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Abschied von Sembasa

Auf der höchsten Plattform des Turms stand die Erbprinzessin und weinte bitterlich. Träne auf Träne rollte über die schmal gewordenen Wangen. Ihr Hang stand nach den Sternen, aber ihr Menschenherz hing doch am Menschlichen.

Da flog – dem Auge nicht länger sichtbar – der einzige Mensch, der sie wahrhaft liebte, und ihn begleitete der Stolz von Poseidonis, der Künstler Daminophis, ein heiterer Mitarbeiter auf dem Gebiete der Kunst, ein treuer und hingebender Verwandter. Um sie blieben nur Feinde …

Lange überließ der Weise sie ihrem Kummer, denn Tränen waschen den Schlamm der Bitterkeit hinweg, doch als die mondlose Nacht wuchs und wuchs, trat er leise hinaus auf die Plattform und sagte weich, hinter der Erbprinzessin stehenbleibend:

»Wer im Zeitlichen vereinsamt ist, der findet eine Heimat im Ewigen.«

»O Sembasa«, seufzte sie, »mein Herz gleicht einer Lampe, aus der das Öl geschwunden. Immer wieder, mein ganzes Sein hindurch, haben Menschen hindernd und zerstörend in mein Schicksal eingegriffen …«

»Wäre es nicht ebenso wahr, wenn man behauptete, daß du helfend und tröstend immer wieder in das ihre eingegriffen hast?« fragte er mild.

Aber Isolanthis stand jenseits aller Trostworte. Es gibt Augenblicke, in denen man die Schwere seiner Last nicht mehr ertragen kann und man zu erliegen droht. Bitter rief sie:

»Ach, ich habe alles verloren: Vater, Thronratgeber, Freund …« Sie schwieg, weil ihre Lippen sich weigerten, ihn zu nennen, der so viel Licht und so viel Schatten auf ihren Pfad geworfen hatte, »meine Träume und Hoffnungen, die Ruhe des Herzens, die Mitarbeit mit dem Künstler wie mit dem Gelehrten, selbst Tlactlac … den Hund vom heiligen Berg … ja sogar den grünen Stein, den ich dem Pharao mitgegeben habe …«, und sie hielt Sembasa ihre leeren Hände hin, wie um ihre völlige Armut zu betonen.

»Da ist dein Herz selbst zum grünen Stein geworden, o Isolanthis! Trauere nicht um Dinge, die von der Welle des Veränderlichen an den Strand des Gewesenen gespült wurden. Trachte nur, o Tochter, das Blau des Seelischen und das Grün des Geistigen in dir vom Tiefrot wärmender Liebe durchleuchtet zu erhalten, so kann das Licht in dir nie erlöschen …«

»Vielleicht nicht«, entgegnete sie zweifelnd, den Blick gesenkt, eingesargt in ihr Leid, »doch in der Nacht unserer menschlichen Gebundenheiten sehnen wir uns nach Glück.«

»Glück«, sagte der Weise, »ist wie ein Tautropfen auf einer Mondblüte, vom ersten Sonnenstrahl weggetrunken, vom leisesten Wind zum Fallen gebracht, eine Unruhe des Herzens, oft nichts als ein brausendes Freudengeläute der Sinne. Ein Kind will den Widerschein des Nachtgestirns aus dem Teich heben und greift nichts als Wasser. Was nennst du Glück? Am Ende jedes Sehnens steht ein Bild …«

Sie hüllte sich in Schweigen, denn ihr Bild wollte sich nicht klar formen.

»Untersuche ruhig deine Glücksmöglichkeiten: Obschon du Menschen deinem Willen untertan zu machen verstehst und unbedingten Gehorsam von allen Untergebenen forderst, ist dir das Herrschenmüssen nur Qual. Dich umgibt der Reichtum und die Pracht des größten Landes dieser Erde, und du wünschest dir das einfache Gewand deiner Armut zurück. Die Männer lieben dich über das Grab hinaus, und doch erfüllt dich selbst diese Liebe nicht mit dem, was du Glück nennen möchtest?«

Stumm schüttelte sie das Haupt. Durch eben diese grenzenlose Liebe war ihr auch grenzenloses Leid geworden.

»Sieh, Tochter, mancher geht zum Glück durch das Tor des Herzens, ganz junge Seelen selbst durch das Tor der Sinne, doch mancher nur durch das Tor des Geistes ein. Zu diesen Seelen gehörst du! Komm! Ich vermag dir zum Abschied nichts zu geben als wärmendes Wissen. Nimm daher diese letzte Gabe von mir auf deinen langen Weg mit.«

Er führte sie bis an den Rand der Plattform und zeigte auf das Siebengestirn zu Häupten.

»Im Markt, wie wir diese Gruppe nennen, liegt ein Stern, der als Mittelpunkt unserer ganzen Schöpfung angesehen wird. Um ihn kreisen ungezählte Sonnen mit ihren Wandelsternen und diese mit ihren Monden und all den übrigen uns unsichtbaren Mitläufern, die aus feinerem Stoffe sind und reiferen Seelen zu höheren Erfahrungen dienen. Die Umdrehungsdauer dieses Sterns im Markte beträgt genau die Zeitspanne, in der der Frühlingspunkt der Erde durch zwei Tierkreiszeichen schreitet – also viertausenddreihundertundzwanzig Menschenjahre. Du weißt, o Isolanthis, daß vier die stoffliche Begrenzung innerhalb von Zeit und Raum angibt, denn vierfach ist alles Dasein, und daß drei auf das Geistige hinweist …«

»Daher ist vier und drei zusammen, also sieben, unsere heiligste Zahl?«

Er nickte.

Nach einigen Augenblicken stiller Betrachtung fuhr er fort:

»Sieben Wellen, sieben Ströme … doch all das ist dir schon bekannt. Auch weißt du, daß alles in dieser unserer Erscheinungswelt zweifach ist: Wo Licht, da ist Schatten, wo Bewegung, da Ruhe; wo Einatmung, da Ausatmung; wo Weltenwerden, da auch einmal Weltenschwinden, wo Tod, da Wiedergeburt. Die Ureinheit jedoch muß vollkommen und unendlich sein. Nimm nun die Vier des Stoffes zur Drei des Geistigen und zur Zwei der Gegensätze und füge diesen Zahlen das Zeichen der Unendlichkeit, den Kreis, oder die Eiform hinzu, so bleibt die Summe viertausenddreihundertundzwanzig. Läßt du das letzte Zeichen, das der Unendlichkeit, weg, so hast du die Zahl der Erdenjahre, die eine Weltminute darstellen. Erst wenn du siebenhundertzwanzig Millionen Jahre unserer Zeitrechnung mit vierhundertzweiunddreißig vervielfältigst, erfährst du die Länge eines göttlichen Jahres, und erst zweiundsiebzig Gottjahre ergeben die Zeitspanne einer Ausatmung. Wenn der Unerforschliche den Atem einzieht, tritt Weltruhe ein; alles Stoffliche verrinnt im Geiste. Sein Ausatmen schafft die Erscheinungswelt. So wechselt Einatmen mit Ausatmen, Stoffwerdung mit Vergeistigung, doch mit immer wachsender Vervollkommnung, und nichts im Weltall geht verloren. Ein Teilchen von diesem Gottatem bist du, und alles um dich ist ein Teil von dir. Die Sonne ist deine ältere Schwester, der Mond dein Bruder, der Stein zu deinen Füßen wird einmal wie du werden im Kreislauf des Seins. Von Stern zu Stern geht die Entwicklungskette: Was hier Steinreich ist, wird auf dem nächsten Stern schon Tierreich sein, und was hier dem Tierreich angehört, ist Mensch geworden … Neben all dem Stoffgebundenen, das dein Auge schon sieht, gibt es jedoch viele dir noch verschlossene Erscheinungswelten. Sieben Ströme entwickeln sich Seite an Seite, und jeder ist wunderbar in seiner Art. In jedem Strom geht jedes Teilchen den eigenen Entwicklungsweg, und so auch jede Menschenseele den ihren, aber das gemeinsame Erfahren jedes Teilchens, jedes Stromes fließt zurück in die Allseele und bereichert sie, und die riesigsten Weltkörper wie das kleinste Ur-Teilchen unterliegen dem gleichen Gesetz. Hast du das Werden der Salze, der Edelsteine, der Erze beobachtet?«

»Ja, Arototec hat mir gezeigt, wie sich die Ur-Teilchen sehr verschieden aneinanderreihen, wie sie Vierecke, Dreiecke …«

»Eigentlich Würfel, Dreiflächer, Vierflächer, kurz die eigenartigsten Raumgrößen bilden«, ergänzte Sembasa. »Sieh, nach gleichem Gesetz ist alles aufgebaut, auch die Pflanzen und Bäume, auch der menschliche Körper, obschon es da weniger klar sichtbar ist, und aus gleichem Stoffe wie unsere Erde sind die übrigen Weltkörper, wenn auch die Dichtigkeit und die Anordnung völlig verschieden find, denn die einen sind näher, die andern ferner der Sonne ihrer Gruppe. Überall findest du die heilige Sieben, immer fluten die sieben göttlichen Ausstrahlungen nieder, immer suchen sieben Ströme durch den Weg des Erfahrens ihre endliche Wiedervereinigung mit der Allseele.«

»Warum?«

»Weiß der Stein, warum wir handeln?« lächelte der Weise. »So wissen wir nicht, warum ein Gott sich verkörpern will, doch genießt man Ruhe nur nach Bewegung, Licht nur nach Dunkelheit so ganz, und am stärksten empfindet man den Begriff Leben, wenn man etwas tut. So mag die ganze Erscheinungswelt eines Gottes Tun sein, seine Art, sich seiner selbst voll bewußt zu werden. Nicht auf das letzte Warum kommt es uns an«, setzte er sanft hinzu, »sondern auf die selige Tatsache, daß jede Entwicklung eine noch höhere zuläßt, daß nach deinem Wirken im Stofflichen ein anderes Wirken beginnt, in immer feineren Formen, mit immer weiterem Ausblick, mit stetig wachsendem Wissen. Alle Erscheinungswelten, von denen ich dir gesprochen, kann deine Liebe einmal wärmend durchleuchten, dein Licht führen; allen Wesen wirst du einmal Helfer sein dürfen, und wenn du hier alles erfahren hast, was zu erfahren ist, kannst du auf andern Sternen, in andern Sonnengruppen andere Erfahrungen, weiteres Wissen, größeren Ausblick erlangen, doch immer wird deines Wesens innerster Kern, dein Gottfunke, dich sehnend näher und näher jenem Geheimnis bringen, das unser Geist noch nicht zu fassen vermag: Dem Ewigen. Fürchte daher nichts, denn aus Licht bist du gekommen und zum Licht kehrst du zurück. Gottes Ausatmung bist du, und seine Einatmung läßt dich zurücksinken in sein Herz. Nichts kann dir verlorengehen, denn alles, was du siehst, ist dein. Nie kann Einsamkeit dich fürderhin bedrücken, außer wenn du ein Sonderdasein forderst, ein Getrenntsein vom All. Geh deinen Weg in Frieden! Die Sterne schaukeln dich zur Ruhe, und der Mond, dein Bruder, küßt dein schlafendes Angesicht. Es umduften dich die Blumen, es liebkosen dich die Winde, es singen die Wellen dir ein Schlummerlied und die Liebe Gottes hüllt dich ein …«

Da sank Isolanthis dem Weisen schluchzend zu Füßen und berührte den Saum seines Gewandes mit ihren Lippen.

»Mögest du mir Führer bleiben durch die schwindenden Weltalter, durch Gottes Ausatmung und Einatmung bis in das neue Licht seines kommenden Tages …«

Da legte Sembasa die Hand segnend auf ihr Haupt und sprach feierlich:

»Es wachse in deinem Herzen die Liebe, in deiner Seele die Kraft und in deinem Geiste das Licht!«

Still erhob sich Isolanthis.

In ihrer Seele war Friede, als sie die siebenmal siebzig Stufen vom Turm des Sonnenaufgangs niederstieg, und sie wußte, daß sie gefaßt dem Tode ins Auge schauen konnte.

Dem Tode wie dem Leben; das letzte war oft noch schwerer.

Über ihr wachten die Sterne …


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