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12. Von New-Orleans nach Vera-Cruz

Samstag, den 23. November, ging ich an Bord der Schoner-Brigg »Daphne«, um mit dieser den Mississippi hinab durch den Golf nach Mexiko hinüberzufahren. Abends acht Uhr etwa wurden wir flott. Das kleine Schlepp-Dampfboot nahm uns, zwei große Schiffe, ein amerikanisches und ein preußisches, die »Georgina«, mit noch einem dreimastigen Schoner ins Schlepptau, und wir dampften langsam den Strom hinab, etwa zwei Meilen unter der Stadt wieder Anker werfend.

Das war schon ein langsamer Anfang, ließ sich aber nicht ändern. Auch am nächsten Morgen brachen wir spät auf, weil auf dem Amerikaner, dem »Pokahontas«, ein Streit unter der Mannschaft ausgebrochen und ein Deutscher durch ein Messer verwundet, ein Irländer bös zerschlagen worden. Beide mußten zurück nach New-Orleans geschafft und gegen zwei andere Matrosen ausgetauscht werden. Das dauerte etwa bis zehn Uhr, dann setzten wir unseren Weg, zwar mit der Strömung, aber gegen den Wind, langsam fort, um an demselben Abend, Gott weiß aus welchem Grunde, wieder vor Anker zu gehen. Wir kamen nur wenig von der Stelle.

Am Montag erreichten wir endlich abends und bei Gegenwind die Barre, als ein Telegraphenbeamter vom Lande an Bord kam und dem Kapitän eine Depesche übergab. Unglaublich, aber wahr, in der Depesche stand, daß die Papiere des Schiffes nicht in Ordnung wären und wieder nach New-Orleans hinaufgeschickt werden müßten, und der Kapitän entschloß sich, selber zu gehen.

Am nächsten Morgen schlug der Wind um, und wir hätten fliegend den Mississippi verlassen können, aber nein, da lagen wir fest, von unserem Anker gehalten, und erwarteten die Rückkunft des Kapitäns. Das war einmal Pech.

Die Zwischenzeit benutzten wir, um zu fischen, und fingen mit der Grundangel Seeforellen, einen Fisch in Form der Asche ähnlich, aber mit Forellenkopf, doch zu weichlichem Fleisch.

Am 26. kam die »Teutonia« von Hamburg, das zweite Schiff der Hamburg-New-Orleans-Linie, über die Barre und dampfte stromauf. Wie gern wäre ich an Bord gegangen, aber die »Teutonia« hielt sich leider nicht bei uns auf.

Am 28. kam der Kapitän nach sehr rascher Fahrt zurück und hatte seine Papiere in Ordnung, aber der Wind war ungünstig und brachte die Nacht einen fliegenden Sturm aus Süden, so daß wir zu schleppen anfingen und den zweiten Anker auswerfen mußten. Das war zweimal Pech, und an Segeln natürlich nicht zu denken.

Am 29. heftiger Südwind mit hohem Seegang. Ein französisches Schiff, von zwei Schleppdampfern gezogen, arbeitete neun Stunden, bis es in den Strom kommen konnte, lief dann aufwärts und ankerte gerade unter unserem Stern.

Am 30. wundervoller Nordwind, wir hätten mit zehn Meilen Fahrt auslaufen können, aber der Franzose – dicht unter uns lag er; wir wären nicht imstande gewesen, den Anker zu heben, ohne ihm in die Takelage zu laufen, und er konnte gegen Wind und Strömung nicht von der Stelle. Damit versäumten wir den wundervollen Wind und Morgen. Das war dreimal Pech. Die Reise von New-Orleans bis Vera-Cruz dauert unter günstigen Umständen etwa fünf Tage. Heute ist der siebente, daß wir New-Orleans verlassen haben, und wir liegen noch immer im Mississippi.

Allerdings hatten wir einige Abwechselung an Bord, denn der Sohn des Kapitäns bekam einen Cholera-Anfall und wir damit die günstige Aussicht, die Krankheit durchzumachen; aber glücklicherweise besserte es sich wieder mit ihm, und wir hatten die Angst umsonst gehabt. Es wäre auch wirklich zu arg gewesen, denn als ich das letztemal im Jahre 1863 aus New-Orleans auslief, hatten wir das gelbe Fieber an Bord, und jetzt wäre die Cholera ein erbärmlicher Tausch gewesen.

Neulich abends hörte ich einem Zwiegespräch zwischen dem Steuermann und meinem einzigen Mitpassagier zu. Beide sind Yankees, und der letztere war eine kurze Zeit als Inspektor bei dem Whisky-Steuer-Departement angestellt. Ich gebe es nur deshalb hier wieder, um den Geist zu zeigen, der jetzt im ganzen Volke herrscht, muß auch bemerken, daß der Steuermann ein einfacher Seemann und der andere ein anständiger und liebenswürdiger junger Mann ist, die es beide für die größte Schande halten würden, auch nur einen Cent von einem anderen wirklich zu stehlen.

Der junge Passagier äußerte, daß er große Hoffnung hätte, wieder bei der internal Revenue (das Volk nennt sie infernal) angestellt zu werden, und der Steuermann meinte sehr naiv: »Alle Wetter, das wäre ein Posten, da könnte einer in ein paar Jahren sein Schäfchen ins Trockene bringen,« worauf der Passagier sagte: das ginge doch nicht so leicht, als er denke. Den unteren Beamten würde zu sehr auf die Finger gesehen, und es wären eigentlich nur die oberen, die wirklich imstande wären, ihr Glück zu machen. »Aber etwas fällt doch immer dabei ab,« bemerkte der Steuermann. »Ja, etwas schon,« meinte der andere, »aber es muß klug angefangen werden.«

Ich konnte mir jetzt nicht helfen und bemerkte ihnen, sie redeten da so ruhig von der Chance, Onkel Sam zu bestehlen, als ob die Beamten gar keinen Eid leisten müßten, der sich doch nicht so leicht umgehen ließe.

»Bah!« sagte der frühere Branntwein-Kontrolleur, – »in dem Eide steht gar nichts davon da; – hier ist der Eid, den wir zu leisten haben. Ich würde wahrhaftig nie einen Privatmann übervorteilen, aber aus der Regierung mir eine gute Stellung, und »zu machen, was man kann«, ist gewiß keine Sünde.«

Ich bat ihn, mir den Eid zu zeigen, den er gedruckt bei sich trug, und dieser enthielt fast in der ganzen Form nichts anderes, als auf die frühere Rebellion bezügliche Andeutungen, die den Beamten verpflichteten, loyal zu bleiben. Nur am Schlusse versprach er mit ein paar kurzen Worten, seine Pflicht treu und redlich zu erfüllen. Ich deutete jetzt auf diese Stelle und fragte, wie sie dieselbe, nachdem sie dies einmal beschworen, mit ihren Ansichten über die Sache vereinigen könnten; sie meinten aber sehr ruhig, dies hätte damit nicht das geringste zu tun, und »es gäbe keinen Beamten, der nicht derselben Ansicht wäre«.

Daß sich die Sache wirklich so verhielt, wußte ich schon selber aus eigener Erfahrung und nach dem, was ich von anderen darüber gehört, aber ich hatte es noch nie so klar und deutlich durch einen Beamten selber aussprechen hören. Die Beamten sehen also diesen Eid als gar nicht bestehend an, und stehlen ebensoviel, als sie, ohne entdeckt zu werden, möglicherweise können. Das ist aber selbst die Ansicht sonst unbescholtener und braver Amerikaner; – nun denke man sich, welche Ansichten das Gesindel hat!

Wie schon vorerwähnt, verhinderte uns das dicht unter unserem Stern ankernde Schiff am Auslaufen, und der Schleppdampfer einer anderen Linie als der, welchen die »Daphne« benutzt hatte, weigerte sich, uns mit fortzunehmen. Glücklicherweise kam aber gleich nach Tisch ein anderer von draußen ein, machte uns frei, nahm uns ins Schlepptau und brachte uns ohne weiteres über die Barre hinaus, wo wir, mit allen Rahesegeln gesetzt, vor dem Winde und auf kaum bewegter See lustig dahinglitten.

Mittags am 1. Dezember, etwa 120 Meilen von der Mündung des Mississippi entfernt, sahen wir unter 27 Grad nördlicher Breite etwa die ersten fliegenden Fische, und das sollten auch ungefähr die einzigen Fische bleiben, die wir bis heute, Donnerstag, 6. Dezember, zu sehen bekamen, einige Schweinefische ausgenommen, von denen wir wohl einen harpunierten, aber nicht an Deck bekamen. Bis hierher hatten wir auch eine herrliche Brise, die uns rasch weiter und unserem Ziel entgegengeführt haben würde, wenn unser Kapitän eben ein anderer Mann gewesen. So aber schlief er den ganzen Tag.

Ich habe etwas ähnliches nie für möglich gehalten –, aber nur dreimal an jedem Tag – nach jeder Mahlzeit nämlich – kam er an Deck, kauerte sich dort nieder, rauchte seine Pfeife und ging dann ordentlich und regulär wieder zu Bett. Dabei hatte er bedeutende Angst, daß wir in der Nacht das ihm unbekannte Vera-Cruz anlaufen sollten, und noch auf 150 Meilen Entfernung ließ er in der herrlichsten Brise alle leichten Segel einnehmen, damit wir nicht zu raschen Fortgang machten.

Das war am 3. und Windstille folgte. Heute sind wir endlich (am 5.) in Sicht von Land gekommen, und heute abend weht eine prachtvolle Brise. Natürlich läßt der Kapitän schon in diesem Augenblick wieder die oberen Segel einnehmen und geht dann direkt zu Bett. Es ist zum Verzweifeln!

Am 6. Wie gedacht, so geschehen. Mit der gestrigen Brise hätten wir wenigstens den Leuchtturm von Vera-Cruz anlaufen können, aber Gott bewahre! Die Segel waren halb eingenommen und konnten nicht wieder gesetzt werden – da der Kapitän schlief. Als er heute morgen aufwachte, war Windstille, und wir treiben jetzt in Sicht des prachtvollen Kraters Orizaba draußen in See herum.

Der Anblick, als heute morgen die Sonne aufging und die Schneekuppe des Orizaba beschien, war herrlich, aber doch kein Vergleich gegen den von den gestern abend, als sie hinter den gewaltigen Bergwänden unterging, ihre riesigen Konturen klar gegen den westlichen Himmel abzeichnete und sie mit ihrem roten Lichte übergoß. Zu gleicher Zeit lagen so phantastisch geformte Wolkenmassen zwischen und um diese Gebirgsformen, daß man oft kaum wußte, was Berg, was Wolke sei, und das Auge staunend dem wahrhaft märchenhaften Szenenwechsel folgte.

Ich habe viel Schönes und Wunderbares von Bergszenerien in meinem Leben gesehen, aber nie etwas wild Phantastischeres, als dieses von der Sonne glutrot übergossene Gewirr von Bergen und Wolken, das uns leider nur zu bald im hellen Mondenlicht verschwand.

Heute morgen liegt der Orizaba, noch etwa 100 Meilen entfernt, vor uns, und man kann mit dem Teleskop deutlich den ungeheuren Krater in seiner Spitze erkennen. Er muß aber seit ziemlich langer Zeit kein Feuer oder heiße Dämpfe ausgestoßen haben, denn der Schnee liegt oben an seinem Rand noch voll und dicht, und nur eine tiefe Schlucht läßt sich an seiner Nordseite erkennen, in welcher früher wahrscheinlich die Lava ihren Abfluß fand.

Kein Lüftchen regt sich dabei; das Schiff liegt so still, wie vor Anker, und kein einziges Segel ist am Horizont zu sehen. Noch nicht einmal ein Vogel hat uns besucht, – ein Zeichen, daß wir noch ziemlich weit vom Land ab sind. Der Kapitän schläft wieder.

Am 7. Endlich Rettung aus dieser langweiligen Umgebung. Wir waren den ganzen Tag fast mit Windstille herumgetrieben, und erst etwa um drei Uhr kam eine kleine Brise, die uns dem Lande etwas näher trieb – aber auch diese schien uns nichts helfen zu sollen, denn gegen vier Uhr sprach der Kapitän schon wieder davon, daß er nicht wagen dürfe, dem Land zu nahe zu kommen – und von einem Lotsen war keine Spur zu sehen. Es fehlte auch wahrscheinlich nicht viel, so wären wir dicht vor der Einfahrt wieder umgekehrt, als wir noch etwa eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang ein kleines Boot entdeckten, das auf uns zuzuhalten schien. Er war in der Tat ein Lotse, der uns gerade mit Dunkelwerden erreichte – und fast zugleich erhob sich eine so prächtige Seebrise, daß wir, vor dem Wind, dem Lande rasch entgegenfliegen konnten.

Der Hafen von Vera-Cruz gehört nicht zu den besten und ist bei einem gerade in dieser Jahreszeit am häufigsten wehenden starken Nordwind den darin liegenden Schiffen oft gefährlich. Ein Riff erstreckt sich dabei am Lande reichlich zwei Meilen, vielleicht noch mehr hinauf, und man darf deshalb nicht etwa auf den niederen und schlechten Leuchtturm zuhalten, sondern muß ihn so lange links liegen lassen, bis man fast auf den Strand gerät, und nun – bis dahin einer Westrichtung folgend, nach Süden zu in den Kanal einläuft, der zwischen Vera-Cruz und dem Fort Ulloa den eigentlichen Hafen, oder vielmehr die Reede bildet. Man hat da allerdings an manchen Stellen nur vier Faden Wasser, aber keinen besonderen Ankergrund, und leider fällt es gar nicht so selten vor, daß bei einem einsetzenden Nordsturm die Schiffe ihre beiden Anker schleppen und an die Küste getrieben und zerschmettert werden.

Da lagen wir – drinnen in der Stadt schlugen die Glocken die achte Stunde an – im dicht beiliegenden Fort trompeteten die Wachen und machten einen Heidenlärm – und wie wunderbar die Stadt selber dabei im hellen Mondenlichte lag; wie sonderbar die niederen, altersgrauen Häuser mit den sie umgebenden Festungsmauern und den runden Kuppeln und zahlreichen Türmen aussahen! Selbst das Fort, durch das Mondenlicht niedergedrückt, schien flach zu sein und auf dem Wasser zu schwimmen – aber die Seereise war wieder einmal überstanden und ich selber in einem neuen, prachtvollen Land, nach dem ich mich schon so lange gesehnt. Dort drüben lag der Schauplatz von Cortez' Taten – dort herrschte Montezuma – und Maximilian – beide so unglücklich, und doch wie verschieden in ihrem ganzen Wirken – dort, unter den schlummernden Bergriesen lag ein ganzes Chaos von Weltgeschichte, und ich konnte die Zeit kaum erwarten, wo ich den Fuß auf mexikanischen Boden setzen würde.

– Jetzt bin ich da, – hier an der Plaza sitze ich und schaue auf das wunderliche Treiben zu meinen Füßen hinab, auf den grünen, freundlichen Platz mit Palmen und Granatbüschen, zwischen denen ein geschmackvoller Brunnen sein plätscherndes Wasser emporsendet, auf die wunderliche Kathedrale gegenüber, deren Dächer und Vorsprünge mit einer Unzahl von Zapoletes oder Aasgeiern besetzt sind, auf die Sennoritas in ihren Mantillen und die Maultiertreiber in kurzen Zarapes und breiträndigen Sombreros, auf die nichts weniger als kriegerisch aussehenden Soldaten in roten Hosen und blauen Jacken, auf spielende Kinder und vorbeigaloppierende Pferde.

Wie ein altes Märchenbild vergangener Zeit liegt die kleine Hafenstadt hier um mich her, so unähnlich dabei irgend einem anderen Ort der Welt, wie es sich nur möglicherweise denken läßt. Vera-Cruz – ja, wahrscheinlich, es führt seinen Namen mit Recht, denn es hat das wahre Kreuz des Landes schon seit endlosen Jahren getragen und gewöhnlich das vorderhand ausessen müssen, was ihm andere im inneren Lande eingebrockt, die dann auch ruhig warteten, um zu sehen, wie es ihm bekommen würde.

Vera-Cruz – da steht auch kein Haus, das nicht in der einen oder anderen Revolution seine Kanonenkugel bekommen, und selbst der alte Orizaba, der verstorbene Vulkan jener Nachbarschaft, scheint Mitleid mit der Stadt bekommen und aufgehört zu haben, sie durcheinander zu schütteln, denn sie war geplagt genug, und er konnte seine Bemühungen deshalb getrost einstellen.

Und trotzdem begreift man nicht, wenn man den Platz und seine Befestigungen genauer ansieht, daß er nicht schon lange in seinen Kämpfen mit den Amerikanern und Franzosen in Grund und Boden zusammengeschossen ist, denn die Mauern sehen wahrlich nicht so aus, als ob sie der Kugel aus einer gezogenen Kanone standhalten könnten. Vera-Cruz hat aber trotzdem Glück gehabt, denn die Liberalen, die es im letzten Kriege ernstlich beschossen, waren so ärmlich mit Geschütz versehen und zielten so schlecht, um ihm verhältnismäßig doch nur sehr wenig Schaden zuzufügen, und die paar Kugeln, die wirklich in die Stadt flogen, beschädigten wohl einzelne Häuser und Kirchen und zertrümmerten in den ersteren besonders Spiegel und Schränke und erschreckten arme Frauen, ohne jedoch für die Belagerer einen wirklichen Erfolg zu erringen.

Die Kirchen boten freilich die größte Scheibe und wurden deshalb auch von den meisten Kugeln getroffen, und daß man in dem sonst doch so ziemlich bigotten Lande so entsetzlich wenig für ihre Restauration tut und die meisten in der Tat völlig verfallen läßt, hat wohl seinen Grund in der Auflösung der Klöster überhaupt, und in der Beschränkung der Rechte sämtlicher Geistlichen. Ihre Macht in Mexiko ist gebrochen, und wenn sie auch mit alter Zähigkeit daran arbeiten, sie wieder zu gewinnen, wird ihnen das doch kaum gelingen. Gegenwärtig scheint nur eine einzige von allen Kirchen der Hauptstadt in regelmäßigem Gebrauch zu sein – die Kathedrale an der Plaza. Die übrigen, wo sie nicht ganz dem Einsturz nahe sind, stehen leer und werden fast sämtlich als Bodegas oder Warenlager an hiesige Kaufleute vermietet. – Die geistliche Partei wird hier allerdings streng unter dem Daumen gehalten; man sieht zum Beispiel keinen einzigen Geistlichen im Ornat oder in Ordenstracht auf der Straße; ebenso ist jetzt gesetzlich verboten worden, die heilige Monstranz offen zu Sterbenden zu tragen – in einer bevölkerten Stadt immer ein höchst störender Gebrauch, da er plötzlich den ganzen Verkehr hindert und die ihm Begegnenden, ohne Rücksicht auf das Glaubensbekenntnis, zwingt, in einer wenigstens anscheinend betenden Stellung stehen zu bleiben, bis der Zug vorüber ist. Ja, in einigen Ländern Südamerikas zwang man sogar jeden, auf die Kniee niederzufallen, und mancher Fremde, aus einem protestantischen Lande vielleicht, der nicht einmal gleich wußte, um was es sich da handle, wurde bei solchen Gelegenheiten arg mißhandelt. Das ist jetzt hier alles vorüber – wenigstens für den Augenblick – selbst das zu übermäßige Läuten mit den Glocken ist untersagt, wovon früher eben auch im Übermaß Gebrauch gemacht sein soll.

Die Bauart von Vera-Cruz ist natürlich ganz genau in dem altspanischen Stil, wie man es in allen südamerikanischen Städten findet, in denen der Einfluß der Fremden noch nicht zu überwiegend geworden ist, wie z. B. in Valparaiso. Das tropische Klima verlangt das aber auch; Vera-Cruz liegt unter 19 Grad 12' nördlicher Breite, also vollkommen in der heißen Zone, und selbst jetzt, im sogenannten Winter, schlafe ich bei offenen Balkontüren, mit einem Minimum von Zudecke; es versteht sich von selbst, daß die Häuser überall dem Luftzug offen sein müssen, und die Privatwohnungen der Mittel- und ärmeren Klasse haben selbst im Parterre meist nur Gittertüren mit einem dünnen Vorhang bedeckt und stehen bis spät in die Nacht hinein offen.

Und was für prächtige alte, fast ruinenartige Kirchen findet man in der Stadt; ja, selbst die Kathedrale, die den meisten Städten, wie Quito, Guayaquil und selbst Lima, nicht zur besonderen Zierde gereichen, sieht durch ihre runde, buntbemalte Kuppel wie den viereckigen, durchbrochenen Turm und das Verwitterte ihrer Färbung malerisch genug aus.

Überhaupt bildet die, wenn auch kleine Plaza einen allerliebsten Mittelpunkt der Stadt durch den grünen, mit Palmen und Blumenbüschen bepflanzten Rasenfleck derselben, auf dessen Zentrum ein hübscher eiserner Springbrunnen steht, während breite Trottoirs mit Ruhebänken selbst bei nasser Witterung einen bequemen Spaziergang bieten. Leider hat man in den letzten Kriegen alle die herrlichen Kokospalmen in der Stadt und um dieselbe herum abgehauen oder rasiert, um angeblich dem Feinde keinen Schutz zu gewähren, und erst an wenigen Orten begonnen, sie nachzupflanzen. Hier auf der Plaza ist das aber geschehen, und wenn sie auch noch mancher Jahre bedürfen, um wieder ihre frühere Höhe zu erreichen, so ist doch wenigstens der Anfang dazu gemacht.

Auch eine Freiheitspalme wurde auf der Plaza gepflanzt, eine Palma real, aber freilich an eine ungünstige Stelle, fast unmittelbar neben einer Gaslaterne, an der sie jetzt ein kümmerliches Aussehen hat und mit ihren vergilbten und abgestorbenen Blättern ziemlich dürftig dasteht. Nur das Herz scheint gesund, und es ist möglich, daß sie sich wieder erholt, aber viel wird an der Stelle nie aus ihr werden.

Um die Plaza stehen Häuser mit Kolonnaden; die eine Front nimmt das ziemlich geschmackvolle Gouvernementshaus ein, das mit seinen Rundbogen ganz hübsch aussieht, ihm gegenüber steht das Hotel de las Diligencias, unter den Bogen mit Verkaufsläden und Kaffeehaus, und der Kathedrale gegenüber, wo ich jetzt durch die Gastlichkeit der Familie d'Oleire nur zu behaglich einquartiert bin, stehen Privathäuser mit ebenfalls darunter befindlichen Bodegas, Kontoren und kleineren Läden.

Das Gouvernementshaus schräg gegenüber sah besonders freundlich und luftig aus und hatte mir außerdem eine besondere Überraschung aufgespart.

Es schlug auf der daran befindlichen Uhr gerade voll, und mit dem ersten Schlag fast – genau wie bei einer der alten Schwarzwälder Uhren – sprang ein kleiner Soldat in roten Hosen vorn unter die Kolonnaden, hob mit dem zweiten Schlag eine kleine Trompete an den Mund, blies darauf ein kleines Stück, und war mit dem letzten wieder in der dunklen Tür verschwunden – und jedesmal, wenn es voll schlug, erneute sich dies allerliebste Schauspiel.

Die Tracht der Bewohner, soweit es nicht die unteren Klassen betrifft, ist vollkommen europäisch; nur die Reiter tragen den breiten mexikanischen Hut, eine kurze Jacke und fast indianisch ausgefranzte Leggins an den Beinen. Ebenso haben die Damen, wenn sie zur Kirche gehen, noch die schwarze Mantille beibehalten, die sie aber ganz kokett umzuschlagen verstehen.

Die Arbeiter tragen, wie überall in den heißen Ländern, nur Hemd und Hose, und zwar an Sonntagen das erstere über der zweiten, die Frauen einen einfachen Kattunrock und die Mantillen aus demselben Stoff.

Höchst wichtige Bewohner der Stadt darf ich aber nicht vergessen zu erwähnen, und das sind die sogenannten Zapoletes ( carrion crow in den Vereinigten Staaten), die großen, schwarzen Aasgeier, die hier die Stelle der Tauben in unseren deutschen Städten vertreten, und so zahm werden, daß sie einem manchmal kaum aus dem Wege gehen und sich in früher Morgenstunde nicht selten mit den Hunden auf der Straße herumbeißen. Sie sind aber auch – so widerlich sonst in ihrer ganzen Erscheinung – eine wirkliche Wohltat der Tropen und genau dasselbe, was die Hyäne in Afrika ist. Sie reinigen Stadt und Umgegend von jedem Unrat, und selbst ein gefallenes Maultier oder Pferd kann die Nachbarschaft nur auf kurze Zeit verpesten, denn die Zapoletes halten da strenge Polizei, und in vier bis fünf Tagen sind die leeren Knochen das einzige, was von dem toten Stücke übrig geblieben.

Komisch ist es, wenn sie sich abends auf der Kathedrale ihren Ruheplatz suchen, wozu sie eine ziemlich geraume Zeit gebrauchen: denn die besten Plätze, d. h. die höchsten und besonders die oben auf dem Kreuz, werden den glücklichen Besitzern immer wieder streitig gemacht, wobei durch einen manchmal entstehenden Kampf zuweilen eine ganze Reihe in Unordnung gerät. Hat es aber die Nacht geregnet, oder ist auch nur ein sehr starker Tau gefallen, dann sitzen sie morgens nach Sonnenaufgang an den sonnigen Seiten der Straßen auf Dächern und Gesimsen mit ausgespannten Flügeln regungslos halbe Stunden lang und lassen sich wieder ordentlich abtrocknen. Übrigens werden sie auch von der Polizei beschützt, und wer einen von ihnen mutwillig tötet, hat eine nicht unbedeutende Geldstrafe zu erlegen.

Vera-Cruz ist nicht besonders gesund, doch scheint es noch, als ob es besser wäre als sein Ruf, denn das gelbe Fieber zum Beispiel, das eigentlich hier das ganze Jahr heimisch ist, tritt, nach allem, was ich darüber gehört, selten oder nie so bösartig auf wie zum Beispiel dieses Jahr wieder in New-Orleans, wo es Tausende von Opfern gefordert hat und sich dann später durch die Cholera ablösen ließ. Allerdings wird die Stadt von großen Sümpfen umgeben, die jetzt in der trockenen Jahreszeit wieder meistenteils verdunsten; trotzdem hat man hier augenblicklich keine epidemische Krankheit, ja läßt sogar die von Havanna kommenden Schiffe in Quarantäne legen, da gerade dort die Cholera heftig wüten sollte.

Allen Respekt übrigens vor den Produkten des Landes, über die ich früher lange nicht so vorteilhaft gedacht habe, als da ich sie selber näher kennen lernen konnte. Der Vera-Cruz-Tabak (der auf der Hochebene allerdings nicht) ist ganz ausgezeichnet, und die dort verfertigten Zigarren, von denen nur bis jetzt zu wenig gemacht werden, um einen Ausfuhr-Artikel zu bilden, stehen den Havanna-Zigarren in der Tat nur wenig – wenn überhaupt – nach, kosten aber auch freilich das nämliche, was Havanna-Zigarren in ihrer Heimat gelten.

Ebenso ausgezeichnet ist der in der tierra caliente gezogene Kaffee, der mir wenigstens besser geschmeckt hat als der venezuelanische, und in Vera-Cruz zu einem mäßigen Preis zu haben ist. Wie reich überhaupt ist das ganze Land, und doch in welch' ewigen, unaufhörlichen Kämpfen lebt das Volk, nur immer den Acker mit Blut düngend, ohne je an eine Ernte zu denken! –

Was man und wo man auch hier in Vera-Cruz vom inneren Land erzählen hört, Räubergeschichten bilden immer den Refrain; Räubergeschichten, die oft an die schönsten Lebensjahre Rinaldo Rinaldinis erinnern, und unglaubliche Dimensionen annehmen, sobald man jemanden antrifft, der nur eine etwas entlegene und nicht so leicht zu kontrollierenden Tour gemacht hat.

Ich ließ mich übrigens dadurch nicht abschrecken, das Innere selber zu besuchen. Daß zahllose Räubereien vorfielen, war Tatsache; aber es war erstlich einmal sehr die Frage, ob ich selber dadurch behelligt werden würde, und dann – ging ich auch vortrefflich bewaffnet und glaubte deshalb schon, ohne zu große Gefahr, ein kleines Abenteuer bestehen zu können.

Gedanken an die Reise trübten deshalb meinen kurzen Aufenthalt in Vera-Cruz auch keine Sekunde, und ich gab mich ganz der Gesellschaft vieler deutscher Freunde hin, die ich dort fand.

Deutsches Leben überall, deutscher Fleiß und Unternehmungsgeist, der sich wacker, selbst in den schwierigsten Zeiten und Lagen, hält und dabei ruhig allen Hindernissen die Stirn bietet.

Das Leben dieser Kaufleute, besonders in den südamerikanischen Staaten, wie auch hier in Mexiko, ist oft ein kleiner Roman in sich selbst, denn man darf ja nicht glauben, daß sie in den Revolutionen unbehelligt bleiben. Alle Präsidenten, wie sie heißen, ob sie, rechtmäßig gewählt, gegen eine Revolution ankämpfen, oder selber Revolution machen, brauchen Geld, und da der Staat nie etwas besitzt, die Kaufleute dagegen, besonders die fremden, stets, so ist nichts natürlicher, als daß sie, – bald mit, bald ohne Erfolg, – in Anspruch genommen werden, und schon dadurch in viel nähere Beziehung mit der Regierung kommen, als ihnen selber lieb und nützlich ist.

In der Hauptstadt Mexiko spielte ja zum Beispiel der Verräter Marquez, der zuletzt von beiden Parteien gehangen worden wäre wenn sie ihn nur erwischt hätten, eine ordentliche Komödie mit den fremden Kaufleuten, die er in der letzten Szene des Dramas, wo er sich verräterischerweise zum Kommandierenden der Hauptstadt aufgeworfen, zu einem Frühstück einlud, die Türen dann mit Soldaten besetzen ließ und einen der achtbarsten Deutschen, der sich weigerte, der Geldforderung genüge zu leisten, so lange in Gefangenschaft hielt, bis er endlich zahlte.

Jetzt waren die Zeiten allerdings wieder ruhiger, aber wer kann sagen, wie lange das in Mexiko dauert. – Quien sabe!

Handel und Geschäft lagen denn auch in Vera-Cruz ziemlich danieder, aber unsere Landsleute schienen sich das wenig zu Herzen zu nehmen, oder noch Vertrauen auf die Zukunft zu haben; äußerlich sah man ihnen keinenfalls irgend welche Sorgen an, und mich selber empfingen sie auf das freundlichste.

Ich war gleich nach meiner Ankunft im Hotel de las Diligencias – wie man hier und bis Puebla an jeder Zwischenstation und in jeder Stadt das anständigste Hotel zu heißen scheint – abgestiegen, blieb aber dort nur wenige Tage, da ich von der Familie d'Oleire auf das liebenswürdigste eingeladen wurde, zu ihnen hinüberzuziehen. Ich hatte ein mir vollkommen fremdes Land betreten, aber ich selber wurde von den guten Menschen dort nicht als Fremder angesehen, und die kurze Zeit, die ich in Vera-Cruz verbrachte, verging mir wie im Fluge.

Auch Ausflüge zu Pferd machte ich, und wenn man sich der Stadt von der See aus nähert und die dürre, von einigen kahlen Sandhügeln eingeschlossene Fläche sieht, von der sie umgeben ist, sollte man es kaum für möglich halten, daß die Nachbarschaft einen hübschen Spazierritt bieten könne. Desto mehr war ich überrascht, als ich eines Morgens mit einem jungen Mann aus dem d'Oleireschen Geschäft jene dürren, gar nicht weiten Hügel überritt und in den prachtvollsten Schatten eines Waldes eintauchte, durch den ein Reitweg führte, wie man ihn sich kaum romantischer denken kann.

Und wie das in den Büschen zwitscherte und sang, wie das schwirrte von herüber und hinüber fliegenden Vögeln, und wie selbst das Laub so freundlich rauschte, wenn die Brise darüber hinstrich! – Es ist eigentümlich, wie man sich auf einer Seereise, und sei sie noch so kurz, nach schattigen Bäumen sehnt, und wie wohl es einem tut, wenn man sich endlich wieder darunter befindet. – Die Menschen sind nun einmal keine Amphibien. Selbst der an das blaue Wasser gewöhnte und dort eigentlich heimische Matrose wirft sich, sobald er ihn erreichen kann, in den Schatten der Büsche und nimmt, wenn er wieder zu See geht, häufig eine Anzahl Zweige mit, um sie in seinem Vorkastle aufzuhängen. Er hat da wenigstens noch ein Andenken vom festen Lande und etwas Grünes, das ihn vielleicht an die eigene Heimat erinnert.

Ganz eigentümlich nahm sich Vera-Cruz aus, als wir es auf dem Rückweg wieder in Sicht bekamen. Die Stadt selber hat genau eine solch bräunliche Farbe wie ein photographisches Bild, und liegt vollkommen flach in der Ebene, aber darüber hinaus ragen überall die Kuppeln und niederen Türme der Kirchen und Klöster, hier und da auch mit den sie umgebenden Festungswerken, und dahinter wieder breitet sich der Streifen Meer, den nachher die niedere und früher für uneinnehmbar gehaltene Festung Ulloa deckt, so daß man dadurch ein höchst charakteristisches, wenn auch nicht besonders malerisches Bild erhält.

Vera-Cruz selber ist nur eine sehr kleine Stadt, die sich allerdings wohl weiter ausgebreitet hätte, wenn sie nicht von Festungsmauern umschlossen wäre. So aber sind die Häuser fest und dicht ineinander gedrängt, ohne mehr als einen kleinen Hofraum für jedes, und erst in den letzten Jahren scheint man angefangen zu haben, vor dem einen Tor und in der Nähe der Eisenbahn eine kleine Vorstadt anzulegen, die sich aber wohl kaum rasch vergrößern wird. Alle Augenblicke gibt es ja eine neue Revolution, und wenn Vera-Cruz auch gerade keinen uneinnehmbaren Charakter hat, hält man sich doch immer hinter den Mauern sicherer als davor.

So trostlos übrigens die unmittelbare Umgebung der Festung auch sein mag, so wunderbar schön und üppig gestaltet sich die Szenerie, sobald man nur eine kurze Strecke mit der von hier abführenden Eisenbahn in das Land hineinfährt und den Sand des Meerstrandes hinter sich läßt.

Dort beginnt allerdings zuerst der Sumpf, und die ganze Niederung, der auch wohl Vera-Cruz seine gelegentlichen gelben Fieberperioden zu danken hat, breitet sich weit hinein in das Land; aber das dauert mit der Bahn nicht lange, und wie man sich nur einem kleinen, dort gelegenen Städtchen Medellin nähert, an dem ein, wenn nicht breiter, doch auch nicht unbedeutender Fluß mit hohem, waldigem Ufer vorüberströmt, findet man sich plötzlich von dem ganzen Zauber tropischer Szenerie umgeben.

»Noch hat niemand ungestraft unter Palmen gewandelt –« gegen dieses Wort, so gangbar es auch im Volke geworden, möchte ich wenigstens mich entschieden verwahren.

Aller menschlichen Berechnung nach werde ich wohl nie wieder eine Tropengegend betreten, aber so oft ich sie auch und an den verschiedensten Stellen in allen Weltteilen besuchte, ging mir das Herz immer auf, wenn ich in den Schatten jener herrlichen Bäume trat und ihre luftigen Wipfel rauschen hörte. Gestraft bin ich aber nie worden, und nur die Sehnsucht habe ich immer mit mir fortgetragen nach dem schönen Land.

Und Mexiko ist schön. Die Natur hat ihre Gaben mit verschwenderischen Händen ausgestreut, und selbst von dem Volk kann man nicht sagen, daß es bös oder tückisch wäre. Ich will alle die entsetzlichen Raubanfälle, die mir auf meiner Tour durch das Land erzählt wurden, glauben, und wahrlich nicht leugnen, daß es auch recht viel – recht viel Gesindel in dem weiten Reiche gibt; – aber welches Land hat das nicht, und – Gelegenheit macht Diebe. Die ewigen Revolutionen und Umwälzungen, fast alle von den Pfaffen angeregt oder unterstützt, machten Tausende von Menschen nicht allein brotlos, sondern gewöhnten sie auch an ein müßiges Leben, ja zwangen sie dazu. Ist es da ein Wunder, daß sie verwildern? Das Hetzen und blutige Treiben in Mexiko hat ja gar kein Ende genommen, und es ist kaum zu erwarten, daß in einem noch wilden und wenig bevölkerten Reich, für das die einzelnen Regierungen wenig oder gar nichts tun können, weil sie selber nur ewige Arbeit haben, sich auf ihren Sitzen zu halten, der Arme und durch den Krieg ruinierte nicht gleich wieder ein friedlicher Landmann wird, sobald es einem der Präsidenten oder Regierenden einfällt, zu sagen: »Der Krieg ist vorbei.«

Gebt dem Volk einmal einen wirklichen Frieden, – zeigt ihm die Mittel, sich ehrlich durchs Leben zu bringen, mit einer Garantie, daß er die Frucht, die er säet, nicht bei der Ernte für neue Soldatenbanden hergeben muß, und die Räubereien werden von selbst aufhören. – Jetzt ist freilich wenig Hoffnung dazu; den Mann, der dem Lande hätte den Frieden geben können, haben sie gemordet, der blutige Lerdo mit der indianischen Puppe Juarez, regiert den kleinen Teil von Mexiko, auf dem sie noch festen Fuß halten, und im übrigen Land ist in diesem Augenblick der Bürgerkrieg wieder an sechs oder acht verschiedenen Stellen ausgebrochen. – Es ist traurig, wie die Menschen so mit frevlen Händen ihr eigenes Paradies verwüsten.

Doch um auf Medellin mit seinen prachtvollen, üppigen Hazienden und dem ganzen strotzenden Reichtum seiner Vegetation zurückzukommen, so tat es den Augen wirklich wohl, in dem frischen Grün der Blütenbüsche herum zu wandern und dabei das fröhliche und harmlose Treiben der Menschen zu sehen, die sich darin bewegten. Harmlos? – nun ja, im allgemeinen, wenn man die Spieltische abrechnet, die in diesem kleinen »Badeort« von Vera-Cruz aller Orten und Enden aufgestellt waren. Aber die spanische Rasse kann nun einmal ohne das Hazardspiel nicht existieren. Ihr ganzes Leben ist auch etwas Ähnliches, und wenn es verboten wäre, würden sie es heimlich tun – genau so, wie es bei uns, in den zivilisiertesten Ländern der Erde, eben auch geschieht.

Es war ein Sonntag, als wir den Platz besuchten, in welchem auch viele Bewohner von Vera-Cruz kleine Landhäuser haben, oder doch wenigstens in der Saison ihren Wohnsitz dort nehmen, und natürlich an dem Abend Ball. Vorher hatten wir aber noch einen reizenden Spazierritt durch die Nachbarschaft, durch Fruchtgärten und Baumwollenfelder gemacht, und sahen uns dann auf dem Rückweg die Stadt etwas näher an.

Medellin ist ein – man könnte sagen – künstlicher Badeort, denn irgend eine Mineralquelle besteht dort nicht. Ein desto herrlicheres Bad bietet aber dafür der kleine Fluß, der, wenn ich nicht irre, den nämlichen Namen führt als das Städtchen selber, und um ihm doch eine medizinische Kraft zu geben, hat man ausgesprengt, die Sarsaparilla, die in Masse an seinen Ufern wächst und oft in den Strom hineinhängt, mache das Wasser so außerordentlich gesund und heilkräftig.

Ehe wir in den Ballsaal hinübergingen, – und es fing indessen schon an zu dämmern, besuchte ich noch einmal ein altes verfallenes Gebäude, das mir vorher gezeigt und insofern von Interesse war, als in dem letzten Kriege die von dem Vizekönig von Ägypten gekauften Truppen, welche von den Franzosen nichtswürdigerweise gezwungen wurden, sich gegen ein ihnen ganz fremdes Volk zu schlagen, hier einquartiert gewesen waren und den Platz damals verschanzt und verbarrikadiert hatten. Was wußten jene unglücklichen Menschen von dem Kaiser von Frankreich, was von dem von Mexiko, – was hatten ihnen die Mexikaner je zu Leide getan, daß sie ihre Kugeln gegen sie abschossen und Gram und Herzeleid in manche Hütte trugen? Was hatten sie selber verschuldet, daß sie aus ihrer Heimat, von ihren Familien gerissen wurden – die Unglücklichen, die noch kaum einen frohen Tag in ihrem Leben gesehen, und unter Zwang und Despotismus aufgewachsen waren?

Es ist eine Schmach für unser Jahrhundert, daß etwas derartiges geschehen konnte und durfte, und wird ein Schandfleck für Frankreich bleiben, solange es noch eine richtende Geschichte gibt.

In dem düsteren, öden Raum wanderte ich jetzt umher. Die unglücklichen Ägypter, das geknechtetste Volk, solange die Welt steht, – waren mit den Schiffen ihrer Händler wieder fortgezogen, die ausgenommen, deren blutige Leichname unter den Waldbäumen lagen. Die früheren Befestigungen hatten die Mexikaner zerstört, – das Tor stand offen und eine dumpfe Höhle gähnte mich an, als ich es betrat. Da waren noch die Plätze, wo sie sich unter dem wohl schon damals defekten Dach gegen den Regen geschützt, dort die rauchgeschwärzten Wände, wo sie ihr dürftiges Mahl gekocht. Hier und da in den Wällen erkannte ich auch noch, trotz der Dämmerung, verschiedene Stellen, in welche die Kugeln eingeschlagen und den Kalk von den Mauern losgerissen hatten. – Aber der Platz war, das wenigste zu sagen, ungemütlich. Überall auf dem Boden lagen niedergebrochene Steine und Balken, wie Schutt umher, und die einzigen lebenden Wesen in dem ganzen öden Platz, in dem das Dämmerlicht mehr und mehr schwand, waren vielleicht, außer ein paar hier und da versteckten Schlangen und anderem Gewürm, ein paar große Fledermäuse, die meine Anwesenheit nicht gern zu sehen schienen.

Ich mochte ihnen nicht zur Last fallen und wanderte still und schweigend, der armen Ägypter denkend, in die Stadt zurück.

Fröhlicher Lärm und Musik, Lachen und Jubel – wie düster lag dort hinter mir das zur Ruine gewordene Kastell der afrikanischen Schlachtopfer – wie so hell und lichterstrahlend vor mir der brillant erleuchtete Raum, in dem sich die Tanzenden schon im munteren Reigen drehten, während dicht dahinter, aber in einem offenen Gemach, die Spieltische mit ihrem klimpernden Geld den Damen wieder die Tänzer wegzulocken suchten.

Aber die Damen von Mexiko scheinen gar keine oder nur sehr wenig Tänzer zu gebrauchen, denn sie besorgen sich das schon gewöhnlich selber, indem sie allein – wie ich das auch früher in Kalifornien gesehen – in den Ring treten. Und doch sind neue Tänze eingeführt, und zwar scheint hier die amerikanische Okkupation eine furchtbare Saat ausgestreut zu haben, denn die dansas, die ich in Medellin von einigen Damen aufführen sah, waren eigentlich nichts in der Welt weiter, als eine zierliche Hornpipe oder ein sogenannter Jig.

Einige sehr interessante hübsche Gesichter bemerkte ich dabei, und junge Frauen, natürlich in ihrem höchsten Staat, mit Krinolinen, Chignons usw. – aber keine langen Schleppen, sondern alle leicht geschürzt, um auch die allerliebsten kleinen Füße nicht ungesehen zu lassen. Übrigens schien es eine Art von Wettanz zwischen verschiedenen jungen Damen, die einzeln einander ablösten und zu übertreffen suchten, während das männliche Publikum – denn die zuschauenden Damen verhielten sich vollkommen passiv – oft bis zum Enthusiasmus seinen Beifall zu erkennen gab.

Während des Tanzes hatte ein alter Bursche, der die Gitarre spielte, oder eigentlich mehr im Takt schlug, fortwährend kleine zweizeilige Strophen – auf die Eigenschaften der gerade tanzenden Schönen bezüglich – gesungen und oft lauten, ja stürmischen Beifall geerntet. Die Worte verstand ich allerdings nicht, denn erstlich hatte ich mein weniges Spanisch in dem langen Zwischenraum so ziemlich verlernt und mußte wieder von vorn anfangen, und dann biß der Bursche auch die Worte so kurz ab und brummte sie manchmal ganz in den Bart hinein, daß selbst meine des Spanischen vollkommen kundigen Begleiter den Sinn nicht herausbekamen. Was er aber sang, ob es schmeichelhaft oder mit leichter Ironie gemischt war, konnte man immer deutlich und unverkennbar in den lebendigen Zügen der gerade tanzenden Schönen lesen, wie sie die Lippen zusammenzog, errötete oder ihm auch einen blitzenden und trotzigen Blick zuwarf – aber das war auch die einzige Waffe, die sie zu haben schienen, und der alte Mexikaner hatte das wohl eine Stunde als alleiniger Wortführer fortgesetzt, als plötzlich ein junges schlankes Mädchen – nicht mehr zu jung, aber wunderhübsch, mit ruhig umherschauendem Auge den Saal betrat und ein Flüstern rasch durch die Versammlung lief. Sie mußte das auch hören, schien es aber gar nicht zu beachten, sondern ganz in die Musik vertieft zu sein und betrachtete nur die gerade draußen befindliche Tänzerin mit prüfenden Blicken.

Der alte Bursche schwieg – es war, als ob er sich selber überlege, was er tun solle, und ein neben mir sitzender Mexikaner flüsterte mir zu, ich möge jetzt aufpassen, das sei eine der berühmtesten Tänzerinnen in ganz Medellin.

Sie ließ uns nicht lange warten. Kaum war die junge Dame, die allein den Tanzplatz innehielt, abgetreten, als sie in den Ring hineinschlüpfte und nun zu der rasch einfallenden Melodie mit außerordentlicher Fertigkeit einen richtigen Jig tanzte. Sie mußte unter den Schuhen kleine hölzerne oder metallene Platten haben, denn der Takt klappte wie ein zierliches Hammerwerk immer schärfer, immer rascher mit zur Musik, und schon machte sich der Beifall des Publikums in lauten Ausrufen Luft.

Jetzt fiel auch der alte Sänger wieder ein, und zwar, wie es schien, in schmeichelhaftem Lob, denn um die Lippen der Schönen zuckte ein spöttisches Lächeln. Ob er das aber bemerkt hatte, er ging weiter, und plötzlich sah ich, wie ihr Gesicht blutrot wurde, und einige der älteren Damen kicherten. Aber sie dachte nicht daran, irgend eine ihr nicht passende Anspielung ruhig hinzunehmen. Ohne dabei ihren Tanz auch nur für einen Moment zu unterbrechen, sang sie in der nämlichen Weise eine Antwort, die aber so scharf und beißend ausgefallen sein mußte, daß das Publikum plötzlich in lauten Jubel ausbrach.

Der Alte begann wieder, sie aber blieb ihm keine Antwort schuldig und nach allem, was ich dabei sehen konnte, auch entschieden im Vorteil.

Das Ganze wurde natürlich vollständig extemporiert und ich hätte viel darum gegeben, die genauen Worte und Anspielungen zu verstehen, doch, wie gesagt, in der Musik und dem Lärm wie der undeutlichen Aussprache war das unmöglich.

Der Tanz soll bis gegen Morgen gedauert haben, ich ging aber früh zu Bett, blieb jedoch noch lange genug dort, um zu sehen, wie eine Dame besonders, die aber schon jedenfalls im Anfang der Dreißiger stehen mußte und nichts weniger als hübsch war, nur sehr jugendlich gekleidet ging, mit jeder neuen Tänzerin den Wettkampf aufnahm – aber sie behielt ein undankbares Publikum, dem sie jedoch, wie dem alten Sänger, trotzig die Stirn bot.

In Vera-Cruz blieb ich im ganzen kaum eine Woche und hatte dort auch noch Gelegenheit, einige Überreste der österreichischen Expedition zu beobachten, denen es allerdings nicht immer gut ging.

Am besten scheinen sich die Ärzte zu befinden, von denen sehr viele in Mexiko zurückgeblieben sind, und denen man auch nicht das mindeste in den Weg gelegt hat. Den Mexikanern war ja selber damit gedient, tüchtige Ärzte in ihr Land zu bekommen, und manche habe ich getroffen, die sich außerordentlich wohl befinden. Einzelne Soldaten trieben sich aber noch, obgleich man sie im ganzen schon nach New-Orleans gesendet hatte, in der Stadt herum – und bettelten, eben nicht zur Freude ihrer Landsleute. Die meisten von diesen sollten jedoch Böhmen sein, und in dem Fall ist es auch erklärlich.

Noch wäre ich gern einige Tage länger geblieben, aber der französische Paketdampfer kam mit einer Unzahl Passagieren ein, und meine dortigen Freunde versicherten mir, daß die Diligence jetzt auf längere Zeit belegt werden würde, sobald diese das Land beträten, da die meisten von ihnen augenblicklich nach der Hauptstadt gingen. Dem wollte ich mich nicht aussetzen, und da sie glücklicherweise zwei Tage in Quarantäne gelegt wurden, benutzte ich dies und ließ mich gleich einschreiben. Den freundlichen Empfang meiner wackeren Landsleute in Vera-Cruz nahm ich aber für ein gutes Omen. Straßenräuber oder keine, ich wollte das Land kennen lernen, und ein wenig Gefahr macht ja selbst den langweiligsten Weg interessant, wie viel mehr also eine Fahrt durch dies wunderbar schöne Land.


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