Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Blank hatte sich in große Gala geworfen. Er trug unter dem fadendünnen Überzieher mit dem abgeschabten Pelzkragen einen grauen, dünnen Gehrock, einen schlechtgebügelten Kragen, eine alte flotte graue Binde. Die Knöpfe der altmodischen Weste waren aus Glas und einer fehlte. Seine Hände waren gepflegt, wie gestern, die Manschetten ausgefranst, aber peinlich sauber.
»Wie glücklich ich bin!« rief er mit seiner heiseren Stimme etwas theatralisch aus und drückte Schwedenklee die beiden Hände, mit einer Herzlichkeit, die Schwedenklee in Verlegenheit brachte.
»Ich freue mich, daß Sie heute viel wohler aussehen«, erwiderte Schwedenklee, der das Bedürfnis empfand, seinem Gaste seinerseits etwas Angenehmes zu sagen. In der Tat, die Leichenblässe, die Blank gestern zeigte, schien heute etwas gemildert.
»Wohler?« Blank lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich lag den ganzen Tag mit Fieber zu Bett.«
»Und Sie haben nicht einfach angerufen?«
»Dieses bißchen Fieber sollte mich abhalten? Bei meinem Gesundheitszustand ist es ja völlig einerlei, ob ich mich schone oder nicht. Könnten Sie auch nur ahnen, wie ich mich auf das Zusammensein mit Ihnen freute!«
Beim Anblick der gedeckten Tafel blieb Blank vor Erstaunen auf der Schwelle stehen.
»Ist es möglich?« rief er aus.
Augusta hatte sogar einen Strauß Maiglöckchen in die Mitte des Tisches gestellt. Das helle Speisezimmer war von einem herrlichen Duft erfüllt.
»Ist es möglich? Für mich diese Mühe! Nie werde ich Ihnen das vergessen.« Und wieder drückte er Schwedenklees beide Hände, während er bemüht war, seine Ergriffenheit zu verbergen. Lebhaft fuhr er fort: »Ich weiß ja wohl, daß Sie ein Künstler im Arrangement von Festen sind! Rosa erzählte mir, daß Sie ihr einst in Paris – Himmel, daß ich Sie nicht belauschen konnte! – ein Abendessen gaben, mit Dutzenden von Kerzen, deren Glanz sich in geschickt aufgestellten Spiegeln verhundertfachte. Vielleicht erinnern Sie sich noch? Ja, Sie erinnern sich – ich sehe es –«
»Sonderbar, gerade dieser Tage –«
»Verzeihen Sie mir, ich sehe, daß es Ihnen nicht angenehm ist, an vergangene Zeiten erinnert zu werden. Ich muß Sie um Nachsicht bitten, wenn ich im Laufe des Abends dann und wann auf das Vergangene zurückkomme. Ich fürchte, ich kann nicht anders, denn gerade die Qual, die ich bei jeder Erinnerung empfinde, ist mir eine Wollust. Ich darf Ihnen wohl sagen, daß Rosa mir alles aus ihrem Leben erzählte, jede Einzelheit. Ich bitte auch, obschon es unnötig genug erscheint, erklären zu dürfen, daß nicht das geringste Arg gegen Sie in meinem Herzen ist. Wie sollte es auch? Einmal war ich ja sehr eifersüchtig auf Sie« – Blank lächelte schmerzlich – »furchtbar eifersüchtig, ich gestehe es Ihnen offen. Ich haßte Sie, Sie ahnen nicht, wie ich Sie haßte.« Blank errötete und seine dunkeln Augen glühten – allein bei der Erinnerung an diesen Haß.
»Ich begreife nicht, weshalb haßten Sie mich?«
»So wahnsinnig hatte mich die Eifersucht gemacht. Ich hatte natürlich nicht den geringsten Grund. Nun, es ist lange her – zwanzig Jahre. Heute empfinde ich für Sie nur Freundschaft und Zuneigung, ohne zu erwarten, daß Sie meine Gefühle erwidern. Darf ich dieses Glas auf Ihre Gesundheit leeren?«
Mit einem tiefen, wunderbar warmen Blick der dunkeln Augen und einem schönen Lächeln des verwüsteten Gesichts hob Blank das Glas ins Licht.
»Wenn jemand hier Ursache hätte, böse zu sein,« fuhr er mit großer Lebhaftigkeit, leise lächelnd, fort, »so wären ja wohl Sie es!«
»Ich? Aber, ich bitte –«
»Gewiß, Sie! Denn ich war es ja, der Ihnen diese wundervolle Frau entfremdete – in einer Zeit, da sie noch sehr an Ihnen hing.«
Schwedenklee hob verwundert den Blick vom Teller. »Noch an mir hing?« fragte er, errötend und geschmeichelt.
»Ja! Es war nicht so einfach, wie es heute aussieht ...«
»Nicht so einfach?«
»Nein, ganz im Gegenteil – es war sehr schwer!«
»Reden wir nicht mehr davon«, brummte Schwedenklee.
Nichts mehr von der Peinlichkeit des gestrigen Abends. Man plauderte wie alte Bekannte. Blank, dessen krankhafte Erregung gestern Schwedenklee folterte, war heute viel ruhiger und beherrschter. Er zeigte sich als ein Mann von den besten gesellschaftlichen Formen, wenn er auch seine weltmännischen Allüren etwas zu stark betonte. Schwedenklee liebte es nicht, bei Tisch viel zu reden, er antwortete nur träge und zerstreut. Blank dagegen sprach mit großer Lebhaftigkeit, die Rede, begleitet von lebhaften Gesten, schien ihm eine wahre Wohltat zu sein. Seine Wangen färbten sich, seine Augen sprühten. Er fühlte sich wohl, er fühlte sich fast wie zu Hause, nach dem zweiten Glas nannte er Schwedenklee, der zuweilen seine Sicherheit verlor, sogar manchmal »lieber Freund«. Ja, dann und wann hatte Schwedenklee den Eindruck, als spielte Blank den Überlegenen.
Augusta hatte sich in der Tat alle Mühe gegeben und ein vorzügliches Menü zusammengestellt. Sie servierte aber schmollend. Sobald sie Blank erblickt hatte – sie starrte förmlich auf die ausgefransten Manschetten – hatte sie nur verächtliche Bewegungen. Jede Geste von ihr sagte: und wegen dieses Bettlers lassen Sie mich den ganzen Tag herumrennen?
»Eine Flasche Selters, Augusta«, sagte Schwedenklee mit einer gewissen rügenden Schärfe, und Augusta zog brummend ab.
Trotz des vorzüglichen Menüs und des herrlichen Weins fühlte sich Schwedenklee nicht recht behaglich, ja vorübergehend war er sogar den Anwandlungen einer schlechten Laune unterworfen. Die Lebhaftigkeit Blanks störte ihn. Er hätte Blank gerne – so albern es ihm selbst vorkam – bescheidener und demütiger gesehen. Nein, von den ausgefransten Manschetten wollte er natürlich nicht sprechen, aber daß Blank, den er gestern von der Straße aufgelesen hatte, den er aus purer Gutmütigkeit zum Essen eingeladen hatte, ihn »lieber Freund« nannte – war das ganz in Ordnung? Mit einem gewissen Neid prüfte er zuweilen mit verstohlenen Blicken Blanks Erscheinung. Ohne Zweifel mußte er vor Jahren von großer, ja seltener Schönheit gewesen sein. Noch jetzt wirkte sein großgeformter Musikerkopf imposant. In dem bleichen, zerknitterten Gesicht glühte ein Paar wundervoller Augen. Was für Augen habe ich dagegen? dachte Schwedenklee. Diese dunkeln Augen schienen das einzig Lebendige – Überlebende – in dem wachsfahlen Gesicht zu sein. Sie waren Feuer, Gedanke, Seele, Jugend, sie waren dreißigjährig, das Gesicht fünfzig-, hundertjährig, wenn man will.
So oft Schwedenklee von einer dieser Anwandlungen schlechter Laune ergriffen wurde, verbarg er sie hinter ausgesuchtester Höflichkeit: »Bitte zuzugreifen – bitte sich zu bedienen!«
»Ich sehe, ich ermüde Sie mit meinem Redestrom«, rief Blank aus. »Ich muß auch in dieser Hinsicht um Ihre Nachsicht bitten. Seit Jahren habe ich fast nie mehr mit einem gebildeten Menschen gesprochen. Sie ahnen nicht, welcher Genuß für mich Ihre Gesellschaft ist. Bedenken Sie, diese Menschen, mit denen ich noch zusammenkomme – oh, mein Gott, welches Niveau! Sie, mein verehrter Freund, der es wagte, einen Bettler ins Haus zu laden ...«
»Jeder Mensch kann einmal eine unglückliche Periode –« murmelte Schwedenklee.
»Einen Bettler, sage ich, was bin ich sonst? Sie verkehren mit einem vom Unglück Gezeichneten auf gleich und gleich – unterbrechen Sie mich nicht – wer tut das noch? Es ist das Alleraußergewöhnlichste in der heutigen Gesellschaft! Sie bewirten einen Mann, der gewissermaßen an einem Wendepunkt Ihres Lebens als Ihr Rivale auftrat. Wie gut Rosa Sie doch kannte! Sie kennen keine Vorurteile, keine kleinlichen Gefühle.«
»Ich bitte!« stammelte Schwedenklee, aufs tiefste beschämt. Nichts ist ja peinlicher, dachte er, als derartige Lobeshymnen anhören zu müssen. Mein Himmel, diese liebe Ellen, was für Vorstellungen sie wohl von mir gehabt haben mag!
»Dieses Glas dem Gedächtnis Rosas!« sagte Blank feierlich nach dem dritten Glase und ließ den Wein im Licht funkeln. Obschon den Tod im Antlitz, sah er schön aus in diesem Augenblick. Später, wenn Schwedenklee sich an den Abend erinnerte, sah er Blank immer in dieser Geste vor sich.
Schwedenklee tat ihm Bescheid.
Aber Blank erhob sich vom Sitze, und so konnte auch Schwedenklee, dem jede Exaltiertheit ein Greuel war, nicht sitzenbleiben. Wenn er nur diese theatralischen Manieren sein ließe, dachte er, tief unglücklich.
Lange verharrte Blank in Schweigen und Versunkenheit. Aber seine Augen, ohne Blick auf einen Stich an der Wand gerichtet, leuchteten verklärt.
Augusta servierte mit verdrossener Miene den Nachtisch.
Plötzlich fühlte Schwedenklee Blanks Auge auf sich gerichtet. Er hob die Lider und begegnete einem forschenden, sonderbar und befremdend forschenden, grübelnden, bohrenden Blick, dessen Ausdruck sich indessen augenblicklich änderte.
»Ich dachte eben –« begann Blank mit sonderbar leiser, heiserer, zerstreuter Stimme.
»Sie dachten –?«
»Ja.« Blank sammelte sich. »Ich dachte: wie merkwürdig es ist, daß wir beiden hier beisammensitzen.«
»Was ist daran so merkwürdig?« sagte Schwedenklee, schon etwas gelangweilt. Was kümmerte ihn schließlich dieser Blank, was kümmerte ihn schließlich diese Ellen? Nichts, letzten Endes gar nichts. Er fing an, die Einladung zu bereuen.
»Merkwürdig ist natürlich ein falscher und völlig unzulänglicher Ausdruck«, fuhr Blank mit leiser Stimme fort. »Dieser Augenblick bedeutet mehr! Er ist erhaben, nichts anderes als erhaben! Wir drei – geeint – in diesem Augenblick!«
»Wir drei? Geeint?«
»Ja!« Blanks Augen weiteten sich. »Nur uns beide, Sie und mich, hat diese wunderbare Frau in ihrem Leben geliebt. Hier sitzen wir beide nun – und sie – sie ist bei uns! Und sie ist glücklich!«
Es entstand eine Pause.
»Glauben Sie denn an diese Dinge?« fragte Schwedenklee dann betroffen und etwas bleich.
»Ob ich daran glaube? Es ist für mich Gewißheit, daß sie in diesem Augenblick gegenwärtig ist. Ich empfinde es deutlich. Ein Strom von Glück durchrinnt mich. Sie segnet uns aus einer unbegreiflichen, vollkommeneren Welt.«
Schwedenklee schüttelte den Kopf.
»Der Gedanke wäre unerträglich, daß Verstorbene uns beobachten.« Er erhob sich sogar vor Erregung.
»Weshalb unerträglich?« Blank lächelte voller Nachsicht.
»Ja, unerträglich!« wiederholte Schwedenklee an Stelle einer Antwort und sah gereizt aus. Er ist doch wahnsinnig, dachte er, ganz im geheimen.
Blank schwieg und versank in Gedanken. »Sie war ein Genie der Liebe«, hub er nach langer Pause, als spräche er für sich, von neuem an. »Stellen Sie sich eine Pflanze vor, die täglich neue Blüten treibt, immer schönere, immer herrlichere Blüten – so war sie! Sie konnte lieben, wie nie ein Mensch liebte! Die Liebe machte sie genial, schöpferisch. Denken Sie, sie wachte eine ganze Nacht, saß aufrecht neben mir und sagte am Morgen: ich wollte dich eine ganze Nacht lang atmen hören! Denken Sie: Rosa war eine leidenschaftliche Raucherin. Sie rauchte zwanzig bis dreißig Zigaretten am Tage. Wenn ich aber verreiste, auf ein Gastspiel, und sie konnte nicht mitkommen – all die zwanzig Jahre waren wir zusammengerechnet nicht vier Wochen voneinander getrennt! – so rauchte sie nicht. Das sind natürlich nur geringfügige Beispiele, schlecht gewählt dazu. Tausende solcher Züge könnte ich Ihnen berichten. Sie war ein unerschöpfliches Wunder. Nein, mein verehrter Freund, Sie haben sie nicht gekannt! – Gottlob, sage ich,« fügte er mit einem eigentümlichen, verletzenden Lächeln hinzu, »denn sonst wären Sie seinerzeit nicht eine Stunde länger in Paris geblieben. Nicht eine Minute!« Triumphierend rief Blank dies plötzlich mit seiner heiseren Stimme Schwedenklee ins Gesicht.
Schon keimte ein sonderbares Gefühl des Neides in Schwedenklee auf. Und Unmut über das Betragen seines Gastes. Man soll mit Leuten vom Theater nichts zu tun haben, dachte er. Diese Pathetik, diese Theatralik, die Bühne verdirbt den Menschen! Er wurde dunkelrot im Gesicht.
Blank entging diese Veränderung Schwedenklees völlig.
»Rosa erwartete Sie damals!« fuhr er geheimnisvoll und erregt fort. »Ich sagte Ihnen ja, in der ersten Minute – unvergeßlicher Augenblick! – fiel Ihr Name. Ihr Name war es ja, der rasch eine Verbindung zwischen uns herstellte, erst später begriff ich es. ‚Schwedenklee,‘ sagte sie, ‚oh, Sie kennen ihn? Er wird wohl in den nächsten Tagen ebenfalls hier sein!‘«
»Sie glaubte also, daß ich kommen würde?«
»Sie äußerte diesen Gedanken wiederholt. Aber Sie kamen nicht. Vierzehn Tage lang wurden Sie erwartet. Dann sprach sie nicht mehr davon. Aber ich fühlte deutlich, daß sie litt.«
»Litt?«
»Ja. Ich – ohne Besinnung vor Eifersucht – fühlte es allzu deutlich.«
»Ich hatte seinerzeit – bestimmte Studien hielten mich in Paris fest –«
Spöttisch war Blanks Blick. »Ich zitterte – ich spreche offen – jeden Tag, daß Schwedenklee eintreffen könne. Aber Schwedenklee kam nicht!«
»Nein!« warf Schwedenklee mit schwankendem Blick ein. »Er kam nicht!«
»Und da fühlte ich – beruhigt, daß Sie Rosa in Wahrheit nicht liebten. Sie waren ja unabhängig, Sie konnten reisen –«
»Ich? Wieso? Woraus schließen Sie, daß ich Rosa oder Ellen nicht liebte?« Schwedenklee setzte sich zur Wehr.
»Weil Sie nicht kamen!« triumphierte Blank.
»Das sagt nichts«, knurrte Schwedenklee.
»Doch, es sagt alles!« ereiferte sich Blank, unter dessen Augen rote Flecke erschienen, in großer Erregung. »Sie hätten kommen müssen!«
»Aber Sie sehen ja, daß ich nicht kam!« rief Schwedenklee, ebenfalls außerordentlich erregt.
»Ja!« Blank lehnte sich triumphierend zurück. Sein Auge funkelte. »In der Tat, Sie kamen nicht! Sie waren leichtsinnig, Sie ahnten gar nicht die Bedeutung dieser Tage! Sie ahnten gar nicht, daß es um das Glück Ihres Lebens, um Ihr Lebensglück ging –«
»Sie werden mir mehr und mehr unverständlich, Herr Blank«, entgegnete Schwedenklee und zog die Brauen hoch.
»Wieso? Aber ich bin ja der einzige, der ermessen kann, was Sie weggegeben, was Sie verschwendet, was Sie achtlos fortgeworfen haben. Ich! Ich allein! Zwanzig Jahre Glück – wissen Sie, was das bedeutet?« rief Blank triumphierend aus. »Verstehen Sie, was zwanzig Jahre Glück bedeutet? Als Rosa starb, küßte ich sie, und ich fühlte, wie sie versuchte, mich wiederzuküssen, obschon sie halb bewußtlos war. Ich küßte sie, als sie schon erkaltete. Das ist das Glück von zwanzig Jahren! Verstehen Sie? Ich küßte sie in den Tod. Und wenn ich sterbe – bald! – so werde ich ihr meine Küsse entgegensenden! Das ist das Glück von zwanzig Jahren. So steht es also. Sie sind reich – ich bin ein Bettler und weiß nicht, wovon ich morgen leben soll. Und doch: ich würde für nichts mit Ihnen tauschen, für nichts!«
Hier wurde Schwedenklee wirklich böse.
»Schweigen Sie doch endlich!« schrie er, indem er aufsprang, rot vor Zorn.
Blank, der sich in der Erregung ebenfalls erhoben hatte, taumelte, wie von einem Schlage getroffen, zurück. Er rang nach Atem. Dann streckte er Schwedenklee flehend die mageren Hände entgegen, er rang diese Hände, daß die Finger knackten.
»Verzeihen Sie mir!« schrie er. »Ich weiß nicht, was ich tue!« Er war einer Ohnmacht nahe. »Ein Glas Wasser!« stammelte er, und Schwedenklee sah, daß sich ganz plötzlich Blanks von hundert Fältchen zerknitterte Stirn mit unzähligen kleinen Schweißperlen bedeckt hatte.
Mit zitternden Händen griff er nach dem Glas Wasser. Sein Blick war scheu, Vergebung heischend. Der Blick eines Menschen, der Jahre hindurch sich demütigen mußte – oh, wie abscheulich!
Ja, grausam und unerbittlich sind die Menschen. Ein Mensch mit 39 Grad Fieber kommt zu ihnen – trotz dem Fieber! Sie sind gerührt. Aber wenn der Fiebernde sich nicht wie ein normaler Mensch benimmt, gleich verwünschen sie ihn.
Als man bei Kaffee und Likören in der Bibliothek saß, hatte Blank sich vollkommen wiedergefunden. Man plauderte über Theater, Oper, Bühnenkünstler, Dirigenten, und Blank wußte anregend zu erzählen. Der Name Rosa-Ellen fiel nicht mehr.
Schließlich erhob sich Blank und ging an den Flügel.
»Einmal noch wollen wir es versuchen!« sagte er, und seine langen blassen Finger glitten scheu und zögernd, als fehle ihm der richtige Mut, über die Tasten.
Großer Ernst war über sein weißes Antlitz gebreitet. Er sang. Eine italienische Romanze, schwermütig, mit Anläufen der Hoffnung, zuweilen geheuchelt heiter. Schwedenklee verstand nicht ganz den Text.
Blanks Stimme klang anfangs heiser und kraftlos, bald aber leuchteten einzelne Töne klar und hell auf, und schließlich floß die Stimme groß und gleichmäßig dahin. Mit Inbrunst, erschüttert sang Blank, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Welch herrliche Stimme er gehabt haben muß, dachte Schwedenklee, der sich bedrückt in eine Ecke zurückgezogen hatte.
Da machte ein hartnäckiger Hustenanfall Blanks Gesang ein Ende. Er führte das Taschentuch an die Lippen.
Entmutigt und still erhob sich Blank, den Blick zu Boden gerichtet.
Er reichte Schwedenklee die Hand.
»Leben Sie nun wohl, Herr Schwedenklee, und Dank für diesen Abend!« sagte er und wandte die glänzenden Augen Schwedenklee zu.
Auch Schwedenklee griff nach dem Hut.
»Ich bitte dringend, sich nicht bemühen zu wollen.«
»Ich habe das Bedürfnis, noch ein paar Schritte zu gehen.«
Schweigend gingen sie die dunkle Straße hinab.
»Wie lau die Luft ist,« sagte Schwedenklee, sich verlegen räuspernd, »es wäre Zeit, daß der Frühling endlich käme.«
»Es wäre wirklich Zeit!« antwortete Blank in Gedanken.
Endlich faßte sich Schwedenklee ein Herz. Er begann damit, wie erfreut er wäre, ihn, Blank, näher kennengelernt zu haben. Wie gesagt, er hoffe, daß sein Gesundheitszustand sich bald bessere. Nun wisse er ja wohl, daß es ihm zur Zeit schwierig sei, seinem Körper jene Pflege angedeihen zu lassen, wie es geboten sei. – Kurz und gut, Schwedenklee nahm einen Brief aus der Tasche.
Blank hatte argwöhnisch auf Schwedenklees Rede gelauscht und fuhr nun entsetzt zurück. »Nie, nie werde ich unser freundschaftliches Verhältnis beflecken«, rief er mit großer Geste aus.
»Aber gerade, wenn Sie das Wort Freundschaft gebrauchen –«
»Nie, niemals.«
Schwedenklee hatte wie gewöhnlich in seiner Unbeholfenheit nicht die richtige Form gefunden. In der letzten Minute, er wollte den Brief schon entmutigt einstecken, fielen ihm die rechten Worte ein. Er sprach davon, daß man einem Freunde die Erlaubnis einräumen müsse, in besonderen Fällen ein bescheidenes Darlehen –.
Blank schien zu schwanken.
»Wenn ich Ihr großherziges Anerbieten annehme, so geschieht es aus Gründen, die ich Ihnen nicht auseinandersetzen kann!« sagte er dann mit einem tiefen, langen Blick und nahm den Brief unter Dankesversicherungen in Empfang.
»Sobald ich in der Lage sein werde ...«
»Keine, nicht die geringste Eile!«
Es gelang schließlich Schwedenklee sogar, Blank in eine Droschke zu stopfen, deren Kutscher er entlohnte.
»Und wenn Sie einmal einen freien Abend haben, Herr Blank?«
»Ich werde Ihre Güte nicht mißbrauchen. Dank und leben Sie wohl – für immer!« rief Blank. Und dann, schon in der Droschke, fügte er noch einige Worte hinzu, denen Schwedenklee an diesem Abend keinerlei Bedeutung beimaß. Er sagte: »Ich bin glücklich, Sie näher kennengelernt zu haben. Wie wichtig das für mich ist, werden Sie vielleicht einmal erfassen.« Aber, wie gesagt, Schwedenklee beachtete diese Worte an diesem Abend kaum.
Blanks bleiche Hand winkte aus dem Fenster. Die Droschke rollte davon und im Nu war sie unter anderen Gefährten untergetaucht.
»Nun, Gott sei Dank, das wäre überstanden!« sagte Schwedenklee zu sich selbst. »Großer Gott, was für Elend gibt es auf dieser Welt.«
Schwedenklee fühlte sich erleichtert und befreit von einem Schuldbewußtsein, das ihn quälte, ohne daß er bestimmte Ursachen hätte angeben können.
Das Schicksal seiner Mitmenschen, ja sogar seiner Bekannten und Freunde, kümmerte Schwedenklee, der immer mit sich selbst beschäftigt war, nicht allzusehr. Von Zeit zu Zeit hatte er das Bedürfnis, diese Gleichgültigkeit, die er recht wohl als Mangel empfand, durch irgendeine gute Handlung zu sühnen. Er schenkte, zum Beispiel, einer armen Frau, die fünf Kinder hatte, eine Summe Geldes, einen Posten Wäsche und Kleider.
So hatte er Blank heute eine ziemlich große Summe aufgedrängt, um Ruhe zu finden vor peinigenden Gedanken, Reflexionen über die heutige Gesellschaft, Ungerechtigkeit der sozialen Schichtung und andere peinliche Dinge.
Beruhigt ging er zu Bett.
Sein Schlaf indessen war unruhig. Er träumte von Ellen. Sie hatte ihren Koffer gepackt, bereit abzureisen. Er brachte sie in einem Wagen zur Bahn, aber schon angesichts der glühenden Uhr des Bahnhofs befahl sie dem Kutscher zu wenden und zum Hotel zurückzufahren. Später, da stand sie schon im Zuge, der Zug fuhr schon an, aber sie sprang im letzten Moment – zum Erstaunen und Schrecken aller Reisenden, die laut aufschrien – aus dem Zuge. Ich kann nicht, ich kann nicht, schrie sie. Da verfiel Schwedenklee – im Traum – auf einen infamen Gedanken. Er beschwätzte Ellen, daß er mit ihr reisen werde. Sie war überglücklich, und sie fuhren zusammen. Bei der ersten Station verließ er heimtückisch den Zug. Es war eine Station voller Dunkelheit und Düster, und er sah das schöne glückliche Gesicht der Ahnungslosen an sich vorübergleiten.
Hier erwachte Schwedenklee. Er war heiß, unruhig und voller Ängste. Die Nacht war finster und lang. Vielleicht, dachte er, wäre ich mit dieser Frau glücklich geworden? Vielleicht hat er recht, vielleicht habe ich das Glück meines Lebens leichtsinnig fortgeworfen?
Am Morgen erinnerte er sich deutlich an den Traum. Wie sonderbar, dachte er, Ellen reiste in der Tat schwer ab. Wir telegraphierten sogar an das Theater, jetzt erinnere ich mich. Aber ich wünschte, daß sie reiste, denn – ich hatte ja schon eine Verabredung mit ihrer Freundin, dieser rotbäckigen, stupsnäsigen Schwedin – wie hieß sie? – Fräulein Svenska. Ja, leichtsinnig ist die Jugend.
»Welch ein Schuft bist du doch gewesen, Schwedenklee!« sagte er zu sich. »Und diese Frau hat dich vielleicht wirklich geliebt!«