Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[106] An Frau von Epinay

Neapel, den 24. Oktober 1772

Ihr Brief vom 1. Oktober hat mich sehr befriedigt. Sie scheinen heiterer und ruhiger als in den vorhergehenden. Gott sei dafür gelobt.

Zunächst will ich Ihre Frage beantworten. Ihr Rezept für stagna sangue hat den Erfolg gehabt, den alle Heilmittel haben, die nicht von behandelnden Ärzten, sondern von teilnehmenden Freunden vorgeschrieben werden. Man hat eifrig darum gebeten, hat den armen Unbedachtsamen, der es vorschlug, weidlich darum gedrängt, hat es gleichgültig in Empfang genommen, hat es nicht angewandt, und hat geglaubt, man sei geheilt.

Daß ich von dem antiskorbutischen Wein das Rezept besitze, ist mir sehr angenehm; aber getrunken habe ich ihn nicht. Man nimmt Medizin mehr oder weniger eifrig; je nachdem man am Leben hängt. Darum nehmen alte Leute fortwährend Medizin, junge aber nie. In Neapel also werde ich keine nehmen; in Paris hätte ich's getan.

Gleichen hat Ihnen meine Lage nicht richtig geschildert; ich werde sie Ihnen mit zwei Strichen deutlich machen. Stellen Sie sich vor, daß Confucius in einer einzigen Nacht nach Paris versetzt wäre, wo kein Mensch ihn kennt, und daß er keine andere Sprache verstünde als die chinesische. Er spricht nur mit sich selber, und er hat den Trost oder den Kummer, zu wissen, daß er in China angebetet wird.

Vorvorige Woche war ich bei meinem Bruder in Sorrent; dort fand ich meine drei Nichten, die mit aller Gewalt so schnell wie möglich verheiratet sein wollen; sie drohen, sie werden sich »ganz einfach« selber verheiraten, wenn man sich nicht beeilt. Das ist sehr unterhaltend.

Ich war diese Woche in Torre del Greco bei einem Freund, den ich seit der zartesten Kindheit kenne. Er hat den Ehrgeiz, Vikariatsrichter werden zu wollen. Gerade an dem Tage meiner Ankunft erhielt er die Nachricht, daß ein Vikariatsrichter gestorben sei; infolgedessen hat er mir fortwährend von seinen Ansprüchen erzählt und mich gezwungen, mich für ihn zu verwenden. Das ist ebenfalls sehr unterhaltend. So lebe ich hier auf dem Lande. Dagegen habe ich gestern abend den Grafen von Rzewuski bei mir gehabt. Wir haben drei Stunden im Zwiegespräch verbracht, und das war besser als alle Freuden unseres Landlebens. Auf meinen Abteien habe ich keine Häuser. Sechs Monate des Jahres herrscht dort die Malaria. Auf den Straßen treiben sich Räuber herum. Davon abgesehen sind es entzückende Gegenden, ein wahres Paradies auf Erden.

Ich bitte Sie inständig, dem Merlin einen Fuß oder einen Flügel auszurupfen. Sobald Sie etwas Geld für mich haben, seien Sie so gut, mich zu benachrichtigen; ich werde den Wechsel auf Sie ziehen bis zur Höhe der Summe, die Sie in Händen haben werden...

Ihr Domherr von Etampes hat in Ihrem Brief zu viel und in den Lüften zu wenig Raum eingenommen. Lieber wäre es mir gewesen, den Brief voller Nachrichten über Grimm oder Gleichen zu finden. Übrigens brachte er mich darauf, darüber nachzudenken, warum alle Fanatiker für den geschlechtlichen Verkehr in Form der Ehe sind. Zeugen: der Abbé de Saint-Pierre, Luther, Descartes, Rousseau und Ihr Domherr. Und warum alle großen Charaktere den freien Geschlechtsverkehr lieben; Zeugen: Caesar, Augustus, Lorenzo de'Medici, Heinrich IV. usw. Der Grund ist der: Der Fanatiker ist glücklich in der Ausgestaltung seiner Ideen; er liebt es nicht, sich von ihnen ablenken zu lassen; nichts beruhigt so sehr wie eine Haushälterin. Die großen Männer lieben den Tumult der Ideen; ihre Erholung besteht darin, daß sie sich einem anderen, noch heftigeren Wirbel überlassen. Die Galanterie ist das wildeste aller Gewitter; sie ist für sie eine Erholung.

Ich glaube, man wird in den Lüften fliegen können, wenn man eine Triebkraft von unbegrenzter Stärke entdeckt. Ich glaube, die Flügel eines Menschen müßten eine Spannweite von achtzig Fuß haben. Eine Maschine von dem gleichen Gewicht wie der Mensch, und dazu ein Mensch obendrein, würden eine Flügelweite von hundertsechzig Fuß verlangen. Es ist schwierig, eine steife und leichte Feder von der Hälfte dieser Länge herzustellen; also werden wir noch lange nicht fliegen.

Ich habe heute abend keine Zeit, Ihnen noch mehr darüber zu sagen. Gleichens Liebe zu mir wird niemals groß genug sein. Leben Sie wohl.


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