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Ataxikitli merkte plötzlich, daß er sehr müde war. Es kostete ihn Überwindung, frischen Trunk herbeizuschleppen und dem Gast Rede und Antwort zu stehen. Es traf ihn wie eine persönliche Beleidigung, daß Haparu, der Poseidonier, die Tracht der Bewohner der dunklen Erde angenommen und daß seine Sprache den Tonfall der Heimat verloren hatte. Noch erkannte man die stolze Wölbung der Stirn, aber das Elfenbeingelb der Haut hatte sich zu Nußfarbe vertieft, und die Bewegungen waren eckiger geworden.
»Du bist wie ein Falter, der durch Kinderhände gegangen – dein Schmelz ist weg«, sagte er verächtlich. Sein starkes Volksbewußtsein sträubte sich gegen diese Verwandlung.
Haparu, leicht berauscht, denn er hatte viele Stunden nach seiner Landung im Haus des Genusses verlebt, saß mit gespreizten Beinen weit nach vorn gebeugt auf dem Steinsitz und fragte etwas unsicher:
»Ist es dir nie ausgefallen, daß Erde und Menschen ein Gesicht haben? Hier …«, seine Hand strich in Wellenlinien durch die Luft, »gibt es Berge und Berge, Schluchten und Sprünge, Seen, Wasserfälle, Walddickicht mit breitgeweihigem Edelwild darin, Affen im Sprung und eure neuen Tiere überall – die komischen Bergkamele, halb Ziegen und halb …«
»Die Llamas?«
»So nennt ihr sie wohl; sie klettern sicherfüßig über Gestein und Geklüft. All das hier ist Wechsel, Bewegung, Unruhe und wechselschaffend, beweglich, und im Grunde ruhelos seid auch ihr, o Poseidonier! Unsere schwarze Erde dagegen ist unendlich weit und still, unser Schritt wird wohltuend gehemmt vom warmen Sand, unsere Kamele haben den ebenmäßigen Trab gelassenen Herzschlags; nichts bei uns drüben speit Feuer, nichts speit Wasser. Einmal jährlich steigt unser guter heiliger Fluß, erfrischt und befruchtet alles ringsumher und sinkt so lautlos, wie er gekommen. In unsere dachlosen Bauten schauen unbehindert alle Gestirne. Wasser sammelt sich zu kühlendem Trunk in den Enden der Palmenblätter, und das Tonmaß unseres Seins ist Ruhe. Zwanzig Jahre solcher Stille und Klarheit haben mein Ungestüm gezähmt, so viel strahlendes Licht meine Haut gebräunt, so langes Verweilen unter Andersrassigen meiner Stimme den Klang des Mutterlandes genommen. Mein Herz hat Wurzel geschlagen in Kem-kem …«
»Wenn dir die Fremde Vergessen der Heimat gebracht, warum bemühtest du dich, hierherzureisen?« erkundigte sich Ataxikitli spöttisch.
Haparu hatte nach dem Krug gegriffen, den auch sein Gastgeber öfter als nötig gehoben hatte. Das kühle Gerstenbier beraubte den Mann aus Kem-kem neuerdings der zum Teil zurückgewonnenen Nüchternheit, die er dem langen Aufstieg und dem Suchen nach dem Haus seines Vetters verdankt hatte. In trunkener Vertraulichkeit lallte er:
»Das ist ein Geheimnis. Ich will zu Naxitli. Drei Leben stehen noch zwischen mir und der Krone von Atlantis. Der Alte ist zäh wie Rohatliholz, aber …«, er kicherte in sich hinein, den Kopf schief legend und lächerlich mit den Augen zwinkernd, »einmal muß er sterben und … die anderen auch.«
Ataxikitli, der, um seine Erschlaffung leichter zu überwinden, häufiger als ratsam nach dem Krug gegriffen hatte und in dem die Erfahrungen des Vortags viel Mißstimmung als giftigen Bodensatz zurückgelassen, spottete:
»Von deiner Art träumt mancher Narr sich den König dieses Reiches!«
Haparu griff nach dem zweiten, noch vollen Zinnkrug und stotterte, ihn absetzend, immer trunkener:
»Nicht … ich … Thron … Meiner Mutterschwester Großenkel, der junge Ramon Phtha …«
»Ein Mann aus dem Volke Kem-kems?« Verletztes Rassengefühl durchbebte die Frage.
»Er … jung … tapfer … guter Pharao …«
»Haparu«, und Ataxikitli schlug seinem Vetter mit der Faust hart auf die Schulter, wie um sein innerstes Empfinden zu wecken, »du, der Poseidonier, du aus dem alten Geschlechte der Auserlesenen, denkst doch nicht ernstlich daran, den müden Greis im ersten Wall bestimmen zu wollen …? Unsinn!« Er ließ die schwankende Gestalt mit einer Gebärde des Ekels wieder los und fügte mehr zu sich selbst als zu seinem unerwünschten Gast hinzu: »Nein, nie, solange ich lebe, wird jemand aus fremdem Geschlechte oder gar aus fremdem Volke Herrscher von Atlantis werden!«
Völlig unüberzeugt sagte Haparu mit dem Eigensinn eines Berauschten, den er ungeachtet einer kurzen Klarheit nicht zu überwinden vermochte:
»Warum nicht? Man nennt Ramon Phtha schon heute den Tapferen. Er ist jung, stattlich, aus gutem Stamm. Er wird Söhne zeugen. Wir … Thronerben aus heiliger Sippe«, er blinzelte schadenfroh zu seinem Vetter herüber, »sind sämtlich alt und söhnelos. Hast du Söhne?« kicherte er trunken-listig. »Wo steckt Isolanthis?«
»Sie weilt seit langem schon bei Siotatl im Mondreich …«
»Wohl um zu erfahren, ob er schon bald sterben wird?«
»Schweig, Elender! Wann habe ich geheime Späher ins Haus meiner Erben gesetzt? Isolanthis liebt Künste und Wissenschaften, sie malt, bildhaut und schreibt unsere alten Überlieferungen für unseren Vetter nieder. Sie schmückt mit unseren heiligen Schriftzeichen und Sinnbildern die neu erbauten Tempel und Paläste, sie zeichnet die Vögel und Blumen jener Erdstriche, die uns noch unbekannt sind. Fremde Zungen sind ihr geläufig; sie liest fließend in Tlavitli- und Rmoahalschriften und schreibt sogar in diesen toten Sprachen …«
»Besser geziemt es sich einem Weibe lebende Söhne zu gebären als tote Sprachen zu sprechen …«
»Du bist stumpf wie ein Flußpferd deines neuen Landes! Es ist gerade das Beschwingte am Frauengeist, was fesselt und die Kunst eines Volkes belebt. Wir Männer schürfen im harten Gestein wissenschaftlicher Verborgenheiten …«
»Wohl schürft ihr stolzen Poseidonier«, stieß Haparu mühsam hervor, »in allerlei Verborgenheiten … in menschlichen Verborgenheiten … in der Höhle des tiefsten Erlebens …«, und seine Finger ergötzten sich in unflätigen Gebärden, während er auf dem Sitze hin und her schaukelte.
»Du warst im Heim des Vergessens?« rief Ataxikitli in rasch wachsender Entrüstung, wütend vor Scham über diesen Schandfleck seiner Volksgenossen. Wenn er einmal König wurde …
Doch da vor ihm saß der Mann, der im Rausch Ungeheuerliches der letzten Stunden ausplauderte, der Unerträgliches plante, und den nur vier Leben vom Throne trennten …
»Schweig!« herrschte er den Kichernden an. Sein Zorn braute sich allmählich zusammen wie Wolken nach langer Dürre. »Du träumst vom Königtum und wühlst im Gedankenunrat wie ein Tapir im Straßendreck!«
»Eurem Dreck …« Haparu schwankte vom Stuhle auf und torkelte planlos durch den Raum. Er stieß an die Zinnkrüge; der leere Krug schlug an den halbvollen und brachte ihn zum Fall. Das dunkle Gerstenbier, an stockendes Blut erinnernd, floß langsam dem kostbaren Zeitbuch zu.
»Stinktier!« In Ataxikitli kroch eine maßlose Wut empor wie Lava im Schweigsamen und verlieh ihm eine Kraft, über die er, ungeachtet seiner vollen Mannesreife, sonst nie verfügte. Er hob das Buch, das gefährdet war, mit einem Ruck hoch und stolperte unter der Last dem Nebengemach zu, um das wertvolle Familiengut in Sicherheit zu bringen.
Haparu, plötzlich aufmerksam geworden und durch die Bewegung auf einige Augenblicke halb ernüchtert, erkannte das viel umsprochene Werk und streckte begehrlich wie ein Kind die Hände danach aus.
Da kochte der Feuersee bisher zurückgedämmter Entrüstung in Ataxikitli über. Dieser mutmaßliche Thronerbe, der einem unbekannten Neffen aus fremdem Stamm die mächtigste Krone der Welt zuzuschieben bereit schien, diese haltlose Mißgeburt, die an tierischen Freuden Genuß fand, dieser Abkömmling einer edlen Sippe, in dem er nun nichts als einen Verräter und Abtrünnigen sah, sollte diesen Band nie berühren dürfen, in dem die heiligsten Überlieferungen ausgezeichnet waren. Niemals! Die Arme wie eine Schraube um den Rieseneinband gedrückt, wankte er schwerfällig dem Ausgang zu. Haparu stand ihm im Wege, berührte das Buch. Wütend stieß Ataxikitli gegen die hindernden Beine, die plötzlich einknickten. Um sich vor dem Fall zu retten, griff der Stürzende mit beiden Händen fester nach dem Buch und riß es samt seinem Träger auf sich nieder. Hart und laut krachte Haparus Kopf auf dem Steinboden auf, und gegen die Schläfen schlugen die schweren Beschläge des Einbands. Vergeblich bemühte sich Ataxikitli, die steife Ledermasse wegzuheben. Vom Tisch hatte er sie aufheben können, nun aber lag der Riesenband wie ein Grabstein auf dem Gefallenen.
»Ich muß das Buch entfernen«, dachte Ataxikitli, sich immer wieder aufraffend, und zerrte hilflos an der Ledermasse, die ihm unvermittelt wachsende Angst einflößte, die ihm ein von unerklärlichem Eigenleben durchpulstes Unding zu sein schien.
Das Licht in der künstlichen Sonne sprühte unruhig auf, als es ihm endlich gelungen war, Haparu von der erdrückenden Last zu befreien. Schweißtriefend und keuchend neigte er sich tief über den reglos Liegenden.
»Haparu, steh auf!« befahl er, und die eigene Stimme war ihm fremd im Ohr.
Nichts regte sich. Da verwandelte sich der Schweiß in Eistropfen, und der eben noch pfeifende Atem stockte, denn was da vor ihm lag, war nicht sein ferner Vetter aus Kem-kem, sondern ein furchtbares Gebilde mit grinsendem Mund, flacher Nase, zertrümmerter Stirn; war nichts mehr als eine entstellte Leiche, die nach Blut, merkwürdigen Ölen und gärendem Gerstenbier roch.
Ein Toter, der ihm eben noch Unflat und Widerspruch zugeworfen hatte, und der nun zu seinen Füßen in ewiger Verstummung ruhte.
Ein Toter, über dessen Art des Hinübergleitens niemand etwas wußte, niemand etwas aussagen konnte, als er allein.
In den Augen aller anderen Menschen war das Geschehene Mord, um so glaubhafterer Mord, als der Getötete zwischen ihm und der Krone gestanden.
Während Ataxikitli dieser Tatsache innerlich Herr zu werden trachtete, ertönte von der Ebene herauf ein unbekannter Laut. Er lauschte.
Das Fest war vorüber, der Hafen erwachte, das Leben rief zu Tat und Pflicht.
Sonnenaufgang.