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23

Sterne, das Rauschen der Bäume, der laue Wind haucht, das Gras flüstert unter den Büschen, eine Eule schreit schwingend in der Finsternis. Die Dunkelheit berauscht, die Seele ist trunken von der Stille.

Unfaßbar war Schwedenklee diese wundervolle, weiche Dunkelheit, die in den Städten ausgestorben ist, vertrieben vom elektrisch glühenden Kohlenfaden. Jeden Abend überraschte sie ihn aufs neue. Unfaßbar die Stille. Unfaßbar die Sterne, die auf ihn herabstürzten, wenn er das Auge zum Firmament hob. Matter Glanz lag auf dem Meere, ein feiner roter Lichtfunke glitt irgendwo in die Weite.

Wie ein Verzauberter, sich selbst fremd, wanderte Schwedenklee in der Dunkelheit hin und her, sobald Ellen sich zurückgezogen hatte. Beglückt hörte er zuweilen ihre Stimme in die Stille dringen. Sie sprach mit dem Hunde, der in ihrem Zimmer schlief. Ellen schloß die Läden ihres Zimmers nicht, wenn sie sich entkleidete. Diese Reinheit rührte ihn, und er hütete sich wohl, ihrem Fenster zu nahe zu kommen. Nur aus der Ferne, durch die Büsche hindurch, wagte er zuweilen einen kurzen Blick: ihre Arme ordneten die Haare, sie schritt im Nachtgewand zur Kerze, spitzte den Mund und blies das Licht aus. Ihr schönes mädchenhaftes Profil blieb noch lange in der Dunkelheit haften, zuletzt verschwand der kindlich gespitzte Mund.

Schwedenklee setzte sich auf die Treppe des Hauses. Hingegeben, voller Andacht atmete er Stille und Dunkelheit ein. Zu denken, daß es Menschen gab, die in dieser Stunde in rauchigen Kaffeehäusern saßen und schmutzige Karten mischten! Zu denken, daß er vor Jahren gerade vor dieser Dunkelheit und Stille die Flucht ergriffen hatte! Unvorstellbar der Gedanke, daß er einmal wieder in diese Höllenstadt zurückkehren würde.

In der Tat, war sein Leben bisher nicht leer, sinnlos? Welche Freudlosigkeit, Nüchternheit, Betäubung, Unrast, Lärm, Flucht vor sich selbst.

Wunderbare Wendung, die sein Leben genommen hatte! Deutlich erkannte er die Hand eines wohlwollenden Schicksals.

Schwedenklee blickte in die Dunkelheit und überließ sich seinen Empfindungen. Schon fühlte er die Schwere nicht mehr, schon schien er zu schweben, schon schien er zu segeln auf den Fittichen der Nacht.


Mitten in einer lauten Nacht – die Zweige peitschten gegen das Fenster und der Vollmond flog rasend dahin – erwachte Schwedenklee plötzlich, von einem Gedanken gepeinigt. Dieser Gedanke quälte ihn so sehr, daß sein Herz schmerzte. Es war ein Gedanke, den er in all den Wochen verscheucht hatte, so oft er sich nahte.

Er erhob sich, in Schweiß gebadet, warf den seidenen Schlafrock über und ging in dem schattigen, von Lichtschwertern durchzuckten Zimmer hin und her, immer hin und her.

»Und wenn sie doch mein Kind wäre?« flüsterte er. Da! Nun war er ausgesprochen, der Gedanke!

Schwedenklee taumelte, so stark erschütterte ihn der Gedanke.

Die arme Ellen, sie war damals von Paris nach Nürnberg gefahren und hatte dort schon in den ersten Tagen Blank kennengelernt. Blank hatte sich sofort in sie verliebt und sie hatten – nach anfänglichem Zögern Ellens – geheiratet. Anfangs Januar des nächsten Jahres war die kleine Ellen geboren worden.

Soweit die Tatsachen – gänzlich unverfänglich, wie man zugeben wird, von dem verhältnismäßig frühen Termin der Geburt des Kindes abgesehen. Ja, wann zum Beispiel hatte Ellen Fröhlich Paris verlassen? April, März, früher? Ja, mein Gott, man lebte damals in den Tag hinein – wer dachte an solch abenteuerliche Möglichkeiten?

Nein, der Termin der Geburt war ohne Bedeutung. Leidenschaftlich und rasch ist die Jugend, hatte er nicht selbst in dieser Hinsicht genug Erfahrungen gesammelt?

Aber Schwedenklee erinnerte sich noch heute deutlich an eine Andeutung im ersten Brief, den Ellen Fröhlich von Nürnberg aus schrieb, eine Andeutung, die ihm sofort die Hitze ins Gesicht getrieben hatte. Er hatte diese Andeutung ignoriert, und in den folgenden Briefen war nicht mehr die Rede davon gewesen. Später hatte er sich seiner Feigheit geschämt, und gerade aus diesem Grunde erwachte ein leichtes, nicht abzuschüttelndes Gefühl der Scham in ihm im Augenblick, da die Erinnerung an Ellen Fröhlich unerwartet in ihm geweckt wurde. Es war natürlich auch möglich, daß er diese Andeutung, jene dunkel klingende Bemerkung, völlig mißverstanden hatte?

Und doch, um ehrlich zu sein, augenblicklich hatte er sich an diese seltsame Andeutung erinnert, als Blank ihm seinerzeit schrieb: vielleicht habe ich Ihnen Mitteilungen zu machen, die Sie interessieren könnten!

Es gab aber ein weiteres gewichtiges Argument: Weshalb hatte Blank, der ihm alle Einzelheiten seines Lebens anvertraute, nie mit einer Silbe erwähnt, daß er eine Tochter besaß? Ja, weshalb, bei allen Göttern?

Schwedenklees Herz blieb stehen. Der Schweiß brach erneut aus seiner Stirn.

Ja, war es nicht das allersonderbarste, daß Blank nie von seiner Tochter sprach? Wie?

War es – mehr noch! – nicht auffallend, daß Blank kurz vor seinem Tode alle Papiere, die er besaß, vernichtete?

»Es steht fest,« resümierte Schwedenklee, zitternd vor Erregung, »Ellen ist deine Tochter! Ich will es dir beweisen!«

Nehmen wir es einmal an: sofort ist Blanks sonderbares Benehmen, sind all seine Worte und Anspielungen sonnenklar.

Ellen Fröhlich trug dein Kind unter dem Herzen, als sie von Paris kam. Sie machte eine Andeutung, sie war überzeugt, du würdest auf diese Anspielung hin sofort zu ihr eilen. Blank berichtete ja, daß sie dich bestimmt erwartete. Du ignoriertest die Andeutung, du kamst nicht. Sie haßte dich! Ließ sie dir nicht bestellen: Sage ihm, daß ich ihm nicht mehr grolle! Grolle? Oh, ja, nun wurde es klar. Blank liebte sie rasend, er nahm das Kind als sein Kind entgegen. Das war das Geheimnis ihrer Ehe! Aus welchem anderen Grunde solltest du zwanzig Jahre hindurch in dieser Ehe diese wichtige Rolle gespielt haben? Weshalb vergaß man dich nicht? Nun, sehr einfach, weil man dich nicht vergessen konnte! Das Kind ...

Als Ellen fühlte, daß ihre Kräfte zu Ende gingen, war es da angesichts der wirtschaftlichen Not nicht naheliegend, daß die beiden im Interesse des Kindes beschlossen, das Geheimnis preiszugeben? Blank sollte zu dir kommen, dich sprechen, dir das Geheimnis enthüllen. Aber du wolltest ihn nicht empfangen – er war gezwungen, Anspielungen zu machen, die dich stutzig machen sollten. Ja, ja – so ist es und nicht anders!

Er kam zu dir – aber im Augenblick, da er dich sah, war es ihm gänzlich unmöglich, aus rasender Liebe für das Kind, aus rasender Eifersucht, die entscheidenden Worte zu sprechen. Aus diesem Grunde sprach er nie von seiner Tochter ...

Es ist ja nur selbstverständlich: wäre mit der jungen Ellen nicht ein Geheimnis verknüpft, so würde Blank in der ersten Stunde zu allererst nur von ihr erzählt haben ...

»Alles, alles erklärt sich!«

Schwedenklee schwankte durch das Zimmer. »Ja,« sagte er zu sich, inbrünstig, bis zu Tränen erregt, »ohne jeden Zweifel – sie ist dein Kind! Und morgen werde ich es ihr sagen. Von morgen an werden unsere Beziehungen einen anderen Charakter tragen.«

Schon aber blieb Schwedenklee verwirrt stehen. Obwohl es heiß im Zimmer war, zitterte er vor Frost. Nein, das, gerade das war ja gänzlich unmöglich!

»Oder werde ich es ihr lieber nicht sagen –?« flüsterte er, aufs äußerste erregt.

»Oder werde ich es ihr nie sagen?«

»Aber selbst: wenn ich es ihr sagen würde, wie würde ich sie überzeugen können?«

»Nie würde ich sie überzeugen können! Sie wird mich für einen Betrüger halten. Sie wird mich hassen, weil ich das Andenken ihrer Eltern schmähe ...«

Schwedenklee trat an das Fenster und blickte lange, ratlos, verquält, zum rasend fliehenden hellblinkenden Mond empor. Dann tauchte er wieder in das warme Dunkel des Zimmers zurück.

»Es ist ja alles Unsinn!« dachte er und nahm die Wanderung wieder auf. »Völliger Unsinn! Sie ist nicht dein Kind!«

»Nein, nun werde ich es dir beweisen! Die Sache ist ja so einfach, wenn man sie ruhig betrachtet, und alles andere sind leere Spekulationen.«

Ellen Fröhlich war lange leidend. Sie lebte wie alle schwer Leidenden, fast ausschließlich in der Erinnerung. Ihre Erlebnisse, wie die der meisten Frauen, einfach, klar und nicht chaotisch, ließen sich leicht überblicken, und so konnte sie nicht umhin, an das Erlebnis in Paris zu denken. Sie fand das verblaßte Bild. Vielleicht sagte sie zu Blank: bring es ihm, wenn ich einmal nicht mehr bin, grüße ihn von mir. Ich grolle ihm nicht mehr – weil er mich damals so schwer enttäuschte ...

Blank konnte auch recht gut ganz von selbst auf den Gedanken gekommen sein! Verlassen, arm, krank, suchte er Anlehnung, Stütze. Nichts wäre verständlicher. Der Gedanke an die Zukunft seines Kindes marterte ihn. Mit dem Starrsinn eines Verzweifelten klammerte er sich an dich. Vielleicht, sicher, hatte ihm auch seine Frau nahegelegt, daß in der letzten Not du dich wohl als Freund erweisen würdest.

Ich reagierte nicht auf seine Briefe. Er machte bedeutsam klingende Anspielungen, um meine Neugierde zu reizen – Anspielungen, die er augenblicklich widerrief, als er seine Absicht, mich kennenzulernen, erreicht hatte.

Während er harmlos zu plaudern versuchte, während er zu lächeln versuchte, marterte ihn vielleicht der Gedanke: kann man diesem da – wenn es zum Äußersten kommen sollte –, kann man diesem da, diesem Schwedenklee, das Kind anvertrauen? Wird er nicht, teilnahmslos und gleichgültig, die Bitte eines Unglücklichen verhallen lassen?

Nun schien auch plötzlich die Bemerkung Sinn zu bekommen, die er machte, als er nach dem Abendessen in der Droschke fortrollte: einmal werden Sie vielleicht begreifen, welche Bedeutung es für mich hat, Sie näher kennengelernt zu haben.

Weshalb aber sprach er nicht von Ellen? Aus Scheu, aus Scham – aus letzter Scham ...

»So und nicht anders ist die Sache«, wiederholte Schwedenklee, »und alles andere sind nervöse Konstruktionen –«

»Und ein Argument gibt es, wichtiger als alle, unwiderlegbar!«

»Nehmen wir an, Ellen wäre deine Tochter – hätte der sterbende Blank, der ja noch die Kraft hatte, dir zu schreiben, hätte er in dieser furchtbaren Stunde nicht die Wahrheit bekannt? Schon um sicher zu sein, daß du Ellen gut aufnehmen würdest?«

»Mit dem Tod vor Augen – nein, nein, ganz unmöglich!«

»Sie ist natürlich nicht deine Tochter!« rief Schwedenklee beglückt aus.

Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Die Erregung hatte ihn völlig erschöpft.

»Wie albern die Menschen doch sind!« dachte er befreit und leicht. »Wie albern! Mit welchem Unsinn sie sich die Köpfe angefüllt haben! Es ist ja schließlich höchst einerlei, ob sie nun mein Kind ist oder nicht. Das wesentliche ist ja doch, daß sie bei mir ist! Sie ist mein, sie wird mein sein, sie wird meine Geliebte, meine Frau sein – ja, selbst wenn ich es wüßte, daß sie mein Kind ist! Ich werde glücklich sein. Was kümmert mich schließlich alles andere?«

Schon graute der Tag. Abgezehrt, verhärmt sank der Mond, eine blasse, zerfressene Scheibe, in den Morgennebel, der aus den Feldern stieg. Ein früher Vogel schrie geisterhaft.

Spät am Morgen erwachte Schwedenklee. Als er sich ankleidete und durchs Fenster blickte, sah er Ellen hoch oben auf einem Wagen herrlich gehobelter Bretter sitzen, der so eben von einem Gespann starker Bauernpferde in den Hof gezogen wurde. Es war der Fußboden des Anbaues. Sie lachte mit dem Kutscher. Strolly, der Hund, tanzte wie rasend vor den Nasen der Pferde. Ellen erblickte ihn am Fenster, und ihr zarter Arm winkte, während die Sonne auf ihren Wangen funkelte.

Verflüchtigt waren die Nachtgespenster.


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