Blank hatte ihm, mit einer gewissen Schwatzhaftigkeit, im Laufe der Nacht sein Herz ausgeschüttet, er hatte ihm jede Einzelheit seines Lebens erzählt – und all das nur aus dem Grunde, weil er einige Wochen lang eine Liebschaft mit seiner Frau gehabt hatte! Notabene: noch bevor sie überhaupt seine Frau war ...
Schwedenklee konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er ging an den Schreibtisch und nahm – seine Hand zitterte etwas – das verblichene Bild aus dem Schubfach.
Bei Tageslicht war das Gesicht unter der Lupe etwas deutlicher zu erkennen. Lange, mit einer Art furchtsamer Neugierde, betrachtete er das Bild, und sonderbarerweise begann sein Herz stark zu klopfen, als wäre es frevelhaft, dieser Toten ins Gesicht zu sehen.
Je länger er das verblaßte Bild betrachtete, desto klarer formte es sich in seiner Phantasie, und plötzlich stand es, wie durch ein Wunder, lebendig vor ihm.
Ellen hatte Grübchen in den Wangen gehabt, auf der einen Wange war das Grübchen um ein geringes tiefer als auf der andern – das fiel ihm jetzt ein, obschon die Grübchen auf dem verblaßten Bild nur dann zu erkennen waren, wenn man wußte, daß sie existierten. Er erinnerte sich an ihre schönen weißen Zähne, die sich beim Lachen ganz entblößten, als lachten sie mit – und wie scharf waren diese Zähne gewesen! Er erinnerte sich an die Glätte ihrer Haut, die er nie wieder gefunden hatte bei einer Frau, an die Ebenmäßigkeit ihres zarten Körpers, die weiche Biegsamkeit ihrer schlanken Taille. Klar sah er in diesem Augenblick die Modellierung ihrer sanften Schultern vor sich.
Zartheit, Behutsamkeit, Stille und unendliche Sanftheit ging von dieser Frau aus. Ihr Schritt war still, die Berührung ihrer Hand leise. Schmiegte sie sich an ihn, so war es kaum zu fühlen, und doch war die Berührung unsagbar innig.
Ja, jetzt in dieser Sekunde fühlte er deutlich ihre zärtliche Liebkosung.
Sein Herz wurde schwer und er legte das Bild zurück. »Ein rührendes Wesen, in der Tat«, sagte er. »Vorbei – tot! Ja, das Leben ist eine höllische Einrichtung!«
Traurig das Schicksal dieser Frau, die das Leben so heiß geliebt hatte. Von Paris war sie in ein Sommerengagement nach Nürnberg gegangen. Daran erinnerte er sich noch deutlich. Sie hatten noch einige kurze Briefe gewechselt, bis die Korrespondenz plötzlich ohne jeden sichtbaren Grund einschlief. In Nürnberg hatte sie Blank kennengelernt, der sie – wie er selbst gesagt hatte – liebte, bevor er sie sah.
»Ich sah sie noch gar nicht. Die Tür ging auf – ihre Seele strömte vor ihr her. Wer kommt hier? dachte ich. Und ich liebte diese Frau, die im Begriffe stand, über die Schwelle zu treten, bevor ich sie überhaupt sah. Es ist mir heute noch rätselhaft!«
Blank sollte in Köln gastieren. Sie begleitete ihn. Er sang »um Rosa«. Er gefiel, zweijähriger Kontrakt, auch Ellen wurde engagiert. Sie heirateten auf Grund dieses Engagements. Drei Jahre hier, zwei Jahre dort, in kleineren und größeren Provinzstädten – ein Nomadendasein, fröhlich und heiter ertragen, obwohl voller Sorgen. Plötzlich aber ging es in die Höhe: München, Mannheim, endlich Dresden! Blank hatte den Gipfel erreicht. Das Dasein der beiden war ohne Sorgen – einen Pelzmantel mit Bärenkragen trug Blank, wie er sagte. Sie reisten im Sommer nach der Schweiz, ans Meer.
»Nie gab es wohl zwei glücklichere Menschen als uns beide! Ein Kreis prächtiger Freunde, immer Blumen in den Zimmern, und ein Heim, das widerhallte von der herrlichsten Musik! Der und der spielte Cello, der und der Geige, der und der den Flügel – erste Künstler, die in der ganzen Welt konzertierten. Berühmte Dirigenten aßen bei uns zu Abend. Und Rosa im Mittelpunkt, Rosa umschwärmt, bewundert, geliebt ...«
In Dresden aber holte Blank das Geschick ein. Eine Erkältung, wenig beachtet. Eine Wucherung an den Stimmbändern. Blanks Laufbahn als Sänger war besiegelt. Ellen dagegen spielte noch, sie erhielt ihn Jahre hindurch. Kuren, Ärzte. Der Niedergang begann. Schließlich erkrankte auch Ellen, die Lunge. Das war das Ende.
Furchtbarer Sturz in das tiefste Elend. Auch Blank wurde brustkrank.
»Wir liefen um die Wette nach dem Tode, Rosa und ich. Sie hat das Ziel zuerst erreicht, aber ich bin nicht weit hinter ihr.«
Gestorben an der Schwindsucht, zwei Menschen trugen sie zu Grabe ...
»Arme Ellen!« sagte Schwedenklee und legte das Bild zurück in das Schubfach.
Er war in solch melancholische Stimmung geraten, daß er, was selten vorkam, schon am Nachmittag das Stammcafé aufsuchte.
Hier saß er an einem kleinen Marmortisch und sah lustlos zu, wie der Rechtsanwalt Cohnstamm mit dem Polizeileutnant Hammerstein eine Cadrepartie auf dem Matchbillard ausfocht. Er war wortkarg und zerstreut, trank ohne Genuß seine Tasse Kaffee. Der Rechtsanwalt erbat seinen Rat bei einer schwierigen Stellung. Sprang Schwedenklee auf, wie es sonst seine Art war, um sein Licht leuchten zu lassen? Er zuckte gleichgültig die Achseln.
»Und zu denken, wie diese Ellen lachen konnte! Wie sie es verstand, auch das Nichtigste zu genießen! Und wie drollig sie sein konnte! Immer bereit zu einem übermütigen Streich!«
Der Oberkellner näherte sich, zutraulich: Es seien schon große Beträge auf Herrn Oberbaurat für heute abend gesetzt.
»Ich werde heute abend nicht spielen«, sagte Schwedenklee, mit Falten in der Stirn. »Ich habe Gäste zu Hause.«
Schon um einhalb acht Uhr begab sich Schwedenklee nach Hause. Er freute sich auf Blanks Besuch. Ja, er freute sich, ist es zu glauben?
»Und gestern zerbrach ich mir den Kopf, wie ich ihn loswerden könnte!«
Schwedenklee bekümmerte sich eigentlich nie um die Wirtschaft. Seine ganze Tätigkeit bestand darin, jeden Monat das Wirtschaftsbuch nachzuprüfen. Er nahm sich natürlich nie die Mühe, das Buch wirklich nachzusehen, da aber Augusta den Eindruck gewinnen solle, als ob er ganze Nächte hindurch rechne, so ließ er das Buch stets einige Tage liegen. Einmal half ihm der Zufall. Er addierte eine Seite, eigentlich aus Zerstreutheit, es stimmte nicht.
»Sie haben sich hier zu Ihren Ungunsten getäuscht, Augusta!«
Es war wirklich eine Fügung des Himmels, geschehen vor drei Jahren. Seit dieser Zeit öffnete Schwedenklee dieses furchtbare Wirtschaftsbuch überhaupt nicht mehr.
Seine Anordnungen pflegte Schwedenklee in lakonischer Kürze zu erteilen, häufig schrieb er sie auch auf einen Zettel. Ja, er liebte Scherereien nicht, Schwedenklee. Es ging wunderbar.
Auf den heutigen Abend aber hatte er Augusta besonders hingewiesen. Es war seine Absicht, Blank mit der größten Sorgfalt zu bewirten. Dieser arme Teufel sollte noch einmal eine Freude haben in seinem Leben ...
Das Unglaubliche geschah. Schwedenklee inspizierte das Speisezimmer. Augusta hatte sich wirklich Mühe gegeben. Man konnte jedermann empfangen, einen Fürsten, wenn es sein mußte.
»Und wie war das eigentlich, auf dem Atelierfest von Ellens Freundin, der schwedischen Bildhauerin, wie hieß sie doch – sagen wir: Fräulein Svenska?« fragte sich Schwedenklee, als er, in der Bibliothek auf und ab gehend, auf Blank wartete.
Es war da jemand, der die Mundharmonika spielte, und man saß, da nicht genug Stühle da waren, auf dem Boden – nicht wahr? Es war ein Kostümfest!
Mein Gott, was konnte man doch damals alles machen. Man drehte den Rock um, band sich ein Taschentuch um den Hals: schon war man ein Apache!
Es war eine ungeheure Hitze in dem Atelier, ganz richtig. Man trank schwedischen Punsch, und schon nach dem ersten Glas änderte sich der Glanz von Ellens Augen.
Ja, jetzt fiel es ihm ein: Sie, Ellen, führte ihn in einen Winkel neben eine der mit nassen Tüchern verhängten Tonbüsten und schlang die Arme zart und weich um seinen Hals. »Dich werde ich ewig lieben!« flüsterte sie.
Da ertönte die Klingel: Blank!
Schwedenklee spürte noch Ellens weiche Arme, ihre Stimme flüsterte dicht an seinem Ohr, als Blank eintrat.
Er errötete, als er Blank die Hand reichte.