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»Was soll die Aufregung?«
König Naxitli näherte sich, auf seinen Stab gestützt, vom Palaste her dem Mondtempel, vor dessen Ausgang sich mehrere Priester, der behäbige Hüter der Kronschätze, Erikikatl, und eine kleine Gestalt in graublauer Gewandung versammelt hatten und anscheinend einen Gegenstand bestaunten, den Teokol, der Priesterlehrer, in Händen hielt.
Der schwere Goldstab schlug gleichmäßig auf die breiten grauen Fliesen des ungeheuren Hofes und weckte mit seinem Klang die Vertieften.
»Was gibt es?« fragte der König und trat in den sich öffnenden Kreis.
»Ein Wunder, o hoher Gebieter!« rief vorlaut der kleinste der Tempeljünger und erhielt dafür einen streng verweisenden Blick Teokols, der sich unwillig nach dem Sprecher umsah. Erikikatl hob einen winzigen zappelnden Gegenstand von weißlicher Farbe hoch und rief frohlockend:
»Ein Hund …!«
»Etwas wenig für ein Wunder«, bemerkte der König trocken. »Die Ebene wimmelt von derlei Tieren.«
»Gewiß, aber das ist nicht ein Hund wie alle anderen Hunde«, erläuterte der Hüter der Kronschätze und liebkoste die langen steifen Ohren des Tierchens, »denn er wurde im Mondtempel geboren. Seit Tagen schon vernahmen die Jünger einen seltsamen Laut und glaubten auch in der Stille der Nacht etwas Schattenhaftes zum Tor hinausschleichen zu sehen, und als Teokol heute den Opfersang anstimmte, begleitete ihn aus dem Winkel hinter einer Mondharfe leises Geweine oder Gewinsel. Ganz unirdisch klang es. Man suchte und da … war der Hund!«
»Und die Hündin?« warf Naxitli sehr kühl ein.
»Sie bleibt verschwunden«, entgegnete Teokol.
»Ich werde dem Hunde täglich aus meinem eigenen Stall frische Llamamilch schicken lassen«, erklärte der königliche Schatzmeister mit einer gewissen Selbstgefälligkeit. Er verbeugte sich tief vor Naxitli und übergab den kleinen Hund der zarten Gestalt in Graublau, hierauf schritt er, so rasch es sein beruhigender Umfang gestattete, durch den geheimen Gang zum zweiten Wall in das Haus der tausend Kostbarkeiten nieder.
Teokol winkte den neugierig herumstehenden Knaben, die sofort lautlos verschwanden, und hielt die Hände hin, um den Tempelhund wieder an sich zu nehmen, als der König fragte:
»Wer bist du, Kind, und wie kommst du hierher?«
Der Umwurf fiel vom Haupte, und Isolanthis wandte dem Herrscher ihr tief errötendes Gesicht zu, denn sie war, alter Gewohnheit treu bleibend, durch einen sehr schmalen Spalt im Mauerwerk des obersten Walls durchgekrochen. Er führte vom eigenen Garten direkt bis unter den Tempelwall. Nun zeigte sie beschämt auf die Öffnung und sagte kleinlaut:
»In den Tagen, in denen das Herz noch sorglos und der Körper unfertig ist, hattest du es mir gestattet, durch diese vergessene Lücke zu kriechen, und als ich aus dem Mondreich heimkehrte, bedachte ich nicht, daß den Großen versagt bleibt, was den Kleinen erlaubt ist.«
Naxitli musterte sie, und ein Lächeln, das warm wie in den Jahren seiner Vollkraft war, erhellte sein Gesicht, als er entgegnete:
»Ich sehe keinen Unterschied zwischen dem Einst und dem Heute. Man sagt, daß dein geistiges Wachstum groß sei, o Isolanthis, doch mußt du darüber das Wachsen deines Körpers vergessen haben. Solange du durch jene Öffnung schlüpfen kannst, sei dir der Zugang unverwehrt.«
Ein Aufleuchten ihrer dunklen Augen dankte ihm.
»Bist du gern im ersten Wall?« fragte er ihr zurückwinkend, als sie sich entfernen wollte.
»Ich liebe den Herrscherweg«, sagte sie einfach. »Es ist mir immer, als beginne er in der erdrückenden Wucht des Stofflichen und ende im Licht.«
Der König nickte.
»Er beginnt – wie das Leben – im Hause des Hellwerdens und verliert sich endlich im Flammenschein aus dem Tore des Niedergangs«, seufzte er.
»Er kommt aus dem Licht, und er endet im Licht …«, kam es leise von Isolanthis.
»Gib Teokol das Wunder aus seinem Tempel zurück«, befahl er mit feinem Lächeln, »und begleite mich! Auch du bist aus fürstlicher Sippe. Sag, würdest du gern eine Krone tragen?«
Sie schüttelte sehr nachdrücklich das Haupt und legte mit sorgender Liebe das zitternde kleine Geschöpfchen in die Hände des Priesters.
»Eine Krone hat hohen Glanz und gibt viel Macht über andere …«, fuhr Naxitli fort, während der Priester sich entfernte.
»Bedeutet große Macht nicht auch große Verantwortung?« fragte sie sanft. »Auf hohen Bergen blasen starke Winde …«
»Und du bist zart wie eine Tempelblüte …«, kam es sinnend von des Königs Lippen. »Dieser Palast ist der schönste der Welt – hättest du nicht Lust, in ihm zu leben?«
»Der wohlriechendste Balsam ist in verschraubtem Kruge – dient nur zur Einbalsamierung …«
Das Lachen des Greises war voll Güte,
»So besitze ich nichts in meinem weiten Bau, was dich reizt?«
Zögernd begann sie:
»Mein Vater … der alles weiß, was mit diesem Land zusammenhängt, pflegte mir, als ich noch Kind war, von der wunderbaren Halle der Erkenntnis zu erzählen. Da stand angeblich an den Wänden alles, was eine Seele wissen mußte, die verstehen wollte, wie der Weg war: der ihre und der Weg aller …«
»Und nach dieser Halle trägst du geheime Sehnsucht, o Tochter?«
Der König betrachtete sie prüfend mit den erfahrenen Augen der Seele, nicht nur mit den weltmüden des Greises, nickte hierauf und sagte:
»Ein Wunsch ist der Prüfstein innerster Entwicklung eines Menschen. Ein Kind begehrt die verfliegende Wolke, der Gierige greift nach dem Greifbaren. Du wünschest dir Wissen. Es soll dir gegeben werden.«
Schweigend schritt er ihr voran im dürftigen Schatten der hohen Eiben und zwischen dem Düstergrau der Standbilder, die zehn sagenhaften Könige darstellend. Die Wasser im riesigen eiförmigen Becken schimmerten grünlich, und aus dunstiger Ferne grüßten der Schläfer und der Schweigsame unter ihrer mächtigen Goldhaube. Herbsüß dufteten die Mondblumen, ganz leise ertönten aus dem Tempel die Mondharfen, und Isolanthis war es, als läge ein unirdischer Hauch von Trauer auf allem.
Der Goldstab schlug schwer auf die breiten Fliesen. Der König murmelte in sich hinein:
»Siotatl ist tot, und sein Lieblingsneffe ist tot, und Tehuan hat den Thron bestiegen. Amenavit leistete Verzicht, und Etelku ist ein liebwerter Schwächling. Nein, kaum das. Seine Seele ist licht, doch sein Wille steht unter fremdem Willen. Haparu …«
Er blieb stehen, als lausche er.
»Alle tot … alle tot …«, murmelte er und ging langsam weiter.
»Ach, Tochter«, seufzte er, sich zu Isolanthis wendend, »alles, alles Stoffliche entgleitet! Dieser mein Leib ist ebenfalls schon im Eintrocknen wie ein Bach bei wachsender Dürre …«
»Poseidon segne und erhalte dich, o König! Das Reich bedarf deiner.«
Er betrachtete sie lange.
»Du sagtest früher: Auf hohen Bergen blasen starke Winde. Wohl hast du recht. Bedenke jedoch, wenn die Zeit reif sein wird, daß ein großes Licht auf hohem Berge stehen muß, um weithin zu leuchten. Manche Seele muß wie helles Herdfeuer die Nächsten wärmen; manche Seele muß vielen anderen Seelen Licht sein. Sie steht ganz einsam …«
Sie gingen durch den langen Gang und eine breite Steintreppe hinauf, und Isolanthis wußte nicht, ob die jähe Kühle des Palastes oder die Worte das Frösteln erzeugten, das sie so stark durchbebte.
»Tritt ein und schau!« gebot Naxitli, den schweren Vorhang hebend.
Die Halle der Erkenntnis oder des Sichvertiefens war von schwindelhafter Höhe und erzeugte im Eintretenden sofort den Begriff eigener Nichtigkeit. Alle Pfeiler stellten Frauenleiber dar, die ausgebreiteten Arme zu einer Kette geschlossen und den Kreislauf des Seins andeutend. Die meisten Gesichter waren wie in Leid gesenkt, nur wenige wie in Freude oder richtiger in Erwartung erhoben.
Über dem Eingang des unteren Endes und über blauem Feld mit Sonne, Mond und Sternen kreuzten zwei Riesenfiguren die Arme: das Sinnbild des Sonnenjahres, doch auch die aufsteigenden und absteigenden Jahreszeiten, das Gesetz des Sterbens und Wiedergeborenwerdens anzeigend.
»Warum gleicht der Mond auf diesem Bilde nicht einer Schale, die sich langsam füllt?« fragte das junge Mädchen schüchtern.
»Weil der Mond im Norden der Erde senkrecht steht, nicht waagerecht, wie bei uns um den Erdgürtel. Aus dem Norden jedoch kommt alles Helle und Reine, und damit soll ausgedrückt werden, daß wir aus dem Norden, das heißt aus dem Lichte kommen, Lichtträger sind, Ausstrahlungen Gottes, in das Dunkel des Stoffes steigend, um ihn allmählich zu vergeistigen. Das Stoffliche trübt das Helle und Reine, verdunkelt es, lähmt das Beschwingte, deshalb sagt man in unseren Überlieferungen, daß der Schleier der Unwissenheit sich um unsere Seelen legte, als wir abstiegen zu stofflichem Erfahren …«
»Deshalb trägt die Gestalt zwischen den gefiederten Schlangen ein verhülltes Gesicht …«
»Mit dem Dreizack darüber, weil über der Vierheit des Begrenzten die Dreiheit des Geistes steht und der gefangene Geist zurückstrebt zu seinem Ausgangspunkt – zum Licht. Du siehst in dieser Gestalt indessen auch eine Anspielung auf unser goldenes Zeitalter: das der zwei Schlangen.«
»Und an die Zweifachheit unserer Erscheinungswelt …«
»Richtig. Überhaupt, o meine Tochter, hat jedes Sinnbild viele Bedeutungen. Zahlen und Zeichen sind immer begrenzt, doch tiefste Weisheit bleibt unerschöpflich. Selbst wenn deine längst dem Zwange der Wiedergeburten befreite Seele von Erfahren zu Erfahren durch den Weltraum fliegt und Erleuchtung sich siegreich an Erleuchtung reiht, bleibt immer noch eine Welt des Unerforschlichen dahinter …«
Sie lauschte entzückt. Es war wie ein Erinnern an oft Gehörtes, wie eine lang vergessene Melodie, die neuerdings bezaubernd an das Ohr schlug, das unbewußt darauf gewartet hatte.
»Nimm den Dreizack«, fuhr der König sinnend fort, »er ist das Sinnbild der drei Seelenkräfte im Menschen: des Denkens, Fühlens und Wollens. Er deutet die dreifache Gliederung: Stoff, Kraft und Zeit, an, erinnert uns an Körper, Seele und Geist und hat viele Bedeutungen neben den genannten. Ebenso tief ist die Bedeutung der Sieben. Schau dahin! An der Riesengestalt schweben sieben Vögel nieder. Weißt du, was damit gesagt werden soll?«
»Sie deuten«, begann Isolanthis zögernd, »mit bezug auf das Weltall die sieben Wandelsterne, mit Hinsicht auf den Menschen die sieben Seelenteile an, und bedeuten, geistig aufgefaßt, die sieben Ausstrahlungen Gottes …«
»Kannst du sie nennen?«
»Weisheit, Wissen, Kraft, Wille, Liebe, Wahrheit …«
Der König unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Sie sind vor allem Sinnbilder der sieben Schwingungskräfte im Weltall. Die beiden höchsten sind für uns Menschen nicht faßbar, sie liegen jenseits von Raum und Zeit und auch jenseits aller uns bekannten Eigenschaften, die anderen fünf entsprechen den Himmelsrichtungen um uns und über uns … sieben Welten«, murmelte er versonnen, »sieben Welten, und an allen hat der Mensch als Kleinwelt Anteil. Die Dreiheit des Geistes verbunden mit der Vierheit des Stoffes.«
Während er sprach, durchmaß er die Riesenhalle, deren blaugrüne Wände die ungeheuren Zeichen in Gold zurückwarfen, deren Boden ebenfalls viele Sinnbilder, wie die gefiederte Schlange, Weisheit andeutend, aufwies, und Isolanthis folgte ihm. Da war das Muschelzeichen, das Männliche und das Weibliche im All darstellend, doch über der nach oben zeigenden Muschel den Dreizack tragend, um anzudeuten, daß das Männliche als Geistiges das Übergewicht habe. Auch Sinnbild der Wiedergeburt war die Muschel, denn sie deutete das Hineingehen und Hinausgehen an.
Da war das Kreuz, das Sinnbild des Stoffes, in dem die Seele gekreuzigt werden mußte, um die völlige Befreiung zu erlangen, um aufzuerstehen im Geiste; daran schloß sich der Lebensbaum, der aus der Menschrune entstanden war und die Beziehungen der Himmelswelt zur irdischen, des Himmelskreuzes zum irdischen Kreuz andeutete.
»Seine Wurzel liegt in der geistigen Welt«, sagte der König mitten in der Halle stehen bleibend, »mit seiner Krone ragt der Lebensbaum durch die Erde hindurch wieder in die geistige Welt hinein, nur mit seinen Ästen umspannt er den Stoff.«
»Ich verstehe … doch warum steht unweit des Eingangs zwischen zwei grünenden Lebensbäumen ein kahler?«
»Hast du es nicht erraten?« fragte er lächelnd, »und bist doch Atlanterin. Bis zu unserem heutigen, dem Widderzeitalter, pflegte man nach altnordischer Sitte mit drei Jahreszeiten zu rechnen, und das Seelenjahr beginnt, wie du weißt, nicht mit der Wintersonnenwende, sondern schon mit der Herbstgleiche – mit dem Abstieg in das Totenreich. Mit dem Fall aus geistigen Höhen in das Dunkel des Stoffes. Die Wintersonnenwende dagegen …«
»… entspricht schon der Geburt?«
»So ist es. Und die Erlangung des Ichbewußtseins der Frühlingsgleiche.«
Wieder wanderten sie die Halle der Versenkung auf und ab. Isolanthis betrachtete wieder im Vorbeischreiten einen hohen, ganz verhüllten Sockel, auf dem ebenfalls verhüllt eine Gestalt zu thronen schien. Sie wagte jedoch nicht zu fragen, was da verborgen war, doch Naxitli sah ihren Blick und blieb stehen.
»Wer in die Augen des Tieres schaut, sieht die Schattenseite seines Ichs, sieht das Gespenst, das er im Laufe vieler Wiedergeburten erschaffen und das sein höheres Ich noch nicht wieder zerstört, das will sagen, aufgelöst hat. Es ist der Hüter der Schwelle. Wenige Menschen sind stark genug, das zu schauen. Wem es gelingt, dem … ist der Weg offen.« Und als er ihren Wunsch las, in die Augen des Tieres zu schauen, lächelte er halb mitleidig und halb zufrieden und sagte weich:
»Zumeist genügt es schon, o Tochter, das Herz im Lichte des eigenen Gewissens zu prüfen.«
Dem Ausgang zuschreitend, fügte der König ernst hinzu:
»Du hast unseres Volkes tiefste Weisheit schauen dürfen, du hast deinen Blick auf die geheime Offenbarung geworfen. Viel steht hier geschrieben, was nicht an einem Tage, ja nicht in einem ganzen Leben erschöpft werden kann, doch genug wurde dir gezeigt, um dich verstehen zu lassen, wie wunderbar der Schatz ist. Hüte ihn, o Isolanthis, wenn ich nicht mehr bin! Lehre, schau und lindre … und laß dein Licht auf den Pfad der anderen fallen, weil es dir dazu gegeben ward …«
»Ich will es«, flüsterte sie, »doch ist der Kreis meines Wirkens sehr beschränkt …«
»Der Lohn für treue Pflichterfüllung ist mehr Macht, ein größerer Kreis. Sei jenen ein heller Schein, die noch in Finsternis wandeln!«
Sie standen vor dem Vorhang, und er befahl ihr niederzuknien.
»Der Ewige und Eine segne dich. Er vermehre deine Kraft, er vertiefe deine Weisheit, er entzünde deine Liebe. Möge dein Licht den Lebenden leuchten und mögest du den Sterbenden ein Stern der Verheißung sein, wenn das Ende naht!«
Ein Wink und der Vorhang fiel.