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Es war eine Nacht erschütternder seelischer Umwälzungen.
Noch vor einer Stunde würde Ataxikitli den Tod, wenn nicht mit Freuden begrüßt, so doch als unausbleiblichen Schluß dieses Erdenseins ruhig hingenommen haben, nun wich er mit gleichem Entsetzen vor dem Tod wie vor dem Leben zurück, beide fürchtend, sich aus innerer Not an beide klammernd, als Pendel grausamer Unruhe zwischen beiden schwingend.
Mit dem einsickernden Tageslicht stieg – wie frischer Saft in allmählich absterbendem Baum – der Selbsterhaltungstrieb mächtig in ihm hoch. Haparu hatte sich unmittelbar vom Schiff aus unbekannt und ungenannt ins Haus des Genusses begeben. Niemand ahnte, daß er angekommen war, und noch weniger, daß er im Spätnachtdunkel an diese Türe gepocht hatte. Es war folglich, als ob er nie die Stadt der fließenden Wasser betreten hätte …
Gab es auf Erden ein Verwischen harter Tatsachen? Drehte eines Menschen vergängliche Hand je die Speiche des Schicksalsrades zurück? Verbarg man die Sonne unter einem Sieb, und glich Wahrheit nicht auf geistiger Ebene dem erhellenden und durchwärmenden Tagesgestirn?
Ungeachtet dieser bohrenden Gedanken, dieses seelischen Zauderns arbeiteten die Finger. Sie trockneten den Einband des Buches, sie beseitigten alle Blutspuren vom Fußboden, sie zogen von der Truhe im Hintergrund einen Teppich aus buntem Gewebe, den ihm vor vielen Jahren sein Vetter Siotatl geschenkt hatte, und wickelten die Leiche hinein. Als er sie wie eine Mumie verschnürt hatte, wankte er unter dieser Last keuchend die Treppe hinauf bis in das höchste Turmgemach, das nie bewohnt wurde. Da gab es an der linken Mauerseite einen losen Stein, um den nur er wußte. Als er ihn entfernt hatte, wurde ein enger Gang, in Wirklichkeit der Anfang einer nie vollendeten Terrasse, sichtbar, der in seiner Unvollendung an ein gemauertes Grab erinnerte. Im Hintergrund lagen lose behauene Steine. In diesen Stollen zog er nach vielen vergeblichen Anstrengungen Haparus Leiche und schob die Steine vor, bis nichts als eine Steinwand sichtbar blieb, die nie Verdacht erregen konnte, selbst im höchst unwahrscheinlichen Fall nicht, daß jemand den losen Stein im Gemäuer entdecken würde. Als auch dieser Stein wieder unverrückbar fest saß, lehnte Ataxikitli indessen gegen das Mauerwerk und überdachte seine grausige Morgenarbeit. Da, hinter diesen Steinen saß eher als lag die Leiche seines Vetters, des Thronerben, und nichts machte ungeschehen, was diese Nacht gezeitigt hatte. Draußen, in einer ihm unbegreiflich entrückten Welt, wurde es allmählich voller Tag, und er staunte über die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Gestern und dem Heute, die ein einziger Augenblick geschaffen hatte.
Ungezügelte Gedanken, brandende Erregung, trunkgetrübte Sinne und eine durch böswilliges Wünschen schon untergrabene Beherrschung hatten sich zur Tat geschlossen. Nichts weiter, nichts als eine Anzahl belangloser Geringfügigkeiten und doch … und doch …
Wenn sein Inneres nicht schon durch den Besuch beim König in Aufruhr gebracht, wenn Haparu ihn nicht gereizt, wenn er nicht so viel Gerstenbier getrunken, wenn er nicht in kindischem Neid nach dem Buch gegriffen, wenn …
»Ach, armes menschliches Wenn«, seufzte er. »Eine im Guten richtig verankerte Seele sieht klar alle Zufälligkeiten und steigt über sie wie über hindernde Steine hinweg. Der unbeherrschte Mensch aber rennt blindlings seinem Ziele zu, stolpert unversehens und liegt im Staube.«
Sich gewaltsam aufraffend, tilgte er die letzten Spuren seiner nächtlichen Tat und stieg die Treppe nieder. An der Wand seines Schlafgemachs hing ein großer Silberspiegel. Die glatte Fläche zeigte ihm ein verzerrtes, eingefallenes Gesicht mit flackernden Augen, zerwühltem staubgrauem Haar, von dem das Tuch geglitten, und einen wie zum Schrei geöffneten Mund.
Er betrachtete sein Spiegelbild wie etwas Fremdes und dachte staunend:
»Das … das also … bin ich?!«
Die verkrampften, über der Brust gekreuzten Arme sanken herab. Ein Seufzer brach sich an den Wänden, verzitterte in den noch düsteren Ecken.
»Das bin ich?«
Er hatte sich angemaßt, andere Menschen zu beurteilen und zu verurteilen, und bestaunte nun ratlos sein eigenes Ich.
Gestern noch …
Aber kein Wünschen hatte Macht über Vergangenes, und Zukunft bedeutete im Grunde nichts als »Tun im Heute«.
Demgemäß mußte seine Tat ihm Zukunft werden.
Sein Denken endete da; er fiel auf das Lager und sofort in tiefen, traumlosen Schlaf.
Der Körper sammelte Kraft zum Erwachen.