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»Das Leben ist doch viel reizvoller geworden, seit wir Erbprinzessin sind«, überlegte Roxa, die sich in der Palastküche gnädig Proben der verschiedensten Speisen vom bald beginnenden Krönungsmahle darreichen ließ. Man mußte nicht immer selbst laufen, man durfte andere Menschen laufen machen, und die weißen Gewänder wurden von andern Leuten gewaschen, die weniger wichtig waren als sie, Roxa. Überdies wußten es sogar die »Unwissenden vom Rande des dritten Walls«, wer man war, und hatten plötzlich Zungen und Finger zum Gruß übrig.
Sie blickte, mit sich und mit der Welt zufrieden, an sich nieder. Das braune Palastgewand mit dem scharlachroten Muster des Dreizacks als Saum war ebenfalls eine verbesserte Auflage früherer Kleidung, und die weichsohligen Palastsandalen gestatteten lautlose Annäherung an klatschlustiges Gesinde. Knisternde Vorhänge wurden von eifrigen Palastknaben gehoben, wenn sie sich zeigte, und immer fand der Koch einen Leckerbissen, sooft sie geruhte, sein Reich zu betreten. Auch der Mundschenk goß Palmenwein in silberne Schale und reichte sie ihr, sobald sie sich zeigte.
Künftighin würde es auch ihre hohe Aufgabe sein, die Bittsteller aus dem dritten Wall zu empfangen, sie gleichsam zu sichten, nach ihren Wünschen zu fragen, ihren Bitten ein gnädiges Ohr zu leihen und sie endlich zur Erbprinzessin zu führen. Dabei durfte sie ihren würdigruhigen Gang beibehalten, den zu erschüttern Isolanthis bisher geliebt hatte.
Nun tat sie einen Schluck vom Gerstenbier, das für das zahlreiche Gefolge der Fürsten bestimmt war und das eben in Riesenkrüge geschüttet wurde. Träger standen schon bereit und hoben die blauen Gefäße, die so geschickt geformt waren, daß sie sich wie mit Füßen an den Schultern der Träger festhielten und nicht leicht ins Wanken gerieten. Zwischen den Doppelkrügen hatte eben noch das Gesicht des Trägers Platz.
»Gut«, erklärte Roxa und griff nach einem zweiten Kruge, um auch davon einen Probeschluck zu tun. »Gut, wenn ich nun auch noch von jenem gedünsteten Vogel ein Stücklein erhalten …«
Aber zwischen Wunsch und Erfüllung schob sich der Keil jäher Pflicht.
»Schnell, schnell, Roxa«, rief ein hereinstürzender Palastknabe, »jemand will sofort mit Isolanthis sprechen.«
»Heute?!« Entrüstet klang es, denn die gedünstete Sumpfente näherte sich, »heute – wenn wir soeben gekrönt worden sind?«
»Es scheint ein Mann in großer Herzensnot zu sein, einer der höchsten Kaste, obschon er einfach gekleidet ist und unten im dritten Wall wohnt«, ergänzte der Knabe seine Mitteilung und erzielte dadurch, Roxa in Bewegung zu setzen.
Mit einem Seufzer verzichtete sie auf die Ente und folgte dem Knaben durch die Gänge bis zu der Halle, in der Isolanthis künftighin jeden empfangen wollte, der eine Bitte an sie zu stellen hatte oder sie aus irgendeinem Grunde zu sprechen wünschte.
»Kronen haben ihre Lasten«, murmelte sie. »Es ist nicht so leicht, Erbprinzessin zu sein, als sich das unwissende Volk das denkt.«
*
Isolanthis hatte sich nach beendetem Festzug nicht sogleich in die ihr bestimmten Gemächer im ehemaligen Frauenteil des Palastes begeben, sondern war auf einen zugeflüsterten Rat Arototecs hin über den Herrscherweg zu Torototec geeilt, der mit dem greisen Priester und mit Teokol das Ergebnis der Zukunftserforschung besprach. Durch den Tempeleingang sah man unklar die herrliche Goldfigur Poseidons, die bis zur Decke reichte und von Seejungfrauen aus Silber umspielt war. Der starke Duft frischen Räucherwerks schlug Isolanthis entgegen, als sie sich den Sprechenden näherte.
Sie erblickend, rief Teokol klagend:
»Der heilige Widder ist geschlachtet worden …«
»Es stehen Zeichen am Himmel, es zeigen sich Zeichen auf Erden …«, seufzte der ältere Priester.
»Um es kurz zu sagen«, Torototec hatte viel von der Unmittelbarkeit seines Freundes, des ersten Thronratgebers, angenommen, »das Opfertier sah sehr schön und gesund aus, aber seine Eingeweide, die, wie du weißt, tadellos liegen sollten, zerfielen schon beim Herausnehmen und verbreiteten einen schier unerträglichen Gestank.«
»Ein böses Zeichen …«, sagte Isolanthis besorgt.
»So schön und so gesund und dennoch dem Verfall nahe …«
»Ach, wenn ein Volk so hoch gestiegen ist, daß es seine Macht und sein Wissen nur noch mißbraucht, kommt der Abstieg. Noch glüht sonnengleich die alte Weisheit in den Herzen der Besten, aber Fäulnis und dunkles Streben greifen mehr und mehr um sich …«, klagte der greise Priester.
»Der Fall der Blätter, sonst einem stürzenden Bache gleich, wurde diesmal, durch eine unerwartete Zugluft, zu einem Wirbelsturm; die Blättchen flogen hoch und verflatterten in alle Winde …«
»Ja, selbst der Knabe, der in eine Schale mit Wasser sah, über dem ein Stern funkelte, fiel plötzlich in Ohnmacht …«
»Was behauptete er, gesehen zu haben?« fragte Torototec streng.
»Nichts Schreckliches, das ist das Erstaunliche«, erwiderte Teokol. »Schwarze, sich jagende Wolken und eine lichte Frauengestalt, an deren Haar der Wind zerrte …«
»Wie eine Blume, so wächst und blüht und welkt ein Volk, das ist der Kreislauf des Seins«, warf mit trauriger Stimme der greise Priester ein,
»Wie immer es noch werden mag«, erklärte Torototec sehr sicher, »auf keinen Fall dürfen die ungünstigen Vorhersagungen bei Ataxikitlis Thronbesteigung dem Volke bekannt werden.«
»Man darf nicht nur vorenthalten, man muß auch etwas geben: Ein Volk gleicht darin einem Kinde, daß es ein Sprüchlein liebt …«
»Es darf beruhigend sein, muß jedoch Wahrheit enthalten«, mahnte der alte Priester sehr ernst, »aber wo in diesem Dunkel ein Körnchen Trost finden?«
Hinter Teokol, wo sich ohne des Priesters Wissen einige Tempelknaben versammelt hatten, gab es ein Gepuffe.
»Was soll das?« fragte der Priesterlehrer streng.
»Der Knabe …«, begann einer von ihnen und schob ein halbes Kind vor, das mit geschlossenen Augen stehen blieb und wie im Traumschlaf schien, »singt immerzu ein Lied, doch mit einer Stimme, die nicht seine Stimme ist.« Halb furchtgequält, halb anklagend kam es.
»Ist das nicht der kleine Jünger, der auserlesen war, in die Schale mit dem Wasser zu schauen, und der ohnmächtig wurde?« fragte Torototec und trat näher.
»Er ist es! Seid ruhig, damit wir hören, was er murmelt!« befahl Teokol den eifrig flüsternden Knaben, die erregt das allem Anscheine nach schlafende und doch gehende Kind zu umringen trachteten.
Als Teokol seine Hand beruhigend auf des Kindes Schulter legte, öffneten sich die Augen, doch verblieben sie blicklos, wie nach innen gekehrt, und als volles Schweigen herrschte, sang der Kleine mit merkwürdig tiefer, fremdklingender Stimme, die von weither zu kommen schien:
»Wohl stehen Schatten um König und Thron,
doch trägt geduldig die schwere Kron'
in Liebe: Isolanthis.
Ihr Herz ist des Volkes bester Schrein,
sie wird ihm Führer und Helfer sein
in Liebe – Isolanthis.
Ob der Schweigsame spricht, ob der Schläfer erwacht,
ob tobt und wütet des Sturmes Macht,
bis an die Pforte des Todes doch wacht
in Liebe – Isolanthis …«
Darauf schlug – nachdem er noch einmal wie schlafend dagestanden – der Knabe die Augen auf und schaute erstaunt um sich.
»Er weiß nichts – –«, sagte Teokol leise, die übrigen Knaben verscheuchend, »sein Wissen kommt ihm von weither.«
»Wo immer er es her hat«, erwiderte Torototec sehr bestimmt, »so ist es gut. Bring frohe Kunde den Harrenden hinter dem Wall.«
Teokol fuhr mit der Hand über des Kindes Stirn. Etwas von der früheren Starre befiel den Knaben, doch ging er zielsicher über den weiten Hof und hinaus zum Volke, um ihnen das Liedlein zu singen.
Isolanthis stand tief ergriffen da. Man bedurfte wirklich ihrer. Große Pflichten waren ihr auferlegt worden, und treu wollte sie sie erfüllen. Sie wandte sich ab, um nicht zu zeigen, daß zwei Tränen ungeachtet all ihrer Beherrschung die Wangen niederrollten.
Da fühlte sie eine Hand auf ihrem Haupte und die weiche Stimme des alten Priesters, die da sagte:
»Du bist zu großer Aufgabe auserwählt. Sei gesegnet!«
Ein Bote stürzte vom Palast her.
»O Isolanthis, ein Mann aus höchster Kaste, der halb von Sinnen ist, wünscht dich zu sprechen. Sein Jammer ist erschütternd – komm!«
Sie nahm Abschied von den Versammelten, um dem Boten zu folgen. Als sie an Teokol vorbeischritt, vernahm sie sein flüsterndes »Zu Leid bist du gekrönt worden« und fühlte tief die Wahrheit seiner Worte.
Dennoch drang ihre Trauer nicht bis zum Grunde des Herzens, denn in Zukunft sollte es ihr vergönnt werden, viel Not zu lindern und viel Kummer in Freude zu verwandeln.
Als sie jedoch die Halle betrat und den rastlos auf- und ablaufenden Mann nach seinem Begehr fragte, mußte sie lernen, daß auch ihrer Macht Grenzen gezogen waren, denn es war Moanis Vater, der ihr zu Füßen sank, um ihr sein tiefes Leid zu klagen.
»Sie ist verschwunden … spurlos verschwunden … Gnade … Hilfe …«
Es kostete Isolanthis Mühe, die spärlichen Tatsachen in Erfahrung zu bringen.
»Sie ist verschwunden, o Isolanthis, spurlos verschwunden. Der Tau meines Herzens, der Goldfalter unseres Gartens, unsere lichte Freudenwolke, sie ist nicht mehr …«
Seit wann er sie vermisse?
Seit dem Abend des Vortages. Als die Abendschatten das Braunrot des Pflasters in trübes Blau verwandelt hatten, war sie aus dem Torweg getreten. Die Kuppel des Palastes hatte wunderbar geglüht. Er hatte Moani, wie so oft, gegen den zweiten Wall hinaufsteigen sehen und keine Furcht um sie empfunden. Sie ging zwischen Tag und Dämmern so dahin, wie Mädchen es lieben, wenn die Zeit der Träume gekommen … Erst als der Mond das Gold der Palastkuppel in bleiches Silber verwandelt hatte, war Unruhe über ihn gekommen und hatte ihn hinausgetrieben in Suche nach seinem Kind. Sie war wie ins Licht hineingegangen und im Dunkel erloschen.
»Hast du bei allen Freunden nachgefragt? Hast du …«, Isolanthis zögerte, »an alle deine möglichen Feinde gedacht?«
»Ich suche sie ununterbrochen von Sonnenuntergang bis wieder zu Sonnenuntergang. Meine Füße sind wund und mein Herz ist müde. Warum wird mir mein Liebstes genommen?«
»Alles soll getan werden, um Moani zu finden, alles, was in meiner Macht steht«, gelobte sie ihm, »doch schau in dein Herz, ob du nie ähnliches Leid über eine andere Seele gebracht hast. Du weißt, daß die Ernte der Saat gleicht und daß unsere eigene Schuld uns einmal, irgendwo, in fremder Form entgegentritt. Geh heim! Die Suche beginnt!«
»Ihr Liebreiz glich einer Blume«, sprach er zitternd, und in seinen Blick stieg Fremdes, wie ein schauriges Erinnern, »finde sie – finde sie – – – finde sie – – ehe sie verwelkt.«
Lange nachdem Isolanthis alle nur denkbaren Maßregeln ergriffen hatte, saß sie immer noch unbeweglich auf ihrem Ruhebett, in stumpfe Hoffnungslosigkeit versunken, denn sie wußte, sosehr sie gegen dieses bittere Wissen ankämpfte, daß man Moani nie finden würde, ja, daß es besser war, sie nie zu finden, weil der Anblick einer entblätterten, hinsterbenden Blume schwerer zu ertragen war als voller Verlust.
Wie lieblich war sie doch gewesen im roten Schein der Fackeln, im fahlen Licht des aufsteigenden Mondes, die blauen Flügel vom Winde leicht bewegt. Mußten Träume immer so enden: in Leid oder in Verzichten?
»Man harret deiner!« meldete bescheiden ein Palastknabe.
Sie erhob sich müde und durchmaß, in Gedanken vertieft, Gänge und Hallen. Die erste Bitte, seit sie rechtmäßig die Krone der Erbprinzessin trug, und dennoch unerfüllbar …
Geblendet vom Lichterschein der Festhalle, sah sie auf.
»Endlich kommst du, o Isolanthis!« rief ihr eine erregte Stimme entgegen, als sie ihren Platz an der Königstafel einnahm, und aufschauend mußte sie durch all ihr Herzweh hindurch lächeln, denn der König der dunklen Erde trug noch unversehrt die blauen Flügel des Traumlandes, und in seinen Augen schimmerte noch immer sieghaft der Abglanz der Traumlandfackeln.
Sehr hell und … sehr rot …