Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[114] An Frau von Epinay

Neapel, den 29. Januar 1773

Bevor ich Ihnen antworte, muß ich meinen Bericht über die Theateraufführungen fortsetzen... Als siebente Vorstellung das berühmte Voltairesche Stück Alzire; es hatte gar keinen Erfolg. Allerdings wurde die Rolle der Alzire recht schlecht gespielt; aber ganz gewiß war dies keineswegs der einzige Grund, weshalb es durchfiel. Ich lasse meinen Neapolitaner beiseite und will Ihnen meine eigene Meinung über Alzire sagen. Ich habe jetzt zum erstenmal bemerkt, daß es ein sehr schlechtes! Stück ist, obwohl sich nicht leugnen läßt, daß es eine der geistvollsten, elegantesten, glänzendsten Dichtungen ist, die Herr de Voltaire geschrieben hat; aber als Stück ist sie den Teufel nicht wert. Gusman, den man verabscheuen sollte, ist ein Mann, der in seinem Leben eine ganze Masse guter Werke vollbracht hat und wie ein Heiliger stirbt. Aus Ehrfurcht vor seinem Vater, der Alzire mit seiner Liebe beehrt, bewilligt er mit dem besten Anstand dem Gefangenen soviel Gnaden, wie man von ihm verlangt; außerdem ist er tapfer, mutig und seines Vaters würdig. Zamore - den wir lieben sollten – ist ein rasender Mörder; im übrigen hält er schöne Reden über die Verachtung des Reichtums und über »die falsch verstandenen Interessen Europas«. Monteze ist weder Amerikaner noch Spanier, weder Wilder noch Christ. Man weiß nicht, was er ist; nur daß er ein Dummkopf ist, weiß man. Alvarez, ein tränenreicher Schwächling, hat überhaupt nichts, weder Mut noch kastilianischen Stolz; diese Grundzüge des Volkscharakters hätten ihm doch gewahrt bleiben müssen. Nach der Ermordung seines Sohnes wird er ekelhaft; es ist ein unverzeihlicher Egoismus, wenn er in Zamore mehr seinen Lebensretter als den Mörder seines Sohnes sieht. Viel besser wäre es, seinem eigenen Mörder zu verzeihen, der dem Sohn das Leben gerettet hätte. Alziren kann man nicht bestreiten, daß sie eine der besten Theologinnen ihres Jahrhunderts ist: die Fragen der Religion, des Selbstmordes, des Sakramentes der Ehe erörtert sie besser als Sanchez und der heilige Thomas. Aber ihre Rolle ist so unnatürlich und unwahrscheinlich für eine Indianerin von sechzehn Jahren, daß so etwas außerhalb Paris überhaupt nicht gespielt werden kann; in Paris ist der Begriff der Natur beim weiblichen Geschlecht oft völlig verwischt. Dies ist meine Meinung, nicht die meiner Landsleute, die hierüber nicht so gut Bescheid wissen wie ich. Der Einakter Zénéide wurde ausgezischt...

Heute Abend gab man als zehnte Vorstellung Adélaïde du Guesclin... Ich bezweifle, daß sie noch irgendein Stück geben können, das diesem gleichkommt. Ich muß gestehen, die Tragödie wurde hervorragend gespielt, unbestreitbar besser, als Sie sie in Paris haben sehen können. Bei der Truppe ist ein Herr Busset, der nach meiner Meinung besser ist als Le Kain! Aufresne spielte die Rolle des Herrn de Couci; und wir haben eine sechzehnjährige Künstlerin, Mademoiselle Teissier, die wirklich sehr interessant ist. Indessen ist das Stück an und für sich schön, sehr schön; ich war davon entzückt, bezaubert, begeistert; und ich möchte wetten, es ist eines von den Voltaireschen Stücken, die sich am längsten auf der Bühne halten werden. Als Einakter gab man L'Oracle; es wurde genauso ausgepfiffen wie Zénéide, und alle sentimentalen Stücke werden das gleiche Schicksal haben. Es tut mir leid wegen des Herrn de Sainte-Foix; aber die Sache ist die: wenn auch der französische gute Geschmack von anderen Nationen angenommen werden kann, den guten Ton werden sie sich nie zu eigen machen; das ist eine echt pariserische Krankheit, wie den Polen der Weichselzopf eigentümlich ist.

Einem Philosophen bietet indessen dieses Auftreten einer französischen Schauspielertruppe in Neapel Stoff zu recht eigentümlichen und sehr tiefen Betrachtungen. Sie haben einen Erfolg gehabt, der mich erstaunt hat. Niemals sah ich etwas, das so wenig Tadler, Nörgler und Spötter fand wie dieses neue Schauspiel. Darüber ist nur ein Urteil und eine Stimme. Wenn Sie unser Theater sähen, würde sich Ihnen ein sehr komischer Anblick bieten: Sie würden eine Kinderschule sehen. Alle sitzen mit gesenkten Köpfen da, haben vor den Augen ihr Buch, und verwenden keinen Blick davon, um sich einmal die Bühne anzusehen; sie scheinen damit zufrieden zu sein, französisch lesen zu lernen. In politischer Beziehung hat dies Ereignis mehr gewirkt als alle Familienverträge. In moralischer Beziehung muß man die französischen Schauspieler als eine Mission von Ordensleuten auffassen, die der Ordensgeneral Voltaire ausgesandt hat, um eine Nation zu bekehren und das Banner seines Glaubens bei ihr aufzupflanzen. Voltaires Verse werden zur Prosa führen, und das gerade ist seine Absicht. Auf Ihren Brief werde ich eines anderen Abends antworten.


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