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Zaghaft pochte Schwedenklee, und sofort, lautlos, öffnete ihm die weißblonde, ungeschlachte Pflegerin mit den eckigen Hüften.
»Sie kommen zu spät«, flüsterte sie vorwurfsvoll, mit einem mißbilligenden Blick auf Pelz und Zylinder. »Noch vor einer halben Stunde hat er nach Ihnen gefragt. Jetzt hat er das Bewußtsein verloren.« »Er« nannte sie den Sterbenden, »er« – nicht mehr wert ist ein Mensch, der stirbt.
Der gleiche röchelnde, furchtbare Schnarchton –. Schwester Anna schob Schwedenklee resolut durch die Türe.
»Hier, diese Türe!« sagte sie.
In großer Befangenheit trat er ein.
Da sah Schwedenklee, daß dieser röchelnde Schnarchton aus dem weit geöffneten Munde eines im Bett halb aufrecht sitzenden leichenfahlen Mannes mit großen, gläsernen Augen kam.
Da sah Schwedenklee – nie wußte er später zu sagen, was er früher gesehen hatte, den Sterbenden oder das Andere – das Wesen, das vor dem Bette kniete ...
Das Zimmer war nicht hell. Eine kleine Petroleumlampe ohne Schirm stand irgendwo auf dem Tische. Der Sterbende saß in den Kissen eines grau und elend aussehenden Bettes. Seine Brust keuchte in kurzen Stößen, sein gemarterter Atem stieß Rauchsäulen in die eisige Luft, sein eingefallenes Gesicht blendete von Schweiß.
Vor dem Bett aber kniete ein Wesen – ein Geschöpf, etwas Unbegreifliches, Wunderbares, vielleicht nur eine Vision seiner aufgeschreckten und verwirrten Sinne? – ein Mädchen, die Hände betend verkrampft, die Augen auf das Antlitz des Sterbenden gerichtet – ein Wesen, verklärt, unfaßbar – Ellen Fröhlich, dieselbe Ellen Fröhlich, die er in Paris gekannt hatte – nur jünger und seltsam verklärt!
Fassungslos stand Schwedenklee und schloß die Augen. Er tastete mit der Hand nach der Wand, da er fühlte, wie er schwankte ...
Wie lange dauerte dieses furchtbare Röcheln? Stunden, eine Ewigkeit. Und immerfort, unbeweglich kniete dieses verklärte Wesen, die Hände betend verkrampft vor dem Bette.
Zuweilen nahm die Schwester ein feuchtes Tuch und wischte die Stirn des Sterbenden ab.
Zuweilen hörte man den heiteren, trunkenen Lärm der Hochzeitsgesellschaft fern und wirr durch die Decke.
Schwedenklee hatte nie gesehen, wie ein Mensch starb. Der Tod seiner Mutter war ihm telegraphisch mitgeteilt worden. Als der alte Schwedenklee im Sterben lag, hatte man ihm telegraphiert, und als er ankam, war schon alles vorbei.
Schwedenklee stand versteinert, regungslos in der Ecke, das unbeschreibliche, unbegreifliche Wesen kniete, die Schwester tauchte zuweilen mit ihren feisten Händen das Handtuch in das Waschbecken – und der Sterbende röchelte.
Das Röcheln wurde schwächer, pfeifender, und plötzlich – nach einer unfaßbaren Stille – schrie eine ganz unbegreiflich entsetzte Stimme, die Stimme eines Mädchens, eines Kindes: »Papa! Papa!«
Augenblicklich, ins innerste Herz getroffen durch den Ton des Mädchens – der Kinderstimme, diesen Ton der letzten menschlichen Qual – augenblicklich wandte Schwedenklee sein Gesicht zur Wand. Nie in seinem Leben hat er diesen Schrei vergessen. Er war totenbleich und zitterte an allen Gliedern.