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Immer noch sah er sie vor sich, wie sie, die schlanken Hände verkrampft, mit dem Ausdruck letzter Inbrunst, Andacht, Aufgelöstheit vor dem Bette kniete, das bleiche, schöne Antlitz verklärt von unbegreiflichem Schmerz. Eigentlich, sagte er sich, sah sie aus, als ob sie grenzenlos erstaunt wäre, ja, Staunen, Verwunderung – nein, ich weiß nicht, es ist jedenfalls nicht in Worten auszudrücken.
Unauslöschlich hatte sich dieses Bild in sein Gedächtnis eingegraben.
Er liebte es, sich diesem Anblick hinzugeben, obschon ihn die Dampfwolke peinigte, die aus dem verzerrten Munde des Sterbenden über die rauhe Wolldecke fuhr.
Dann sah er sie, in letzter Schärfe, in ihrer Trauerkleidung vor sich. Das schwarze Hütchen, der schwarze Schleier, der ihr Gesicht ganz durchsichtig erscheinen ließ – ihre Lippen, ihr atmender Mund, ihr scheues Tierauge, die Grübchen in ihren glatten Wangen – und wie bei ihrer Mutter war das Grübchen auf der rechten Wange etwas tiefer als auf der linken. Die schwarze Halskrause, aus der ihr feiner Nacken stieg, ganz wie Ellens, der Mutter, Nacken. Und nun war sie hier!
Lieber Himmel, Schwedenklee war ganz verwirrt!
Es war nicht leicht gewesen, Ellen, die der Schmerz fassungslos gemacht hatte, in ein Magazin für Trauerkleider zu bringen. Hundertmal wiederholte Schwedenklee mit unendlicher Geduld: »Aber Sie können doch nicht so Ihren Vater beerdigen, seien Sie doch vernünftig!«
Endlich ließ sie sich bewegen. Aber sie wünschte das Kleid so einfach wie nur möglich. Die Verkäuferinnen, gerührt von ihrer Schönheit und Hilflosigkeit, bemühten sich um sie. Schließlich stand sie fertig angekleidet vor dem Spiegel. Sie blickte hinein und errötete! Blitzschnell ergoß sich die Röte, zart, wie ein Hauch, über ihr Gesicht und ihren Nacken – ganz wie bei ihrer Mutter. Sie errötete, weil sie sich in der Trauerkleidung gefallen hatte.
»Und nun neue Schuhe, Ellen!«
Sie sah ihn verständnislos an, während sie im Wagen weiterfuhren.
»Aber Sie können doch nicht in diesen abgetretenen Schuhen –?«
»Aber weshalb sorgen Sie sich um mich?« fragte sie unwillig, die kleine Stirn zerknittert, und preßte die Hände an die zarten Schläfen.
»Sie vergessen es immer wieder: ich bin ein Freund Ihrer Mutter und Ihres Vaters.«
Ellen nickte. »Ich vergaß es, ja!«
»Nun will ich alles tun, wie Sie es wünschen«, sagte sie und schmiegte sich an ihn, in kindlicher Aufwallung, obschon sie neunzehn, zwanzig Jahre alt sein mußte. »Ich will gehorsam sein.«
Schwedenklee sagte ihr, daß sie sich wegen ihrer Zukunft keine Sorgen zu machen brauche.
Sie sah ihn ohne jedes Verständnis an. »Ich mache mir ja keine Sorgen.«
»Ich verstehe wohl. Sie müssen aber doch irgendwo bleiben.«
»Bleiben?« Feindselig blendete ihr Blick.
»Ja, natürlich. Sie müssen essen, trinken, schlafen.«
»Nein, nein« – unterbrach sie ihn – »nein, das muß ich nicht!«
»Sie haben mir versprochen, an all diese Dinge für Sie denken zu dürfen.«
»Ja!«
Nach einer Pause fühlte er ihren Blick.
»Papa ist sehr arm gewesen, aber er war trotzdem ein großer Künstler!«
»Ein großer Künstler!«
Ellens scheues, verstörtes Tierauge wanderte ruhelos.
Fragmente ihrer kurzen Gespräche fielen Schwedenklee ein, Blicke, Bewegungen. Als man den Sarg abholte, kniete Ellen in der Ecke der Stube. Bei der Beerdigung war Ellen gefaßt. Sie stand wie versteinert, den Blick zu Boden gerichtet. Sie waren nur zu dritt. Ellen, er, die weißblonde Schwester, die heftig weinte.
Bei ihrer Mutter waren es nur zwei, dachte Schwedenklee: Blank und Ellen. Und er erinnerte sich, daß Blank ihm schrieb, er habe sich auf die Erde geworfen ...
Augusta servierte mit feuchten Augen, mit reuevoller Weichheit, das Abendessen.
»Sie werden uns also nicht im Stich lassen?« fragte Schwedenklee, kauend, ohne vom Teller aufzusehen.
»Sagte ich denn das?« Schon weinte Augusta, diese gute Seele. »Ich habe ihr zugeredet, und sie hat eine Tasse Tee getrunken. Nun will ich sehen, daß sie noch ein Ei ißt, dieses arme Kind!«
Schwedenklee verbrachte den Abend zu Hause. Die Aufregungen der letzten Tage hatten ihn so sehr mitgenommen, daß es ihm unerträglich gewesen wäre, Menschen zu sehen. Er genoß jede Minute des Alleinseins. Seit vielen Jahren hatte er einen solch zufriedenen, ausgeglichenen Abend nicht gehabt. Er strich an seiner Bibliothek entlang. »Ich werde ein schönes Buch lesen, ja!« Seit Jahren hatte er nicht mehr die Sammlung besessen, sich auf ein umfangreicheres Werk einzulassen.
Er zog eine Reihe von Büchern heraus, ohne sich entschließen zu können. Die »erotische Abteilung« betrachtete er mit einem verächtlichen Lächeln.
»Augusta?« Schwedenklee erschien in der Küchentür! »Was macht unser Gast?«
»Sie hat jetzt den Hut abgenommen. Sie will versuchen zu schlafen, sagte sie.«
»Hat sie das Ei gegessen?«
»Sie versprach es zu essen.«
Schwedenklee klopfte an Ellens Türe.
»Ich will Ihnen gute Nacht sagen«, sagte er mit väterlicher Wärme, indem er den Kopf ins Zimmer streckte. »Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?«
»O nein, danke«, antwortete Ellens kleine Stimme, ganz fern.
Ellen hatte wirklich den Hut abgenommen. Sie stand mitten im Zimmer und wandte ihm ihr scheues, helles Auge zu.
»Schlafen Sie wohl. Und wenn Sie Wünsche haben, so klingeln Sie.«
»Ich habe keine Wünsche, danke!«
»Hier ist jener Brief, den Ihr Vater mir hinterließ. Ich lege ihn hierher, vielleicht haben Sie jetzt Sammlung genug, ihn zu lesen.«
»Danke!« Regungslos stand Ellen.
Das Leben hat merkwürdige Einfälle, dachte Schwedenklee verwundert und triumphierend zugleich. Ist es nicht sonderbar, daß Ellens Tochter, die wiedergeborene und verjüngte Ellen, bei mir ist? Wer hätte sich das je träumen lassen?
Dank einer Fügung des Schicksals habe ich, ohne mein Zutun, plötzlich eine Tochter bekommen – ein wunderbares Wesen, ein Kleinod dazu – den angebeteten Liebling unglücklicher Eltern ...
Ja, in der Tat, es war das alte Glück Schwedenklees, immer noch folgte es ihm wie sein Schatten. Wie man sich erinnern wird, erhielt er den Titel eines »Oberbaurats« vom Oberkellner des Cafés, ohne jede Anstrengung – ohne jedes Verdienst hatte ihn das Schicksal plötzlich, gänzlich unerwartet, mit einer Tochter beschenkt.
Schwedenklee war ganz erfüllt von seinem Glück. Als Blank, dieser gute, arme Blank, dachte er, mir seinerzeit auflauerte, ahnte ich damals nicht, daß diese merkwürdige Begegnung eine besondere Bedeutung für mein Leben haben wird? Wie? Und Blanks unverständliche Bemerkungen, Anspielungen, seine prüfenden Blicke – ja, nun verstehe ich alles. Sie ist in guten Händen bei mir, teuerster Freund – unwillkürlich hatte er Blanks Tonfall nachgeahmt, als er »teuerster Freund« sagte.
Schwedenklee hatte die Briefe, die ihm Schwester Anna als ein Vermächtnis Blanks in der eisigen Küche überreichte, schon flüchtig durchflogen. Nun aber war er in der ausgeglichenen, ruhigen Verfassung, sie genauer zu lesen.
Es waren im ganzen sechs Briefe, kürzere und längere, die er an Ellen von Paris aus geschrieben hatte. Er erkannte seine Handschrift wieder – seine Handschrift vor zwanzig Jahren –, heute schrieb er etwas kräftiger und klarer.
In dem ersten Briefe nach Ellens Abreise schrieb er ihr, daß er in ihr Zimmer gezogen sei (im Hotel Panthéon) und daß sie gegenwärtig sei in Möbeln und Wänden und tausend kleinen Dingen.
Es lag ja so nahe, dies zu schreiben! Aber, sagte sich Schwedenklee, welch bodenlose Verlogenheit! Um 9 Uhr abends reiste Ellen, ich weiß es noch genau – um 10 Uhr speiste ich mit Fräulein Svenska, mit der rotbäckigen Schwedin, in diesem Zimmer – und am nächsten Morgen schrieb ich diesen Brief.
Und hier, das war offenbar die Antwort auf einen Brief Ellens, in dem sie ihm für ein Darlehen dankte.
»Kein Wort, liebste Freundin,« schrieb er, »ich bin glücklich, Dir gefällig sein zu können. Es ist ja so selbstverständlich! Es gibt eine Solidarität des Adels, der Reichen, sollte es nicht auch eine Solidarität der Künstler und geistig Schaffenden geben?«
Lesen wir dies nochmals, sagte Schwedenklee, habe ich wirklich diese Phrasen geschrieben? Ja, er hatte Ellen ganze tausend Franken geschickt und auf ihren Dankesbrief mit derartig hochtrabenden Worten geantwortet!
In einem anderen Brief entwickelte er mit großer Beredsamkeit und vieler Wärme ein System, wie die Künstler und geistig Schaffenden zu leben hätten! Wie Mönche, nicht anders, arm, anspruchslos, materielle Genüsse und Güter verachtend, nur ihrer Kunst ergeben, in einer kameradschaftlichen Gemeinschaft. Alle, die dem »Orden« angehörten, hätten ihre Einnahmen der Gemeinschaft zu überweisen – um der Welt ein Beispiel zu geben, wie die Menschen eigentlich leben sollten. Es sollte künftig nicht mehr Maler geben, die Millionen verdienten, während ihre Kollegen darbten – nein, die Millionen der Erfolgreichen sollten in die Kasse der Gemeinschaft der Maler fließen. Wie bei den Malern, so bei den Musikern, den Schriftstellern –
»Sind das meine Worte, wahrhaftig? Habe ich je solchen Anschauungen gehuldigt?«
Schwedenklee war erstaunt, ja förmlich verblüfft, auf diesen ihm gänzlich fremden, jungen Schwedenklee zu stoßen.
War dieser Einfall vielleicht schlecht? O nein, nein!
War es nicht im Gegenteil ein herrlicher Gedanke? Und was ist daraus geworden?
Nichts, nichts.
Schwedenklee erhob sich, verlegen. Wirklich nichts! Ich habe diese Idee ganz einfach – vergessen.
Je länger er in den Briefen las, desto mehr erkannte er, daß der frühere Schwedenklee und er eigentlich zwei völlig verschiedene Personen waren. Schwedenklee der Jüngere, der leidenschaftlich soziale Probleme erörterte, dessen Religion, wie er schrieb, die »Kameradschaft« war – und Schwedenklee der Ältere, der sich, Gott weiß es, den Kopf nicht mehr mit derartigen Dingen zerbrach. Ja, in der Tat: zwei Welten. Ein behaglicher Bourgeois war aus dem jungen Schwedenklee geworden, gestehen wir es nur – ein Bourgeois wie die andern, mit genau den gleichen Ansichten wie der Kaufmann Jaffe, der Kinderkleider fabriziert.
O ja, wahr! Wahr!
Ähnliche Anschauungen kehrten in all den Briefen wieder. Tapfer hatte sich Schwedenklee der Jüngere den Problemen entgegengeworfen.
»Vorurteilslosigkeit und Mut brauchen wir,« schrieb er, »um dem Leben entgegenzugehen, das vor uns liegt ...«
Schwedenklee las und staunte. War er das wirklich? Etwas wie ein leises Schamgefühl überkam ihn.
In einem Briefe fand sich diese Stelle: »Ich finde ja an und für sich, daß wir schon korrumpiert sind. Wir Künstler müßten gekleidet sein wie Monteure und Arbeiter, in Manchesterhosen, wir müßten betonen, daß wir und die Bourgeoisie verschiedene Welten sind.«
Er? Er, Schwedenklee in Manchesterhosen? Er bekam einen roten Kopf.
Ja, was ist doch aus diesem Schwedenklee geworden? Mit einem verlegenen Lächeln erhob sich Schwedenklee. Was ist aus mir geworden? Sein ganzes Leben, das Leben der letzten zehn, zwanzig Jahre erschien ihm plötzlich unverständlich ...
»Herr Schwedenklee!«
Jemand pochte an der Türe. Es war Augustas Stimme.
Schwedenklee streifte die Uhr mit einem Blick. Es war schon spät in der Nacht.
»Was wollen Sie, Augusta?« fragte Schwedenklee, weich und versöhnlich gestimmt.
»Es ist etwas nicht in Ordnung mit dem Fräulein.«
»Wie –?«
»Ja, es ist etwas nicht in Ordnung!«
Augenblicklich erschien Schwedenklees fahles Gesicht in der Türe.
»Erst stöhnte sie so eigentümlich und jetzt antwortet sie nicht mehr.«
Tödlich erschrocken eilte Schwedenklee an Ellens Türe und pochte. Erst leise, dann ohne jede Rücksicht.
Nichts regte sich, kein Laut. Aber durch das Schlüsselloch schimmerte Licht.
Schwedenklees Blicke begegneten dem entsetzten Auge Augustas. Das Haus schwankte.
Rasch, ohne zu denken, eilte er durch die Zimmer und klinkte die Tür auf, die vom Speisezimmer in Ellens Räume führte. Diese Türe war offen: Auf das Sofa gekauert sah er Ellen, in ihren Trauerkleidern, bleich, still, die blutleeren Lippen schmerzvoll geöffnet, die Augen erschrocken, wie die eines überraschten Tieres, auf ihn gerichtet. Ihre kleine Hand hing herab, wie gebrochen ... es tropfte und rieselte –
Sofort übersah Schwedenklee alles.
»Aber mein Kind!« rief er aus und berührte die schmale Schulter. Er war selbst totenbleich und zitterte an allen Gliedern. In diesem Augenblicke erkannte er ganz die Größe der Leidenschaft, die ihn für dieses Wesen erfaßt hatte.
Mit den gleichen Augen eines überraschten, erschrockenen Tieres blickte ihn Ellen an.
»Verzeihen Sie mir«, flüsterte sie, ohne jede Regung.
Mit der Scherbe eines zerschlagenen Glases hatte Ellen sich die Pulsader geöffnet.
Um den Teppich nicht zu beflecken, hatte sie eine Blumenvase unter die herabhängende Hand gestellt.
Im Hause wohnte ein Arzt. In kaum zehn Minuten war er da. Es bestand keine Gefahr für Ellens Leben.
Schwedenklee schloß die ganze Nacht kein Auge. Kreidebleich, zuweilen in Ellens Zimmer lauschend, schlich er schwankend in seiner Wohnung hin und her. Er zitterte und fror entsetzlich. Laß sie leben, großer Gott im Himmel! Ja, in der Tat, Schwedenklee betete.
Und wieder stand er im dunkeln Speisezimmer und lauschte gegen die offene Tür. Sie schlief – ruhig und langsam ging ihr Atem. Der Arzt hatte ihr Morphium gegeben. Unbegreiflich schön schien es ihm, hier zu stehen, im dunkeln Zimmer, und ihren leisen Atemzügen zu lauschen.