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Im Haus der lichtlosen Sterne

Das grünblaue Tuch um Kopf und Schultern geworfen, darunter ein schlichtes weißes Gewand, eilte Isolanthis dahin, die eßbaren Knollen einer Waldpflanze im Korb, dicke Distelstengel im Arm. Das würde nun für mehrere Mahlzeiten reichen. Wie gut, daß Colotli gestern einen eßbaren Wildvogel geschossen hatte!

Der Gedanke an den trägen Skorpion führte zu anderen, minder erfreulichen. Welch ein Pfuhl mußte das Haus des Genusses sein mit seinen innersten Kammern und mit seinen zauberschwangeren Bräuchen, bei denen Tiere eine große Rolle spielten. Auf welch düstere Irrwege gerieten die Wissenden überhaupt, was gärte da unten im Volke, die hohe und reine Weisheit trübend. Heiliges zu unheiligen Zwecken herabwürdigend. Ob alles wahr sein konnte, was man sich von Arototec erzählte?

»So bist du wieder in der Heimat, Isolanthis?« fragte eine harte Stimme hinter ihr und, sich umdrehend, erkannte sie den Thronratgeber. Sieben Jahre hatten das Gesicht noch verfinsterter, den Mund verkniffener, die Züge entschlossener gemacht, aber in den Augen, denen zwingende Gewalt innewohnte, sah das junge Mädchen mehr als andere Menschen: sah tiefes, hoffnungsloses Leid. Ganz dunkel und glanzlos waren diese Augen, als sei in ihnen alles erstorben – alle Liebe und alles Licht.

Ihn trug nur sein unbegrenztes Selbstvertrauen, das in seiner an das Wunderbare reichenden Willenskraft wurzelte. Er war wandelnder Wille geworden …

Ihre Blicke tauchten furchtlos in die seinen, als sie entgegnete:

»Siotatls Tod machte meinem Aufenthalt im Reich des Westens ein Ende.«

»Hast du viel gelernt?«

Kalt und prüfend klang die Frage; sie kannte diesen Ton.

»Ich durfte mehr geben als nehmen, denn nichts auf Erden gleicht unserem Erbland. Was ich an Skizzen und Entwürfen mitbrachte, trug ich schon zu Daminophis ins Haus der schönen Künste. Groß sind dieses Jünglings Gaben – erstaunlich bei solcher Jugend«, fügte sie hinzu.

»Daminophis ist ein liebenswürdiger Träumer, ein Schwimmer im Trugwasser vergehender Schönheit, aus dem er manchmal liebliche Formen mitbringt. Begabt, ja; sonst …«, seine Mundwinkel senkten sich verächtlich, »vom zähen Blumengewinde der Sinnenfreude umstrickt, jedem Antrieb gehorchend, unterwerfbar …«, er brach plötzlich ab.

»Nicht jeder Mensch gleicht dir, Arototec«, sagte Isolanthis lächelnd, »und wenn sie dir glichen, so müßten die Seejungfrauen demnächst Wasser schöpfen, die Erdgeister Sand schaufeln und die Luftfeen dir passende Winde zutragen.«

Um seinen strengen Mund zuckte es wie ein keimendes Lächeln, das jedoch erstarb, da er jedes Lachen seit langem verlernt hatte, aber der Kummerschleier in seinen Augen war einen Herzschlag hindurch lichtdurchwoben.

»Du bist die alte geblieben …« Befriedigung durchbebte die Stimme. »Willst du dir anschauen, was ich an Wissen aus den kreisenden Jahren gehoben oder … fürchtest du dich?«

»Vor dir?!« Ein Ton von Wärme ging durch die Frage. »Viel hast du mich gelehrt, als ich, ganz jung, ins Haus der Wissenschaften gebracht wurde.«

»Ich habe auch heute noch nicht den Eindruck abschreckenden Alters, wenn mein Blick dich streift«, erwiderte er trocken, um eine ihm fremde Rührung zu verbergen, »doch was schleppst du da in Korb und Arm wie eine Sklavin?«

»Mrumknollen. Gemahlen und gekocht werden sie zu steifer Masse, und mit frischem Fruchtsaft genossen sättigen sie rasch. Die Distelstengel dünste ich – auch sie schmecken.«

Arototec wollte etwas über die unglaubliche Einfachheit der Lebenshaltung in ihrem Hause sagen, änderte indessen rasch seine Absicht und winkte einem Diener.

»Trag diese Dinge hinab in das Haus der weißen Blumen und übergib sie Roxa, der Sklavin, deren Zunge so unermüdlich plätschert wie die fließenden Wasser unserer Stadt«, und sich zu Isolanthis wendend, bemerkte er kurz: »Folge mir!«

Hinter dem hohen Torbogen befand sich eine Treppe, und am Ende eines schlecht erhellten Ganges zeigte sich ein dunkelvioletter Vorhang, den Arototec zurückschob.

»Tritt ein!«

Gespannt beobachtete er sie. Niemand außer seinen beiden erprobten Dienern durfte diesen Arbeitsraum betreten, der im Grunde eine Riesenhalle war, in der ein Mensch zum Nichts wurde. Künstliche Skelette, siebenmal die schon beträchtliche Durchschnittsgröße von drei Ellen eines Atlanters überragend, standen an den schwindelnd hohen dunklen Wänden, und die einzige Beleuchtung fiel aus Tierschädeln, meist denen des Elentiers. Nachbildungen lemurischer Tiergerippe reihten sich aneinander; auf der schwarzen Steinplatte, die den Arbeitstisch darstellte, brannte Licht in einem Menschenschädel, und auf dem Boden standen merkwürdige Krüge, vorn gerade, rückwärts stark ausgebaucht.

»Nun?!« erkundigte sich Arototec, hinter ihr stehend, denn an dieser Stelle pflegten Verbrecher, die ihm zu Versuchszwecken überlassen wurden, ohnmächtig zusammenzubrechen; und in der Tat war der Anblick der Halle nichts für schwache Herzen. Die Gerippe schimmerten grünlich, auf den Totenschädeln lag es wie Verwesungsschein, und die bleckenden Mäuler wirkten schon durch ihre Größe und das aus den Augenhöhlen brechende Licht furchteinflößend, doch Isolanthis sah mit innerer Befriedigung Mond und Sterne um ein Herz an der Wand gemalt, und das Herz bedeutete die Sonne, sowie auch das »Herz des Himmels« oder den Führer dieses Sonnengefüges; ebenso war das Elen ein Sonnentier, und die schwarzen Schlangen auf dem Fußboden gehörten zu jeder Form von Zauber, dem weißen wie dem schwarzen. Es konnte sich bei Arototec keineswegs nur um finstere Mächte und deren Anrufen handeln. Auch waren die Zeichen über dem Torbogen durchwegs Heilszeichen – Himmel und Erde, der Dreizack und Sinnbilder der Wende, wie die stark gekrümmte Schlange.

»Nun?«

Sie drehte sich um.

»Die meisten Zeichen verstehe ich, doch nicht jenes drüben, das beinahe die Form eines gebrochenen Vierecks hat.«

Der Anflug des Lächelns um seinen Mund vertiefte sich. Ihr Wunsch nach Wissen siegte über alle Furcht, und zudem verstand sie vieles, was anderen verborgen war.

»Das ist ein Bannungszeichen von bedeutender Kraft«, erklärte er, »dem selbst Wesen anderer Ströme gehorchen müssen.« Eine freudige Bewunderung erhellte einen Herzschlag hindurch sein finsteres Gesicht. Wie zielsicher sie war!

»Warum hat die Schlange den Kopf nach rechts gedreht? Meist zeigt sie …«

»… die Wende einer Wandlung zum Licht an«, ergänzte Arototec die Frage. »Gewiß. Es gibt indessen auch Wenden … zur Tiefe …«

»In deiner Halle und in dir«, sagte Isolanthis furchtlos, »kreuzt sich das Dunkle mit dem Lichten. Die Frauengestalt mit trauergeneigtem Gesicht, auf der geknoteten Schnur kniend, deutet die an den Stoff gebundene göttliche Urkraft an, die nach Befreiung ringt: das ist noch Licht. Du aber kleidest dich in Dunkelviolett, und in diesem Raum wiegt schon diese Farbe vor. Wärmendes Wissen ist hellviolett, nicht düsterfarbig. Warum …?«

»Das ist die Welt der lichtlosen Sterne, in der du dich bewegst, o Isolanthis!« Ein Grollen wie unterirdischer Donner umdrohte die Worte.

Sie sah ruhig zu ihm auf.

»Ich wünschte, es gelänge mir, in deinen erloschenen Sternen hellen Schein zu wecken«, erwiderte sie sanft. »Du kennst ja so gut wie ich das alte Sprüchlein unserer Rasse: Aus Licht sind wir geboren, zu Lichtträgern erkoren, in Unwissen verloren, bis wieder wir geboren zurück zu Glanz und Licht.«

»Man wirkt auch Großes … in der Finsternis!« entgegnete er dumpf.

»Großes vielleicht …«, es klang zögernd, »aber Unvergängliches? Groß ist nur, was in der Ewigkeit bestehen kann.«

Er fegte den Einwand mit ungeduldiger Gebärde hinweg und bedeutete ihr, sich zu setzen. Er selbst ging ruhelos auf und ab. Nach und nach, während er seine Entdeckungen erläuterte, belebte sich sein Gesicht, das sonst einer Steinmaske glich, und nur die Stimme blieb hart und sachlich. Plötzlich fragte er streng, wie damals, als er noch ihr Lehrer im Haus der Wissenschaften gewesen:

»Was weißt du von den sieben Entwicklungsströmen dieser Erde? Welche sind es?«

Sie sann nach.

»Der Menschheitsstrom, der Erdstrom, der Wasserstrom …«

»Wie vereinigen sie sich später?«

»Zum Strom der Luft-, Wasser-, Feuer- und Erdgeister, die zu Lichtgeistern werden, wenn ihre Entwicklung die Persönlichkeitsebene erreicht hat …«

»Wann erreicht der Strom der Menschheit diese Ebene?«

»Wenn das Ichbewußtsein voll erwacht ist und sich das höhere Selbst mit dem niederen verbindet …«

»Und das ist?«

»Wenn die Schranke erreicht wurde; aus dem Tier wird Mensch.«

»Mit anderen Worten: Wenn die Seele auf ihrem Pfad der Erfahrungen zum erstenmal als Mensch wiedergeboren wird, nachdem sie in den drei unteren Reichen Wissen gesammelt hat …«

Isolanthis nickte.

»Vermagst du ganz genau anzugeben, wie die Seelen gehen, die dem Strom der Menschheit folgen wollen?«

»Vom Stein zu Moosen und Farnen, von blühenden Sträuchern zu fruchtenden Bäumen, von wilden Säugetieren zum Herden- und Haustier …«

»Gut. Kennst du auch den genauen Werdegang des mittleren Erdstroms?«

»Vielleicht.« Sie sann nach. »Auch vom Stein ausgehend und über Pilze zu Spaltpilzen, von diesen zu Kerbtieren und …«

»Stimmt. Sie werden im Aufstieg zu Schlangen und endlich zu Vögeln. Dann?«

»Oberflächenelfen, erst Feuer- und später Luftgeister und jenseits der Persönlichkeitsschranke Lichtgeister auf höherer Ebene …«

Arototec nickte lebhaft.

»Der Wasserstrom?«

Seine Fragen knatterten immer hart heraus, doch tief im Herzen freute er sich, daß Isolanthis ihr Wissen nicht nur erhalten, sondern es vertieft hatte.

»Er geht über Muscheln, Korallen, Schwämme, Fische zu Wasser- und Wolkengeistern …«

»Schön. Nun höre. Außer dem Menschen-, Erd- und Wasserstrom, letztgenannter teilt sich übrigens in zwei Ströme, gibt es noch vier weitere: den Strom der Urteilchen, den der Urstoffe, der Urschwingungen und einen, dessen Art zu ergründen mir bisher noch nicht gelungen ist. Ich glaube ihm jedoch auf der Spur zu sein und arbeite fieberhaft. Sie alle bindet und treibt die göttliche Urkraft, der Schöpfungswille. Durch die Dichte des Stoffes sind sie gebunden, bis sie alles Wandelbare vergeistigt haben …«

»Bis aus dem Schleier des Unwissens die Klarheit des Wissens hervorgegangen?«

»Ungefähr.« Er blieb vor ihr stehen. »Siehst du, diese Ströme möchte ich uns – der Menschheit – nutzbar machen. Deinen Scherz von vorhin trachte ich allen Ernstes in Wahrheit zu verwandeln. Etwas ist mir geglückt, mehr muß mir gelingen. Warum sollen mir Erdgeister nicht ihre Geheimnisse verraten, nutzvolle Kräfte offenbaren? Weshalb dürfte mein Wille nicht Wolkengeister zwingen, mir – wenn ich Regen benötige – das richtige Maß von Nässe zu spenden? Wenn ich zur Befruchtung gewisser Pflanzen auf weiten Strecken Wind von der Sonnenaufstiegseite brauche, warum sollten ihn mir die Luftgeister nicht zublasen?« Eine Art Seherverzückung kam über ihn. »Ja, das Meer soll zurückweichen, sobald mein Wille es begehrt, damit wir die Felsen zu neuen Bauten heben können, und Kräfte, denen ich noch nicht ganz Herr geworden, sollen uns Werkzeuge und Menschen bei solcher Hebungsarbeit ersetzen …«

Er ließ die Arme sinken und fragte in seiner gewohnten nüchternen Weise:

»Hast du gehört, was Menschen unserer Kaste – denn um das Volk in seiner Beschränktheit und abergläubischen Furcht kümmere ich mich nicht – von mir behaupten?«

»Daß du im Bunde mit den dunklen Mächten stehst und deine Herrschsucht keine Grenzen kennt …«, erwiderte Isolanthis offen.

»Und du? Was glaubst du?!«

»Ich glaube«, sagte sie sehr ernst, »daß du sehr viel Gutes und Großes geleistet hast und daß du vollkommen unerschrocken bist. Du willst erfahren, an welch äußerstem Punkte dem Geiste und dem Willen eines Sterblichen unüberschreitbare Grenzen gezogen sind. Du suchst, nicht um der Macht, sondern um des Wissens wegen; dennoch begibst du dich in ernsteste Gefahr, denn du greifst in Reiche, die uns verschlossen, tust Dinge, die verboten, liest Gedanken deiner schwächeren Menschgefährten, die dir verwehrt sind. Du versuchst Ausstrahlungen und Geister zu beherrschen, deren tiefste Wesenheiten sich deinem Wissen noch entziehen, wohl immer entziehen werden, und dadurch läufst du Gefahr, einmal das zu lösen, was gebunden ist, und viel zu zerstören – viel, nicht nur für dich allein …«

»Du bist kühn und wagst mir allerlei zu sagen, Isolanthis!«

Sie lächelte.

»Weil meine Dankbarkeit dich umfließt wie der Rauch eines Opferstäbchens; ich bewundere dich, und weil ich dein Wissen im Dienste des Lichtes leuchten sehen möchte, bange ich um deine Seele und um dein Leben. Ich wünschte …«, sie senkte das Haupt, wie von plötzlicher Trauer erfaßt, »daß in dir die Seite des Aufstiegs siegen würde; die Wende zum Licht …«

Er geleitete sie stumm bis an den dunkelvioletten Vorhang, und sie glaubte schon, ihn ernstlich verletzt zu haben, doch als er das Binsengeflecht hob, sagte er freundlich:

»Komm bald wieder in das Haus der lichtlosen Sterne, auf daß meine Seele sich zuzeiten an unerloschene Gestirne erinnere …«

Dann ließ er zwischen ihr und sich den dunklen Vorhang fallen.


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