Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[58] An Frau von Epinay

Neapel, den 16. Februar 1771

Schöne Frau!

Die Briefe, die Sie mir seit Beginn dieses Jahres schreiben, sind unglaublich. Die Politik hat Sie stumm gemacht, und wie die Stummen bringen Sie viele Töne hervor, aber keine artikulierten Laute. Ei was! Ob das Parlament Frieden schließt oder ob es an die Wand gedrückt wird, ob Herr de Choiseul zurückkehrt oder ob er in Chanteloup bleibt – ist es deshalb nötig, daß ich nicht erfahre, wie es den Helvetius geht? Was machen Madame Geoffrin, Madame Nekker, Fräulein Clairon, Fräulein de Lespinasse, was machen Grimm, Suard, der Abbé Raynal, Marmontel und die ganze ehrenwerte Gesellschaft? Sie schicken mir Verse von Madame de Boufflers, worin es heißt, sie sei keine Frau mehr. Ich weiß nichts vom Pariser Brauch; aher bei uns und nach dem Römischen Recht gewährt man den Witwen die restitutio in integrum; und Kenner sagen, von einem gewissen Alter an sei das sehr zutreffend. Übrigens will ich keine Verse von anderen, ich will Prosa von Ihnen.

Diderot hat mir die Frage vorgelegt, ob es in einem gewissen Fall möglich sei, das Getreide in einer ganzen Provinz zu monopolisieren, wenn nämlich das zum Bedarf dienende Geld in Verruf käme und entwertet würde und dadurch riesige Geldmengen sich in den Händen einzelner Privatleute ansammelten. Ich sage: dies kann nur in einem einzigen Fall eintreten. Denn, beachten Sie wohl: damit ein Herrscher ganz und gar in Verruf kommt, muß man eine Regierung voraussetzen, die weder Gesetze noch Versprechungen achtet, noch überhaupt irgend etwas, was den Menschen heilig ist. Eine solche – absolute und despotische – Regierung wird also auch Kornspeicher nicht respektieren. Also wird ein Privatmann ebensoviel riskieren, wenn er Getreide kauft, als wenn er sein Geld in königlichen Schatzscheinen anlegt. Er wird es also unterlassen. Aber wenn eine Regierung Geldbankrott macht, dabei die Grundsätze der Tugend unangetastet blieben; wenn der Bankrott nicht aus Niedertracht gemacht würde, sondern aus Gutmütigkeit, weil man lustig und munter viel Geld verputzt hat – dann würde man bei derselben Nation gleichzeitig eine energische Handhabung der Tugend und einen Verfall der Sitten beobachten. Da würde man eine ausgezeichnete Polizei sehen, vor der kein Spitzbube sicher ist, der ein Taschentuch stiehlt; dagegen würde eine Indische Compagnie oder eine Steuerpachtgesellschaft, die ihre Schulden von zweihundert Millionen nicht bezahlte, nicht einmal vor Gericht gestellt werden. Da würde man sehen, wie der Zitronenbaum eines Besitzers in den Schutz des Staates genommen wird, während man diesem selben Besitzer für hunderttausend Franken Kontrakte vor der Nase entzweireißt. Dieser Fall kommt so selten vor, daß er wahrhaftig einzig in seiner Art wäre. Wir sehen ihn, die Nachwelt wird nicht daran glauben. Also hat Diderot recht; aber ich habe auch nicht unrecht, wenn ich mit solchen einzig dastehenden Fällen mich nicht beschäftige. Guten Abend, leben Sie wohl.


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