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In der Höhle der müden Herzen

»O Ramon Phtha, du legst zu großen Wert auf menschliche Bindungen«, seufzte Isolanthis. Sie schritten dem Fuße des Schläfers zu, unter der stolzen Steife der Eiben dahin, an winddurchzittertem Schilf und lispelndem Gesträuch entlang bis zu dem kühlenden Tiefschatten sich heranschiebenden Geklüftes. »In der Regel klammern sich Menschen aneinander, nicht aus warmer Zuneigung, sondern wie Herdentiere, die der Sturm erschreckt hat, und ihr Verhältnis zueinander gleicht weit weniger einem Blumengewinde, das sie in duftender Schönheit verbindet, als einer Kette unseliger Mißverständnisse im Schwung und Gegenschwung selbstsüchtiger Begehrlichkeiten.«

Pharao Ramon Phtha wagte es nicht, ihr zu sagen, daß er – wenn er Bindungen herbeizusehnen schien – einzig und allein an sie gedacht hatte, die so ruhig an seiner Seite dahinwandelte, wie sie zu seiten Daminophis', in Gesellschaft Erikikatls oder – o aufreizender Gedanke! – so häufig mit dem ersten Thronratgeber zu gehen pflegte. Immer bereit zu führen, zu lehren und zu helfen, doch ohne im Begleiter mehr als einen zufälligen Weggenossen zu sehen; kühl, losgelöst, in einen unsichtbaren Mantel gehüllt, den ihr niemand entreißen durfte.

»Ich kann mich nicht zersplittern«, erklärte sehr entschieden der junge König, seine Worte indessen viel bedachtsamer wählend als es sonst seine Art war, »ich muß immer einem einzigen Wesen mein ganzes Herz, mein Denken und Fühlen weihen. Um dieses eine Wesen baue ich einen Tempel …«

»Den Zeit oder Zufall zerstören«, unterbrach sie ihn unbeirrt. »Die Blumen am Wegrand welken, ein Baumriese verdorrt, aus einem Berg schießt Feuer und läßt vom Himmelragenden nichts mehr als Schlacken und Asche. Sternbilder wechseln, es erlöschen Sonnen, Monde werden aufgesaugt oder eingefangen; auf den Urtag folgt die Urnacht. Nichts besteht als das Ewige, und daher kann ein Menschenherz mit dem ihm innewohnenden Gottfunken nur das Ewige dauernd befriedigen und jenes tiefe Sehnen stillen, dessen Kehrseite Einsamkeit genannt wird. Du nennst Sembasa einsam; er aber ist glücklich, denn er fühlt den Pulsschlag des Weltalls.«

Ramon Phtha gönnte dem Weisen sein Verweilen im Zeitlosen, doch bei der Erbprinzessin würde er es vorgezogen haben, wenn sie statt dem Weltallpulse dem seinen gelauscht hätte, der – wenn auch vergänglich wie alles Stoffliche – doch sehr kräftig und sehr warm für sie allein schlug.

Sie waren nun hinter dem Schläfer angelangt, und Isolanthis entriß den König all seinem Grübeln, indem sie sagte:

»Sieh – das ist die Höhle der müden Herzen, in der ich meinen größten Schatz, den grünen Stein, gefunden habe. Viele Leute pilgern hierher, um in dieser friedvollen Stille zum eigenen Ich zurückzufinden.«

»Ihr Poseidonier seid so stark in euch geschlossen«, klagte Ramon Phtha, »daß ihr an anderen Menschen blind vorübergeht. In meinem lichten Land stiegen die Herzen der Menschen einander zu wie Möwen im Spiel; hier jedoch gleiten sie stumm aneinander vorüber wie Schwäne im Abenddämmern.«

»Was um uns besteht, ist heute, kann morgen schon vergangen sein«, entgegnete sie sanft, seine Hand am Gelenk erfassend und ihn wie ein Kind durch den gründämmernden Steingang in die abzweigenden Grotten führend, »doch nur auf dem Grunde unseres innersten Ichs ist Friede …«

»Sehnst du dich mehr nach Frieden als nach Lust und Liebe, o Isolanthis?«

Sie dachte an Arototec und seine Beeinflussungen, an ihren Vater, der unter der Last der Krone und des ihn unklar geißelnden Erinnerns an einen namenlosen Schatten selbst zum Schatten ohne Macht und Willen geworden war, an die Laster im Volke, die schon auf die höchste Kaste übergriffen, an all ihre Pflichten und die lastende Verantwortung, und fühlte in der Tat, daß ihr Herz müde war.

»Vielleicht …«, sagte sie, während das hellgrüne Gestein immer wärmere Färbung annahm, in eigenartigen Spaltungen durchsickerndes Sonnenlicht auffing und der grüngraue Boden mehr und mehr gestocktem Wellengekräusel glich, »vielleicht, o Pharao! Solange wir erwartungsheiß ins Leben hineinhungern, leiden wir, doch sobald wir bewußt auf ein hochgestecktes Ziel zusteuern, sind wir befreit. Bei müßigem Warten quälen uns die Sinne; beim Tun handelt vorwiegend unser Geist …«

»Dein Denken steht über dem meinen wie der Turm des Sonnenaufgangs über den Tempelstufen«, seufzte Ramon Phtha, »und gewiß wolltest du mich ganz anders haben als ich bin.«

Sie sah ihn an und fand ihn entzückend in seinem Ungestüm, in seiner rauschenden Jugend, in seinem kindlichen Wunschgebundensein. Ihre Gedanken flogen zu Moani. Auch da so viel Liebreiz, so wunderbar schimmernde Traumflügel und solch ein Verrinnen im Dunkel. Sie zitterte plötzlich um den jungen Pharao, über dessen Haupt sie dunkle Wolken zu erspähen meinte, und wußte dennoch, daß alle Warnung vergebens sein würde. Traurig erwiderte sie daher, die Blicke gesenkt, wie in sich hineinschauend –

»Jeder Mensch muß in seiner eigenen Furche laufen, und es wäre ein Mißgriff, ihn entfurchen zu wollen oder zu glauben, daß unser Weg für ihn der richtige sei.«

»So möchtest du mich nicht anders haben als ich bin?« rief der junge Pharao, und seine Augen leuchteten. Sie schaute auf, freute sich ob seines sonnigen Wesens und lächelte:

»Du gleichst deinem Gott«, entgegnete sie heiter, »du bist so strahlend und du brennst so heiß.«

Sie waren nun in die größte der Grotten getreten, wo ein tiefgrüner See von grünlichem Felsgezack umrahmt war und einem Edelstein in phantastischer Fassung glich. Leises Plätschern einer Quelle, die – von schräg einfallendem Lichtstrahl getroffen, als Goldgerinnsel niederfloß – erfüllte den Raum, sonst umgab vollkommene Stille die beiden.

»Er schimmert in märchenhaftem Glanz«, flüsterte der junge König und schaute berauscht in das leuchtende Grün zu seinen Füßen. Es war wie ein Traum, diese wohltuend weichen Farben, das gedämpfte Licht, dieser zauberhafte See und an seiner Seite Isolanthis, so erdfern und so feierlich in ihrem weißen Gewand …

»Wie eine Tempelblume, vom Morgendämmern umsponnen«, dachte er.

»Komm und trink vom Wasser der Befreiung«, sagte sie und nahm den goldenen Becher, der neben der Quelle stand.

»Wenn es mich das Sehnen meines Herzens vergessen machen soll«, erklärte er sehr entschlossen, »will ich nicht davon trinken.«

Für ihn war diese Welt noch kein Tal der Schatten, sondern ein Garten der Erfüllung, durch den er mit Isolanthis zu wandeln hoffte. Er wollte sie mit den Schwingen seiner Liebe decken, wie Ra mit seinem Strahlenkleid die Erde umschloß.

»Es gibt kein Wasser, das innere Gebundenheiten hinwegschwemmt«, beruhigte sie ihn lächelnd, »man behauptet von dieser Quelle nur, daß sie von Zweifel befreie. Trink daher unverzagt, o Pharao!«

»Meiner Zweifel möchte ich 'mich wohl entledigen«, und er nahm den Becher aus ihren Händen und hielt ihn ihr an die Lippen. »Nach dir!« sagte er weich. Sie tat einen Zug, und er trank an der Stelle weiter, die sie berührt hatte.

Er begegnete ihren ernsten Augen, die nun belustigt auffunkelten, und fühlte, wie sie dachte:

»Ach, wie ist er jung …«

»Isolanthis!«

Gar viel lag in dem Ausruf. Es machte die Erbprinzessin auf einmal auch jung und froh.

»Ramon Phtha!« neckte sie ihn und versuchte seinen Ton nachzuahmen.

Sie lachten beide wie Kinder vertieft in ein neues Spiel.

Die Augenblicke verwehten, dämmriger wurde das Dämmern, in die Züge der Erbprinzessin kroch wieder der alte Ernst.

»In eurem Lande sind die Menschen alle innerlich alt wie eure hohen, hohen Berge …«, seufzte er.

»Deshalb glüht in ihnen der Geist des ewigen Feuers …«, erwiderte sie lächelnd.

»Ra wärmt die Welt, doch euer Feuer glüht nur …«

»Friert es dich bei uns?«

»Nicht in deiner Nähe, obschon ich mich oft frage, ob du zu lieben verstehst, o Isolanthis?«

»Was nennst du Liebe? Den Rausch mit glühendem Auftakt, gefolgt vom Auseinandergleiten, sobald dem Urzweck des Seins Erfüllung wurde? Das ist nicht mein Weg …«

Er schwieg.

»Eines jeden Menschen Art ist anders, weil jede Seele andere Wege geht. Der Gipfel bleibt sich gleich. Du möchtest vom Wärmequell in dir verschwenderisch abgeben, ich möchte mit meinem Licht anderen den Pfad erhellen. Das himmlische Feuer verkörpert sich in zwei Formen: Als Wärme, das ist Liebe, und als Licht, das ist Geist. Ohne sie kann nichts leben, nichts werden, sich nichts entwickeln …«, und als sie seine Augen sich in Trotz oder Bestürzung trüben sah, fügte sie tröstend hinzu: »Ergänzen wir uns, o Ramon Phtha, sei meine Wärme und laß mich dein Licht sein …«

Sie stellte den goldenen Becher zurück auf den Felsvorsprung und schritt ihrem Begleiter voran durch Höhlen und Gänge bis hinaus ins Freie, wo der Tag weich verdämmerte und der Mond schon als silberne Fruchtschale über den Hügeln hing, während die Stadt der fließenden Wasser noch wie eine Riesenkrone gleißte und funkelte.

Durch den sinkenden Abend näherte sich ihnen Daminophis.


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