Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[117] An Frau von Epinay

Neapel, den 3. April 1773

Ihr Brief macht mich untröstlich. Niemals habe ich tiefer gefühlt, wie unrecht ich tue, Ihnen abends sehr spät zu schreiben, ohne mir die Mühe zu machen, die Briefe nochmals durchzulesen, die obendrein in einer Sprache geschrieben sind, deren Kenntnis in mir etwas einzurosten beginnt. Die von Ihnen bemerkte Wendung in meinem Brief an Herrn Baudouin ist eine gräßliche Zweideutigkeit. Ich aber, ich schwöre Ihnen, ich hatte mir dieses vous als Plural gedacht; es steht an Stelle von vous autres Francais. Mein Gedankengang war der: die Neapolitaner wären aller Zeit dumm geboren und dumm gestorben und wären daher nicht imstande, den Vergleich anzustellen; aber die Franzosen, die sich erst seit kurzer Zeit neapolitanisiert hätten, könnten wohl den Unterschied empfinden. Gestaltermaßen also befehlen wir Ihnen durch dieses unser allerhöchstes Geheiß, das wir hiermit zum ersten- und letztenmal ausdrücklich kundtun: folgende Worte in unserm obengenannten Brief an Sieur Baudouin, unseren Getreuen, einzufügen: »an euch Franzosen ist es, dieses Problem zu lösen« – und soll gestrichen, getilgt, gelöscht werden alles, was etwa im entgegengesetzten Sinn möchte geschrieben sein. Und daß unser Auftrag unfehlbar vollzogen werde; denn dieses ist unser allergnädigstes, allerhöchstes Belieben...

Die Aufhebung der Belagerung von Freiburg ist allerliebst. Es ist ein Unsinn zu glauben, daß Luft und Milch Einfluß auf die Kinder hätten. Aber es ist unsere Schuld, wenn wir glauben, daß die Kinder nichts oder fast gar nichts wissen, bevor sie zu sprechen beginnen. Grundfalsch! Das Kind hat das Wichtigste seiner Erziehung schon empfangen, bevor es zwei Jahre alt wird; aber da wir nicht erkennen können, was ein anderes Wesen mit menschlichem Antlitz weiß, wenn es nicht durch Worte oder Zeichen zu uns spricht, so glauben wir, die Kinder wissen nichts. Das ist ein großer Irrtum. Jemand, der ein Jahr in London sich aufgehalten hätte, ohne ein Wort Englisch zu lernen, würde trotzdem unendlich vieles von dem Lande kennen: Straßen, Häuser, Bräuche, Gesetze, Menschen, Ämter, politische Verfassung usw. Meine Bemerkung zerstört, das sehe ich wohl, das ganze System des Emile und der anderen Pädagogen. Aber ich ziehe aus ihr den Schluß, daß es in zwei Jahren entschieden ist: die Ansätze zu Tugenden oder Lastern sind bereits vorhanden. Wir werden also niemals große Männer haben, wenn wir nicht große Ammen haben. Arbeiten wir also mit aller Macht an den Ammen; ich werde nach besten Kräften mich bemühen.

Ich habe heute abend keine Zeit, Ihnen mehr zu schreiben. Fürst Pignatelli hat tausend Aufträge für mich. Leben Sie wohl...


 << zurück weiter >>