Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[110] An Frau von Epinay

Neapel, den 19. Dezember 1772

Ich bin, schöne Frau, heute abend nicht mehr bei Stimmung und Laune als für gewöhnlich. Nichts erheitert mich, nichts elektrisiert mich. Trotzdem muß ich Ihnen antworten, da Sie mir einen reizenden Brief geschrieben haben, und auch dem ebenso liebenswürdigen wie grausamen Strohsessel, der noch ein volles Jahr lang mir grollen will. Mein Gott, wie lang wird mir dieses Jahr werden! Sagen Sie ihm, Caraccioli kenne das heutige Italien ebensowenig wie Sie. Er hat nicht die neuen Höfe von Mailand, Florenz und Neapel gesehen; er weiß nicht, daß die Straßen im Winter unwegsam geworden sind; er weiß nicht, daß es überall im Sommer Schauspiele gibt, daß es aber keine gibt in der Adventszeit, während der Fasten und vierzehn Tage nach Ostern. Es ist wirklich ein Unsinn, daß er nicht meinen Reiseplan befolgen will, so wie ich ihn ihm geschickt habe. Außerdem muß man sich Verlegenheiten so schnell wie möglich vom Halse schaffen. Je eher die Reise begonnen wird, desto mehr wird man sich beeilen, sie zu Ende zu bringen; und Zeitgewinn muß man unter sterblichen Wesen für das Höchste ansehen.

Machen Sie mit meinem Gespräch alles, was Ihnen gut dünkt, vorausgesetzt, daß keine Gefahr dabei ist, wenn es gedruckt wird. Sie können mir's glauben: wenn ich beim Niederschreiben nichts über die Aussprüche des Herrn Thomas sagte, so glaubte ich damit bescheiden zu handeln. Sein Buch muß also recht schlecht sein, wenn er nichts sagt, was sich mit meinen Bemerkungen messen kann. Aber, kurz und gut, ich möchte sein Buch lesen und es so schnell wie möglich erhalten; denn man verlangt von mir neue Bücher als Lektüre für unsere Königin, und ich denke mir, dieses Buch könnte ihr gefallen.

Sie haben recht gehabt, daß Sie den Chevalier Mocenigo liebten; ich sah dieselbe Neigung an Fräulein Clairon dem Herzog de Villars gegenüber, und ich bemerkte, daß diese Herren mit ihren Aufmerksamkeiten und ihrer Höflichkeit beständig den Frauen Abbitte leisten für das Unrecht, das sie ihnen in ihrer Phantasie antun. Vielleicht bedauern sie auch, daß sie nicht in solchem Maße Weiber sind, wie sie es gern sein möchten. Vielleicht bewundern sie euch Frauen wie Texte, deren sehr bescheidene Ausleger sie sind: Sie waren also ein Tacitus, ein Sueton, und Mocenigo war Ihr Casaubon.

Da fällt mir ein – sagen Sie doch dem Strohsessel: wenn in Paris etwas in französischer Sprache über die Reise der dänischen Gelehrten in Arabien erscheine, möge er mich sofort benachrichtigen; ich. wünsche mir das Werk anzuschaffen.

Behalten Sie mich lieb, beklagen Sie meine Traurigkeit, meine langweilige Lage, die Nichtbefriedigung meiner Neigungen, meinen auf den unrechten Platz gestellten Ehrgeiz – aber erfahren Sie, daß ich mich trotzdem wohl befinde.


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