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Der Palastwächter hob den Vorhang aus rotem Geflecht und fragte herrisch:
»Dein Begehren?«
»Zum König.«
»Dein Name?«
»Ataxikitli.«
Zurückgedämmte Ungeduld durchgrollte die Stimme wie ferner Donner.
Der Wächter verbeugte sich in stummer Begrüßung und winkte einen dunkelbraunen Sklaven herbei, der den Gast durch viele Gänge und über mehrere Treppen bis an einen Vorhang brachte, vor dem er in die Hände klatschte. Ein Palastdiener in dunkelblauem Gewand, einen glatten Stirnreifen aus Orichalcum tragend, erschien aus der Schwelle und geleitete Ataxikitli in ein Gemach, das nach Landesbegriffen klein und niedrig wirkte, weil die meisten Räume ungeheure Hallen waren.
»Geruhe, hier unseres Herrn und Königs zu harren!«
Ataxikitli sah sich prüfend im Raume um. Die grünblauen Wände trugen geheime Zeichen, die Zierpfeiler waren überschlanke Frauenkörper in goldenen Gewändern, die nachdenklichen Gesichter gesenkt, die weichen Arme ausgestreckt, in den Händen ein goldenes Band weiterreichend: Das Sinnbild vom Kreislauf des Seins.
Kein Laut der Außenwelt drang durch die mächtigen Mauern, die aus riesigen behauenen Felsblöcken aufgebaut waren, und zwar nicht gerade, sondern schief übereinanderliegend, so daß dadurch die Verzweigung des Lebensbaumes und das Aufstrebende alles Seins angedeutet wurde. Von der Decke hing eine goldene Sonne, und ein Steinsockel, über den Leopardenfelle geworfen waren und zu dem einige Stufen führten, bildete eine Art Thron. Kleinere, hellgrüne Steinwürfel dienten als Sitze, sonst lag frostige Kahlheit über dem Raum.
Die Augenblicke vertropften unbemerkt. Es war, als stünde die Zeit still. Herz und Augen suchten nach einem Ruhepunkt, die Gedanken schwirrten unstät hin und her wie aufgescheuchte Vögel. Wieviel durfte er sagen? Was fragen? Warum kam der König nicht? War Etelku bei ihm und erfuhr neuerdings wichtige Dinge, die ihm später auf geheimnisvolle Art geraubt werden würden?
Ataxikitlis ungeduldig umherstreifender Blick blieb endlich auf dem Sinnbild des Lebensbaumes an grünlicher Seitenwand haften. Fürwahr: es stand nicht nur für die stoffliche wie für die geistige Welt, dieses Doppelkreuz, auch das ganze Leben glich einem Baume. Die Mitte war Fülle und Ausbreitung, Wurzel und Gipfel zeigten Verengung und Gebundenheit. Greise waren wie hilflose Säuglinge, daher liebten Kinder und ganz alte Leute die Geborgenheit kleiner Räume. Es mochte einem unbewußten Rücksehnen nach der schützenden Enge des Mutterleibes entspringen. Eine Tatsache stand fest: Unreifes und Überreifes gehörten nicht auf einen Thron …
Ein leichtes Geräusch unterbrach sein düsteres Grübeln. Eine Gestalt, deren früher erstaunliche Höhe die Jahre stark vermindert hatten, die jedoch in der weißen Gewandung mit dem breiten, fransenbesetzten Goldgürtel und dem Goldreifen mit dem heiligen Dreizack um die Stirne noch immer sehr königlich wirkte, näherte sich langsam. Auf dem reich eingelegten Fußboden ertönte das ebenmäßige Aufschlagen eines schweren Goldstabs.
Ataxikitli beugte ein Knie und hob drei Finger der Rechten zum Gruß.
»Poseidon segne dich!« Kaum merklich war die Handbewegung des Königs. »Was führt dich zu mir?«
Siebzig Jahre Königswürde hatten Naxitli dem Ersten bewiesen, daß jeder ihm Nahende einen Wunsch verkörperte. Ataxikitlis Antwort erfüllte ihn daher mit einem Staunen, das rasch von Mißtrauen verdunkelt wurde.
»Du willst nichts … nichts … als mich wiedersehen? Warum?«
Ataxikitli fühlte, daß ihm jede Erklärung schwer wurde. Sein Kommen war uneigennützig, bezweckte nichts Persönliches und entsprang dennoch einem bestimmten Begehren. Was ihn die Nähe des greisen Herrschers suchen ließ, gipfelte in dem Wunsche, ihn vor Arototec zu warnen. Er war überzeugt, daß der König bewußt oder unbewußt in Bahnen gelenkt wurde, die den alten Sitten von Poseidonis zuwiderliefen. Einem vorsichtigen Auskundschaften königlicher Absichten galt sein Erscheinen bei Hofe. Das einzugestehen, war unmöglich, solange er nicht erfahren hatte, bis zu welchem Grade Naxitli, der Getreue, schon unter dem Einfluß der dunklen Mächte stand.
»Königlicher Herr und liebwerter Vetter, ist es so erstaunlich, daß jemand, in dessen Adern auch das Blut des Fürstengeschlechtes von Atlantis rollt, einmal Nachschau hält?«
»Sehr verdünntes Blut, Vetter«, kicherte der Greis und sank schwerfällig auf den erhobenen Sitz, »zwischen dir und der Krone liegen sieben Leben …«
»Ich weiß es«, erwiderte Ataxikitli finster. »Hause ich etwa nicht wie der einfachste Mann aus der höchsten Kaste … an der Grenze …«
»… des zweiten Walls«, unterbrach ihn Naxitli. »Schlicht mag dein Hausstand sein, aber dein Herdfeuer brennt innerhalb des zweiten Walls und deine Mauer liegt schon dicht am Bau der Künste und Wissenschaften.«
»Dieser Auszeichnung verdanke ich es, daß der Gestank vom Flügel der Wissenschaften meine Luft verpestet. Sooft Arototec eine neue Erfindung zu erproben geruht, qualmen die üblen Dämpfe durch meinen Garten und vernichten Sträucher und Blumen …«, brummte Ataxikitli. Allen diesen Errungenschaften der Gegenwart, die Wasser in treibende Kraft verwandelten und Sonnenstrahlen einfingen, um selbst dieses reine Himmelsgold zu alltäglichen Zwecken auszubeuten, war er aus tiefster Seele abhold. In steifer Enge uralter Überlieferungen geboren und ausgewachsen, war ihm die Schutzhülle des Altbestehenden unerläßlich geworden. Ohne diese feste Stütze fühlte er sich seelisch einknicken, und deshalb bekämpfte er, aus einer Art Notwehr feines innersten Ichs heraus, Arototecs kühne Versuche, Leben, Kunst und Wissenschaft – in einem Wort, seine ganze Jetztwelt – völlig neu umzugestalten.
»Würdest du lieber im dritten Wall wohnen?« erkundigte sich der König und kniff die Augen zusammen. Es belustigte ihn einen Herzschlag hindurch, die Krümmungen machtloser Aufbäumung an seinem Vetter zu genießen, denn ungeachtet aller Kräftigungstränklein, die ihm Arototec einflößte und die sein Blut auf Stunden und sogar auf Tage wie in der Jugend durch seine verbrauchten Adern jagten und Körper sowie Geist vorübergehende Frische verliehen, merkte der König doch die bittere Last der Jahre, und das erfüllte ihn trotz besseren Wollens mit Neid gegen alles, was jung, stark und erst im Aufstieg war.
Ataxikitli schwieg verletzt, und Naxitli fragte etwas schambefangen ob seiner Reizbarkeit plötzlich milder und gütiger, als es sonst seine Art war:
»Wenn du dich heute aufrafftest, den höchsten Wall zu erklimmen, um mich zu besuchen, so wirst du wohl etwas auf dem Herzen haben, und sei es auch gleich etwas, das dich nicht persönlich betrifft. Sprich! Das Ohr eines Königs ist wie das Meer: Viel wird hineingeworfen, doch nur wenig, was Wert hat. Gib daher von deiner Weisheit ihm, dem alle Menschen sie vorzuenthalten bemüht sind …«
»O König, wir leben in einer Zeit großer Umwandlungen«, begann Ataxikitli zögernd, nicht sicher, was gesagt werden durfte oder weiser übergangen wurde, »und tausend bunte Fäden spinnen uns ein …«
»Wie eine Raupe von ihrer Hülle eingesponnen ist«, unterbrach ihn Naxitli lebhaft, »und wie aus solch nichtssagendem Fadenei plötzlich der schimmernde Falter bricht, so werden auch wir zu neuer Macht und einem neuen Zeitalter erwachen.« Seine Augen leuchteten. »Wir gehen einer Entwicklungshöhe entgegen, die Schwindel verursacht …«
»Schwindel, der in Sturz endet«, murmelte bitter Ataxikitli, und erklärte entschiedener: »Ich sehe nur Verfallszeichen und Gefahr. Unsere hohe Weisheit, das kostbarste Besitztum unserer Rasse, steht nicht mehr in alter Reinheit da. Es gibt Menschen …«, er zögerte, »die sich ihrer zu unlauteren Zwecken bemächtigen, die ihre ungeweihten Hände nach Verborgenem auszustrecken wagen, die der Natur streng gehütete Geheimnisse zu entreißen trachten …«
»Zum Wohle der Welt«, warf Naxitli begütigend ein, »nur zum Wohle der Welt. Kennt man zum Beispiel solche Bauten anderwärts? Glühen in anderen Ländern Lichter wie diese, die Sonnenschein in dunkelste Nacht zu werfen vermögen? Zähmt man anderswo Tiere mit Blicken allein, um sie zu erlegen, um sie durch allerart Kreuzung nützlicher zu machen, um sie in den Dienst der Menschheit zu stellen? Verstehen andere Rassen die Wolken zu Regen zu ballen oder sie zu vertreiben, wenn man ihrer nicht bedarf?«
Ataxikitli erkannte, daß Arototec den greisen König mit seinen Gedanken getränkt hatte, wie man einen Schwamm eine bestimmte Flüssigkeit aufsaugen läßt. Jedes Warnungswort schien da verschwendet, ja bedeutete überdies eine Gefahr für den Warnenden, dennoch sagte er mit eigentümlich mahnendem Tonfall:
»Ach, König, was sollen derlei schimmernde, blendende Äußerlichkeiten? Schau dir das Volk an! Müde Gesichter, triebhaftes Handeln, erschlafftes Denken, nichts als Sehnen nach seichtem Vergnügen. Was soll das? Es erzählen die Alten nicht mehr beim friedvollen Schein des Herdfeuers sinnig tiefe Berichte von Heldentaten, setzen kaum noch die weisen mündlichen Überlieferungen fort. Es singt die Jugend nur selten noch vom welterhaltenden Tanz der Feuergeister im Berggeklüft, sondern es füllt sich das Haus des Genusses allabendlich zu lasterhaften Bräuchen, zu seelenzerstörenden Taten … Wie leere Säcke, so schlaff sind im Morgenlicht die leidenschaftgesättigten Züge unserer besten Jünglinge, und ich hörte, daß man sogar im Heiligtum des Tempels das Fest des Lebenszaubers feiern soll, wobei die leblosen Figuren durch die Zauberkraft der Anwesenden in Bewegung geraten …«
»Du siehst zu schwarz«, seufzte Naxitli, und Ataxikitli war es, als spräche ein anderer aus königlichem Munde, »immer muß Altes, Morschgewordenes niedergerissen werden, ehe ein Neuaufbau möglich ist.«
»Es genügt, an einem Baume die Äste zu beschneiden, um bessere Frucht zu erzielen«, warf Ataxikitli ein, »und unser Reich ist ein alter Stamm mit weit ausgreifenden Ästen.«
Naxitli hüstelte abweisend, während der Goldstab den Mustern des Fußbodens folgte. Er stand im Banne Arototecs, aber Ataxikitlis Hinzielen auf Überliefertes, mit Land und Leuten Verwurzeltes, zwang seine Wünsche unaufhaltsam zum Gewesenen zurück, doch da seinem Denken die Beweglichkeit der Jugend sich rasch umzustellen fehlte, sagte er mit einem Anflug von Wehmut:
»Uralte Gesetze entstammen anderen Zeiten, sind oft nichts als erstarrte Anschauungen, und unser starkes Hängen an toter Vergangenheit ist oft wohl nichts als übertünchte Eigenliebe, denn der Reiz des Gewesenen liegt zumeist gar nicht in ihm selbst, sondern in dem Umstand, daß etwas heute Verlorenes einmal uns gehört hat …«
Sie schwiegen beide, im Netz der Vergangenheit gefangen, und spähten durch die Maschen auf das eigene Sein zurück. Wieder hüstelte der König sein müdes Greisenhüsteln und fuhr sich mit der Hand über die zurückweichende Stirne, den breiten Dreizack berührend. Ein Seufzer, der wie etwas Wesenhaftes an der Wand entlanghuschte, und dann, von neuem Hüsteln begleitet, die Worte:
»Ist es nicht ein merkwürdiges Gefühl, o Ataxikitli, sein Leben wie einen Ball dem Haus des Niedergangs zurollen zu sehen?«
Die unerbittliche Vergänglichkeit alles Stofflichen erschütterte den Gefragten, und ehe er sich gefaßt hatte, bewegte eine Hand den Vorhang, und Prinz Etelku erschien, um die Ankunft einer Gesandtschaft aus dem kalten Gebiete des Nordens zu melden.
»Du siehst, Vetter«, und Naxitli lächelte bitter, »eines Königs Hauptaufgabe besteht kaum im Herrschen, denn nun soll ich wieder zur Thronpuppe werden, zur festlich geschmückten Mumie mit der schweren zehnzackigen Krone auf dem Haupte, nichts als Sinnbild der Pracht und Würde dieses Landes. Sei froh, daß sieben Leben zwischen dir und dieser Pflicht stehen, und geh in Frieden!«
Ataxikitli beugte ein Knie und hob den dritten Finger zum Gruß, dann rauschte der Vorhang hinter dem König nieder und alles, was er ihm zu sagen gewünscht, blieb unausgesprochen, doch als Prinz Ekelku seinem hohen Oheim folgen wollte, hielt ihn Ataxikitli zurück.
»Hüte dich vor Arototec«, sagte er nachdrücklich und blickte den Jüngling beschwörend an, »denn seine Macht über Seelen ist groß.«
Etelku erschauerte.
»Ich weiß.« Er versuchte, sich zu besinnen, mühte sich, etwas auf dem Grunde seines Ichs in dunklen Umrissen Auftauchendes an die Bewußtseinsoberfläche zu heben, doch es gelang ihm nicht. Seine Züge verfinsterten sich und erstarrten in seltsamer Weise.
»Geh«, befahl er, und aus seinem Munde klang die Stimme eines andern, »geh! Ich habe dir nichts zu sagen.«
Als Ataxikitli den Palasthof kreuzte, über dessen graue Fliesen die riesenhaften bläulichen Schatten der zugestutzten Eiben wie tastende Finger fuhren, überlegte er in aufquellender Bitterkeit, daß er nichts, gar nichts erreicht hatte.
Diese Scheinfigur, welk und fröstelnd, war der Herrscher des mächtigsten Landes der Welt, König über viele neue Ansiedlungen, viele ungegliederte Reiche: Der Herr von ganz Atlantis, nicht von Poseidonis, der mächtigen Stamminsel, allein.
Was nützten ihm alle Heiltränklein? Der Auf- und Abstieg des Seins war von weisen Naturgesetzen bestimmt, und Frevel war es, sie umgehen zu wollen. In hundertundzwanzig Menschenjahren erschlaffte nicht nur der Leib, auch Geist und Seele ermatteten durch den steten Anprall von Gedanken- und Gefühlswogen und forderten endlich Ruhe.
Nein, unnatürlich war es, wenn samenlose Früchte langsam am Baum verdorrten, während dicht daneben unzählige Blüten aus Mangel an Raum und Entfaltungsmöglichkeit abfielen …
Und durch diese scheinlebende Mumie herrschte in Wahrheit – Arototec!
Diese Erwägungen beschäftigten Ataxikitli, bis er sein eigenes bescheidenes Haus erreichte.