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Schwedenklee hatte schon manches erlebt. Nicht ohne weiteres wird man fünfundvierzig Jahre alt! Einmal, zum Beispiel, war in einer hellen, heißen Sommernacht ein Herr auf ihn zugetreten und hatte in liebenswürdigstem Ton gefragt, ob er die Ehre habe, mit Herrn Schwedenklee zu sprechen? Schwedenklee aber hatte kaum bejaht, als der Liebenswürdige schon den Stock gegen ihn schwang. Es stellte sich heraus, daß er der Gatte einer schönen Frau war, mit der Schwedenklee zuweilen im Bristol Tee trank. Damals war es zu einer regelrechten Schlägerei gekommen, und der Eifersüchtige brachte sogar die Passanten gegen ihn auf. Erst als Schwedenklee heilige Eide schwor, daß die bewußte Beziehung völlig platonisch sei, war der Rasende ruhiger geworden. Die schöne Frau hatte ganz einfach gelogen, um ihren Gatten bis aufs Blut zu reizen. Immerhin, Geständnis und Eide in der Bedrängnis waren so peinlich, daß Schwedenklee den Auftritt als einen dunkeln Schatten in seinen Erinnerungen empfand.
Ja, schon mancherlei hatte er erlebt, Herr Schwedenklee – nie aber hatte er sich in einer Situation befunden, die peinlicher und unbehaglicher war.
Die unverständlichen Briefe Blanks schossen ihm wirr durch den Kopf, auch sein brutaler Rohrpostbrief, der ihm im Augenblick noch weitaus brutaler erschien, auch jene alberne, pathetische Phrase: »Die Toten greifen nach dir!«
Und hier unten also, dieser Grauhaarige, der sich demütig verbeugte und vor Erregung kaum stammeln konnte, das war also Ellens Gatte – der ihn aus unerklärlichen Gründen zu sprechen wünschte ...
Schwedenklee hatte das Gefühl, langsam in den Boden zu sinken. Es schien ihm später, wenn er an diese unbehagliche Szene dachte, als habe er für Sekunden das Bewußtsein verloren gehabt. Er glaubte sich auch zu erinnern, wie seltsame Ahnungen, daß diese Begegnung ungeheure Bedeutung für sein Leben gewinnen sollte, ihn erfüllten und erschreckten. Jedenfalls empfand er deutlich die Ungewöhnlichkeit dieser nächtlichen Begegnung, anders wäre sein Verhalten nicht zu erklären.
Verlegen und unschlüssig starrte Schwedenklee auf die hagere Gestalt, die unter ihm stand. Vor kaum fünf Minuten – sonderbar genug! – hatte er sich der Erinnerung an Ellen hingegeben. Er konnte Blanks Gesicht nur sehen, wenn ein schwankender Zweig das Licht des Mondes durchließ. Gleich verlegen und hilflos starrten Blanks dunkle Augen aus dem bleichen Gesicht zu ihm empor.
Schwedenklees Empfindungen waren Chaos. Er wollte die Türe wütend ins Schloß werfen, wollte seiner Empörung, daß Blank es wagte, ihn zu verfolgen, unverblümt Ausdruck geben – aber er tat nichts dergleichen.
Im Gegenteil! »Herr Blank?« sagte er nach einer Weile, mit einer unsicheren und unterwürfigen Stimme, deren er sich später schämte, und einer verstümmelten Verbeugung.
»Sie haben mir geschrieben, Herr Blank?« fuhr er fort, nur um das unerträgliche Schweigen zu unterbrechen.
Blank antwortete mit einer Verbeugung. Er erwiderte nichts.
Ratlos stand Schwedenklee auf der Treppe. Nacht ringsum, kein Mensch auf der Straße. Und ohne Unterbrechung fühlte er Blanks Blick auf sich gerichtet. Schwedenklee trat wieder etwas mehr in das Haustor zurück.
»Vielleicht erklären Sie mir –«, begann er von neuem.
Endlich bewegte sich Blank.
»Ich handle unter einem geheiligten Willen«, begann er leise, mit heiserer Stimme, aber doch verständlich, ja sogar etwas deklamatorisch, wie Schauspieler es häufig zu tun pflegen. Schwedenklee sah deutlich, daß er hin und her schwankte und nach Atem rang.
»Ich bitte um Verzeihung! Ich persönlich würde es ja nie gewagt haben.«
Die Hand Blanks fuhr in die Rocktasche, er zog einen hellen Briefumschlag heraus.
»Hier«, sagte er, sehr leise. »Ich bitte.« Und er streckte Schwedenklee mit flatternder Hand den Briefumschlag hin. »Die Tote hat mich beauftragt.«
Schon streckte Schwedenklee die Hand aus, aber er zog sie sofort wieder erschrocken zurück. Eine tödliche Kälte strömte ihm von diesem Briefumschlag entgegen. Und Schwedenklee sammelte sich zu einem letzten Widerstand. Jene gewisse Brutalität, die, meist schlummernd, einen Teil seines Wesens bildete, erwachte plötzlich und formte seine Gedanken zu einer letzten Abwehr.
»Mein Herr! Sie besaßen die Kühnheit, mir eine Anzahl von Briefen zu schreiben, obgleich Sie mir völlig unbekannt sind. Sie verfolgen mich und sind unverfroren genug, mich vor meinem Hause zu überfallen! Ihre Unverschämtheit überschreitet alle Grenzen. Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe mit Ihrem Brief, lassen Sie mich überhaupt zufrieden. Scheren Sie sich zum Teufel!«
Das also war es, was Schwedenklee dieser zitternden, hageren Gestalt, die demütig vor ihm stand, entgegenschrie, in äußerster Empörung. Aber was geschah? Blank wagte es, die Treppe emporzusteigen – und Schwedenklee selbst war es, der ihm höflich das Tor öffnete – Blank verbeugte sich mit großer Förmlichkeit und trat ein.
Schwedenklee hatte diese Ansprache ja nur in Gedanken gehalten. In Wirklichkeit aber hatte er höflich, ergeben in sein Schicksal, wie sein wahres Wesen es ihm befahl, Blank gebeten einzutreten.
So geschah es, daß der unheimliche Gast, die »Erscheinung«, wie Schwedenklee in seiner ersten Verwirrung gedacht hatte, zur großen Verwunderung Schwedenklees sich ins Haus tastete.
»Nun wohl,« dachte Schwedenklee, als er das Licht in der Diele andrehte, halb benommen im Kopf, »es muß wohl so sein. Irgend etwas Merkwürdiges, Unabwendbares ist hier im Spiel. Im übrigen vergessen wir nicht, daß dieser arme Teufel Ellens Gatte ist. Nun, wir werden ja sehen, komme, was kommen soll ...«
Ein fadendünner Überzieher mit einem abgeschabten lächerlich schmalen Pelzkragen und zu kurzen Ärmeln, ein schmales, fast schönes, wachsfahles Gesicht, von hundert kleinen Fältchen zerknittert wie Papier, mit einer hohen, mächtigen Stirn, die graue Haarsträhnen umflatterten, mit bläulichen Lippen und fiebrisch glänzenden, dunkeln, aber gutartigen, ja gütigen Augen – so sah die Erscheinung aus, als Schwedenklee sie bei Licht besah. Ein ins Elend geratener, vergrämter Künstler mit der Miene fatalistischer Hoffnungslosigkeit – sein erster, obwohl flüchtiger und unbewußter Eindruck war völlig richtig gewesen. Vielmehr noch: ein körperlich und seelisch vollkommen Erschöpfter, der in dem überheizten Zimmer von heftigen Hustenanfällen geschüttelt wurde, während er mit heiserer, bescheidener Stimme Entschuldigungen stammelte.
Schwedenklee betrachtete das Abenteuer schon mit ruhigeren Augen. Die Erscheinung hatte gänzlich ihre Unheimlichkeit eingebüßt – ein Kranker, ein Hilfsbedürftiger, das war alles, was von ihr geblieben war. Ja, schon empfand Schwedenklee, der brutale Schwedenklee, der Leute, die ihn störten, zum Teufel schickte, Mitleid mit seinem Gast.
Wie hatte Blank seinerzeit geschrieben? »Mein krankes Gehirn.« Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, war manches nicht mehr ganz in Ordnung bei ihm. Er erweckte ohne Zweifel den Eindruck, besonders diese leuchtenden gütigen Augen! Wir werden sehen, höflich, freundlich, um ihn nicht zu erregen, und dann wird sich ja alles weitere von selbst finden.
Schwedenklee setzte also eine alltägliche, freundliche Miene auf, als sei überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen.
»Ich bitte doch abzulegen, Herr Blank!« sagte er mit großer Liebenswürdigkeit.
Blank schälte sich, verwirrt und zerstreut um sich blickend, aus dem fadenscheinigen Überzieher. Sein Anzug war so jämmerlich, daß Schwedenklee sich betroffen abwandte.
»Ich werde ihm helfen!« dachte er nun schon. »Ich habe ja genug alte Kleider, Herrgott noch einmal!«
»Mein Benehmen –,« stammelte Blank, während er zu einem Sessel schwankte, »mein Benehmen muß aufdringlich und unverständlich erscheinen. Eine abscheuliche Rolle, die ich nie in meinem Leben spielte – die ich verabscheue ...«
»Ich bitte, Herr Blank.«
Blank erhob sich wieder aus dem Sessel und tastete nach Schwedenklees Hand. »Jedenfalls Dank, daß Sie mich nicht abweisen, Herr Schwedenklee!« sagte er mit einem heißen Blick der dunklen Augen. »Allein das teuerste Wesen, das ich besaß, eine Tote, befiehlt und ich gehorche!«
»Eine Zigarre vielleicht?« Wollte er doch aufhören, von Toten zu sprechen, dachte Schwedenklee, um Gottes willen!
»Nein, unmöglich – mein Husten –«
Schwedenklee war bestrebt, die Peinlichkeit der Situation, die noch immer, wenn auch gemildert, bestand, durch eine zerstreute Geschäftigkeit zu verwischen.
Blank saß im Sessel, die Hände auf die Lehne gelegt, und versuchte, ein Zittern, das seinen kranken Körper ohne Aufhören durchlief, zu verbergen. Wie sein Gesicht waren auch die Hände von hundert Fältchen zerknittert, wie weiches Papier. Sie waren lang, wachsfahl und peinlich gepflegt.
»Ich zittere noch immer!« begann Blank, seine Schwäche verspottend. »Aber Sie ahnen ja nicht, welche Angst ich hatte, als ich Ihnen folgte«, fuhr er flüsternd, bekennend fort. »Kaum, daß mich die Füße trugen. Schon gestern, vorgestern folgte ich Ihnen, aber ich wagte es nicht. Gestern wollte ich Ihren Namen rufen, aber die Stimme versagte. In der letzten Nacht nun mahnte mich ein Gesicht« – er hielt inne, als erwarte er, daß Schwedenklee etwas sagen werde, aber Schwedenklee sagte nichts –, »ich legte ein Gelübde ab, und so wagte ich es heute, obschon die Furcht mich fast tötete. Nie werde ich wissen, woher ich den Mut nahm –«
»Ich bitte Sie, sich nicht zu erregen, Herr Blank,« entgegnete Schwedenklee, »vielleicht würde ein Gläschen Wein Sie beruhigen?« Hastig war Schwedenklee bemüht, den Gast von dem unheimlichen Thema abzulenken. Ohne jede Frage, eine sehr peinliche Geschichte! Aber es würde sich ja wohl nach einiger Zeit Gelegenheit bieten, den Gast hinauszukomplimentieren.
Blank errötete flüchtig, als er die zitternde Hand nach dem Glase ausstreckte. Sein Handgelenk war von einer erschreckenden Magerkeit, wie Schwedenklee es noch nie beobachtet hatte. Langsam und bedächtig schlürfte Blank den Wein, der ihn augenblicklich zu erfrischen schien. Das Zittern seines Körpers ließ nach, ruhig glitt sein Blick durch Schwedenklees Bibliothek.
»Was für ein herrlicher Raum«, sagte er, indem er mehrmals nickte und die Lippe hob, als versuche er zu lächeln. »Ich verstehe wohl, daß Sie das Unglück meiden.«
Schwedenklee wurde blutrot vor Scham.
»Ich verstehe wohl, daß Sie die Armut meiden.«
»Verzeihen Sie ...«, stammelte Schwedenklee.
»Ich verstehe alles so gut. Ich bin ja selbst nicht anders gewesen – früher!«
»Ich bin, wenn ich offen sein darf,« verteidigte sich Schwedenklee, etwas stotternd, »aus Ihren Briefen nicht recht klug geworden. Zuerst glaubte ich überhaupt an ein Mißverständnis. Ich dachte – dazu war ich sehr überarbeitet in dieser Zeit.«
Blank nickte und hob abwehrend die Hand.
»Meine Briefe waren wohl sehr verwirrt? Heute noch bin ich nicht imstande, einen Gedanken zu Ende zu denken. Ich verstehe Sie jetzt, heute vollkommen, Herr Schwedenklee! Vielleicht dachten Sie sogar, ein Bettler – oder noch schlimmer: ein Erpresser ...«
»Aber nein!« Schwedenklee lachte verlegen. »Wie können Sie so etwas denken. Ich wüßte nicht« – endlich kam Schwedenklee der rettende Einfall –, »ich ahnte ja nicht – Sie schrieben mir erst ganz zuletzt, welche Geborene Ihre Frau Gemahlin war.«
»Ich nahm in meiner Verwirrung, meinem Schmerze an, jeder Mensch müsse es wissen! Ich glaubte auch, es schon geschrieben zu haben. Habe ich es nicht in der ersten Mitteilung geschrieben?«
»Ich bitte Sie, sich jedenfalls in meine Lage versetzen zu wollen, Herr Blank.«
Blank schüttelte den Kopf und hob beide Hände beschwichtigend empor.
»Kein Wort mehr, ich bitte Sie herzlich. Wer hier um Verzeihung zu bitten hat, das bin ich und nicht Sie!« sagte er mit einer Verbeugung. Zum erstenmal, seit er das Zimmer betreten hatte, blickte er Schwedenklee ins Gesicht. »Sie erinnern sich nicht mehr, daß wir uns schon einmal trafen?« begann er nach einem langen, wie es Schwedenklee schien, forschenden Blick, mit etwas veränderter, leichterer Stimme.
»Wir?« Schwedenklees Blick wurde unsicher. Nun wird sich das Geheimnis enthüllen, dachte er voller Spannung und sofort wieder erregt.
»Ja, ich hatte schon einmal die Ehre – vor vielen Jahren. Vor etwa zwanzig Jahren.«
»Zwanzig –?« rief Schwedenklee erschrocken aus, als sei so etwas gänzlich unmöglich.
»Ja, vor mehr als zwanzig Jahren.«
»Mehr als zwanzig!«
»Ja, es war in München. Erinnern Sie sich an den Maler Pfitzner?«
»Pfitzner? Aber natürlich. Ein guter alter Freund!«
»Pfitzner hatte damals seinen ersten Porträtauftrag erhalten und gab seinen Freunden ein Atelierfest, das drei Tage und drei Nächte dauern sollte. Aber schon am ersten Abend gab es Zwistigkeiten. Einer der Gäste war auf Pfitzner eifersüchtig geworden, es kam nahezu zu Tätlichkeiten –«
»Richtig, nun dämmert es in mir! Aber Sie, Herr Blank – ich muß offen gestehen ...«
»Vielleicht entsinnen Sie sich noch, daß einer der Gäste sang?«
»Ein junger Mann, jawohl.«
»Er sang den Prolog von ‚Bajazzo‘.«
»Ja! Deutlich erinnere ich mich. Der Sänger stand dicht in meiner Nähe, ich höre heute noch, in diesem Augenblick, seine prächtige, kernige Stimme. – Aber es ist doch wohl nicht möglich, Herr Blank, daß Sie ...?« rief Schwedenklee mit naivem Erstaunen aus und sprang auf.
Blank nickte. »Doch, ich war dieser Sänger!« sagte er errötend, und die Heiserkeit seiner Stimme drückte tiefste Traurigkeit aus.
Sofort sah Schwedenklee ein, daß er eine ganz unbegreifliche Taktlosigkeit begangen hatte. »Ist es möglich,« rief er hastig aus, »vor zwanzig Jahren, sogar mehr als zwanzig Jahren, sagen Sie? Um Gottes willen, wohin sind diese zwanzig Jahre nur gekommen? Ja, wunderbar haben Sie damals gesungen – es ist volle Wahrheit, was ich Ihnen sage, all die Jahre habe ich den Klang Ihrer Stimme im Ohr behalten. Merkwürdig, und Sie erinnern sich meiner noch? Das finde ich erstaunlich.«
»Ich erinnere mich noch ganz deutlich an Sie. Sie haben sich nicht sehr verändert.«
»Nicht sehr?«
»Sie sind etwas voller geworden und etwas breiter. Ich habe Sie auch sofort wiedererkannt, als ich Sie vor Wochen auf der Straße sah.«
»Als Sie mich auf der Straße sahen?«
»Ja, vor Ihrem Hause«, gestand Blank errötend.
»Ich erinnerte mich ganz besonders an Sie, weil Sie auf Pfitzners Atelierfest eine Theorie vortrugen, die mich lange und oft beschäftigte.«
»Ich – eine Theorie, sagen Sie?«
»Ja, Sie erklärten, es sei an der Zeit, eine über den Staaten stehende Republik der freien Geister und Künstler zu gründen.«
»Ich hätte –?« Schwedenklee war äußerst erstaunt.
»Ja, Sie führten diesen Gedanken bis ins einzelne aus und wir hörten voller Interesse zu. Sie sprachen sehr ketzerische und revolutionäre Gedanken aus, und wir waren um so mehr erstaunt, als Sie ja aus Norddeutschland kamen.«
Schwedenklee füllte die Gläser. »Sonderbare Einfälle hat man in der Jugend!« rief er lachend aus. »Ja, ganz verrückte Gedanken!«
»Sie gingen bald darauf nach Paris. Als ich Pfitzner wieder eines Tages im Atelier besuchte, sagte er mir: Schwedenklee ist nach Paris gegangen, um seine überstaatliche Republik der freien Geister und Künstler zu gründen.«
Hier lachte Schwedenklee laut und belustigt auf.
»Im nächsten Jahre wurde ich nach Nürnberg engagiert«, fuhr Blank fort, und seine Stimme veränderte sich wieder. »Und hier war es, wo ich Rosa Fröhlich traf«, schloß er leise.
»Ja, sie ging damals nach Nürnberg, ich entsinne mich«, warf Schwedenklee etwas unsicher ein. Er war plötzlich rot geworden.
»Ich kam mit ihr ins Gespräch und sie sagte mir gleich, daß sie aus Paris käme. Aus Paris? Haben Sie vielleicht zufällig einen Bekannten von mir, einen Architekten Schwedenklee getroffen? – Nie werde ich Rosas verblüfftes, ja entgeistertes Gesicht vergessen ...«
»Ist das Leben nicht sonderbar?«
»Ohne daß Sie es ahnten, haben Sie, Herr Schwedenklee, rasch unsere Freundschaft vermittelt.«
»Welch merkwürdige Zufälle es gibt!«
»So also begann es. Mit Ihrem Namen!« sagte Blank leise und nickte vor sich hin. »So also begann es!« wiederholte er, die Stimme von Trauer überschattet.
Sein Blick verlor sich ins Unbestimmte. Er bewegte die dünnen blutleeren Lippen und feuchtete sie mit der Zunge an. Er schien noch um einen Grad bleicher geworden zu sein.
Schwedenklee erhob sich und bewegte sich lautlos über die Teppiche. Diese ganze Erde sei in der Tat nichts als ein großes Bauerndorf! Und er erzählte hastig und mit halblauter Stimme einige ähnliche Erlebnisse, die ihm begegnet waren und seine Ansicht bestätigten, daß die Erde nichts als ein Bauerndorf sei. Blank antwortete nicht, er schien gar nicht zuzuhören.
Mit aller Umständlichkeit machte sich Schwedenklee eine Zigarre zurecht. Wieder bewegte er sich lautlos über die Teppiche. »Und was ist eigentlich aus Pfitzner geworden?« Er blieb stehen.
Aber Blank hörte ihn gar nicht. Er saß, den verschleierten Blick ins Ungewisse verloren. Er hatte vergessen, wo er war, wandelte in einer fernen, unbegreiflichen Welt. Ein wundes Lächeln spielte um seine Lippen. Die schmalen gepflegten Hände lagen regungslos auf den Lehnen des Sessels, sie zitterten nicht mehr, nur sein gebeugter Oberkörper schwankte leise hin und her.
Verstohlen blickte Schwedenklee auf die Uhr. Da erwachte Blank aus seiner tiefen Versunkenheit. Er atmete tief auf und blickte sich verstört um.
»Verzeihung«, sagte er und schüttelte sich, als friere er.
Schwedenklee streckte sich in den Sessel.
»Und nun, Herr Blank,« begann er mit einer Stimme, die seinen Gast ermutigen sollte, »Sie hatten mir etwas mitzuteilen?«
Blank erschrak heftig. Die nervöse Hand zuckte, seine dunkeln Augen weiteten sich.
»Mitzuteilen –?« stammelte er, anscheinend tief betroffen.
Schwedenklees Miene, der etwas leichtfertige und gutmütige Gesichtsausdruck, versuchte ihn zu beruhigen.
»Ja«, sagte Schwedenklee, sich lächelnd vorbeugend. »Sie schrieben mir in einem Ihrer Briefe, Sie hätten mir Mitteilungen zu machen, die für mich unter Umständen von Interesse sein könnten.«
»Schrieb ich das?« Blank erhob sich erregt, ließ sich aber sofort wieder in den Sessel fallen. »Nein, nein, mein Herr,« fuhr er hastig fort, zuweilen errötend, »was ich zu tun habe, ist, Sie tausendfältig um Entschuldigung zu bitten, das ist alles. Ich befinde mich in einem Zustande der Verwirrung, der Verzweiflung – ja, des, Sie verzeihen, es klingt wie Pose, des Irrsinns. Ich muß um Nachsicht bitten. Ich weiß nicht mehr, was ich in diesen furchtbaren Wochen sagte oder schrieb. Verzeihen Sie mir. Aber, mitzuteilen? Nein, bei Gott, nein! Ich habe Ihnen nichts mitzuteilen.« Rote fieberische Flecke erschienen unter den Augen des fahlen Gesichts.
Blank war in großer, ganz unbegreiflicher Erregung. Aber allmählich beruhigte er sich.
»Was ich Ihnen gerne sagen möchte, wenn Sie noch eine Minute Geduld mit mir haben wollen,« fuhr er mit ruhigerer, feierlicher Stimme fort, »ist dies –« Er holte tief Atem und senkte den Blick zu Boden. »Meine Gattin, deren Verlust mich nahezu um meine Sinne gebracht hat, sagte mir wenige Stunden vor dem Tode: Gehe zu Schwedenklee und grüße ihn von mir. Sage ihm, daß ich ihm nicht mehr grolle.«
»Nicht mehr grolle –?« Schwedenklee horchte auf.
»Ja, so sagte sie. Vielleicht aber habe ich auch die Worte verwirrt. Sage ihm, daß ich ihm stets gut war und noch heute gut bin –«
Hier wurde Schwedenklee plötzlich ergriffen.
»Sagte sie das wirklich?« flüsterte er.
»Ja, und sie beauftragte mich, Ihnen dies Bild zu bringen. Es würde Sie freuen, dachte sie. Eine Erinnerung aus der Pariser Zeit.« Blank schlug sich an die Stirn. »Ja, dieses Bild, das war ja die Ursache meines Besuches! Schon habe ich es wieder vergessen, ich sitze hier und plaudere –«
Blank erhob sich und tastete nervös die Taschen des Überrocks ab.
»Mein Himmel, ich werde es doch nicht draußen verloren haben!« rief er in äußerstem Schrecken. »Nein, hier, gottlob, hier ist es. Das ist ja der eigentliche Grund, weshalb ich Sie aufsuchte.«
Eine verblaßte Photographie, in Paris aufgenommen – seinerzeit. In irgendeiner übermütigen Stunde.
Eine zierliche Dame, in einem großen Hut – das Gesicht kaum erkenntlich. Daneben er, Schwedenklee, zwanzig Jahre jünger, mit einem flotten kleinen Schnurrbart. Schwedenklee zerbrach sich den Kopf, wo das Bild aufgenommen sein konnte. Er erinnerte sich nicht mehr.
Er trat unter die Lampe und nahm eine Lupe vom Schreibtisch.
Nun erkannte er die Züge der jungen Dame wieder, die in all den vielen Jahren nur selten, flüchtig und verblaßt in seiner Erinnerung wieder auflebten. Ein wehmütiges Gefühl überkam ihn – daß diese herrliche Jugendzeit vorbei war für immer.
»Ellen Fröhlich!« sagte er vor sich hin.
»Sie hatte zwei Namen«, warf Blank mit verletzter, fremder Stimme ein. »Da Sie sie Ellen genannt hatten, wählte ich ihren anderen Namen. Ellen für Sie, Rosa für mich!«
Schwedenklee blickte ihn verständnislos an.