Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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Aus Max Eyths Freundesbriefen

Als Ergänzung seiner Briefbücher herausgegeben von Lili du Bois-Reymond.

Aus einer größeren Sammlung von Briefen an verschiedene Empfänger sind die nachfolgenden ausgesucht, ausschließlich nach dem Gesichtspunkt, daß alle die zurückbehalten worden sind, deren Inhalt entweder keinen Anspruch auf allgemeines Interesse hatte, oder Wiederholungen enthielt. Wenn bei dieser Auswahl nur die Briefe übriggeblieben sind, die Eyth an Sebastian Hensel und verschiedene Mitglieder von dessen Familie gerichtet hat, so muß ich annehmen, daß wir in diesen Jahren diejenigen Korrespondenten waren, mit denen er Dinge von allgemeinem Interesse: Fragen der Literatur, der Politik, der Religion, des menschlichen Charakters und Lebens besprach, während er mit verschiedenen andern Freunden mehr landwirtschaftliche und technische Dinge zu behandeln hatte, die auf Verständnis und Interesse in weiteren Kreisen nicht rechnen könnten.

Potsdam, November 1909.

Lili du Bois-Reymond.


Potsdamerstr. 130 III. 20. 3. 86.

Mein lieber Herr Hensel!

Fast den ersten ruhigen Augenblick, seitdem ich das Vergnügen hatte, im Kreise der Ihrigen so freundliche Stunden zuzubringen, benutze ich, erstlich, um Ihnen nochmals hiefür zu danken, und zweitens, um bei Ihrer liebenswürdigen Jugend meine erschütterte orientalische Reputation wiederherzustellen. Auf nebiger Seite erscheint der Mann mit den KoksDie Jugend des Hauses beschäftigte sich damit, den damals populären »Mann mit den Koks« in möglichst viele Sprachen zu übersetzen. Von dem weitgereisten Eyth war stürmisch ein Beitrag zu der Sammlung verlangt worden, und er sandte eine ägyptisch-arabische Niederschrift, wovon hier ein Teil steht. in Burnus und Tarbusch, und wenigstens mit einem Reim geschmückt.

Sollte Ihr arabischer Haus- und Hofgelehrter ihn wieder gewaltsam und wörtlich in unser geliebtes Deutsch übertragen, so stoßen Sie sich an einem kräftigen Lokalton nicht, den ich kunstvoll in der letzten Zeile anzubringen wußte – mußte, um ehrlicher zu sein, denn es wollte sich anders nicht reimen.

Ihr ganz ergebener

M. Eyth.

Ps. Entschuldigen Sie doch, daß ich diese leichtfertigen Zeilen nach Ihrem Bureau schicken muß. Straßennamen und Hausnummer Ihrer mir sonst unvergeßlichen Wohnung im fernen Westen habe ich vergessen. D. O.

Al rage el fachme.

Ja omma, el rage el fachme fe henna
Bess: escot, ja walet, an' araf kedir.
Fi flus? la, mafisch; min kelem aus fachme
Neharde? Schuf, emschi, ja ibn el gansir!

Ägyptisch-arabisch.

M. Eyth.


19 Friedrichstr., Neu-Ulm, Bayern, 31.12.87.

Mein lieber Herr Hensel!

Nur einen herzlichen Glückwunsch zum Neuen Jahr an Sie und all die Ihren. Möge es Ihnen im Kreise Ihrer Lieben, in welchem Sie leben und weben, wie wenige, alles bringen, was ein solch kleines Paradies des Schönen und Guten bringen kann, und Sie vor Schlangen und Bäumen der Erkenntnis jeder Art bewahrt bleiben, die es ja leider in jedem Paradiese geben soll. Ich, als ein Outsider, darf mich in paradiesischen Dingen nur mit der größten Vorsicht Vermutungen über deren innere Einrichtung hingeben, weshalb ich auch nicht weiter draufloswünschen will. Sie wissen hoffentlich, daß es mir in der Hauptsache sehr ernst ist.

Ihre freundlichen Zeilen und gestern Fräulein Lilis köstliches Kunsterzeugnis haben mich glücklich gefunden; allerdings nach einigen Schwierigkeiten. Bedenken Sie, daß Sie beides in ein falsches Königreich schickten. Wir wohnen in Neu-Ulm, in Bayern; Ulm liegt im Ausland, in Württemberg. Die beiderseitigen Postverwaltungen sind nicht nur durch heilige Reservatrechte scharf getrennt; sie liegen sich auch infolge echt deutschen Nationalgefühls beständig in den Haaren. Es ist zwar nur 2 1/2 Minuten von unserm Hause nach Ulm-Württemberg. Man muß trotzdem sehr berühmt sein, und die Achtung der Einwohner von zwei Königreichen in hohem Grade besitzen, wenn unter solchen Umständen ein Brief, und gar ein Paket, verlockende Eßwaren enthaltend, über die Grenze herüber seine Adresse finden soll.

Ein Ulmer Bürger und Bäckermeister, der seine Wanderjahre teilweise in Konstantinopel zugebracht hat, schickte vor etlichen Jahren an den Sultan eine Schachtel »Ulmer Brot«. Es ist nicht aus Marzipan; doch sind die Ulmer stolz darauf, wie auf ihren Spatzen. Nach einiger Zeit bekam der Mann ein türkisches Dankesschreiben, das jetzt noch an den zahllosen Stammtischen der guten alten Reichsstadt etwas bierbeschmutzt, aber vielbewundert herumwandert. Es kann's nur ein eingeborener Gelehrter mit Hilfe mehrerer geborgter Lexika lesen. Derselbe versichert glaubhaft, der Sultan spreche von dem »Paradiesesbrot, das ihm Stunden des reinsten Entzückens bereitet habe«.

Ähnlich ich, und noch viel mehr. Da ich noch nicht Sultan bin.

Bitte, sagen Sie dies Fräulein Lili, bis ich ihr selbst zu danken komme.

Und nun leben Sie wohl. Sie sehen, daß ich die Weihnachtsfeiertage, auch den sechsten und siebten, in plauderhaftem Behagen genieße. Wie könnte es auch anders sein, wenn mir aus weiter Ferne die Genüsse zuströmen.

Ihr stets ergebener

M. Eyth.


Neu-Ulm, Friedrichstr. 19. 12. 90.

Verehrter Freund!

In diesem Jahr hat meine halbe Vaterstadt Ulm endlich einmal etwas produziert, mit dem sie sich sehen lassen kann. Da dies seit mehreren Jahrhunderten nicht mehr passiert ist, sind wir nicht wenig stolz. Auch solche, deren religiöses Gefühl noch sehr entwicklungsbedürftig ist, fühlen sich gehoben im Besitz des größten Kirchturms der Welt. Die andern, die nur kleinere Kirchtürme haben, wie z. B. die Berliner, müssen uns verzeihen, wenn wir zu unserm Ruhme den unsern zu verbreiten suchen, wo und wie wir können. Der Ulmer Spatz, der uns seit dem 15. Jahrhundert eine zweifelhafte Berühmtheit erwarb, hat nun ein Kirchendach gefunden, auf dem er in Ehren wohnen kann.

Dabei denke ich besonders an meine Berliner Freunde, deren Spielschachtelkirchlein den Kamerunern zum Gespötte dienen. Selbst aus Ihrem vielbesprochenen Dom scheint nichts zu werden, als ein Staubwirbel in Architektenkreisen, zweimal so hoch als das Ulmer Münster. Da lob' ich mir meine hiesigen Mitbürger. Sie trinken stumm ihr Bier und plötzlich steht etwas da, das um mehrere Meter höher ist, als die Pyramide des Cheops.

Sie müssen mir unter diesen Umständen schon verzeihen, daß ich Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin den Stolz und die Freude der Ulmer in etwas verkleinertem Maßstabe auf den Weihnachtstisch zu legen suche. Möge Sie das kleine Andenken an Weihnachten 1890 und an Ihre süddeutschen Freunde gesund und fröhlich antreffen, und möge es noch viele Jahre lang aus einem bescheidenen Eckchen Ihres Heims heraus unsern Berliner Bekannten eine stumme Predigt darüber halten: Wie man Kirchtürme baut.

Mit herzlichen Grüßen an groß und klein

Ihr stets ergebener

Eyth.


19 Friedrichstraße, Neu Ulm, den 26. Dez. 91.

Verehrteste Frau du Bois!

Es läßt sich verstehen, daß Sie von diesem Jahre mit bitteren Gefühlen scheiden; es wäre schwer zu verstehen, wenn es anders wäre. Ich danke Ihnen deshalb doppelt für Ihren freundlichen Gruß. Die lieben Gewohnheiten aus glücklicheren Tagen bringen dieselben zurück. Sproßt doch das Leben immer wieder aufs neue, auch aus Gräbern.

Das beifolgende Büchlein paßt wohl für ernste Stimmungen. Ob es für die Ihre paßt, weiß ich nicht. Ich lese es gegenwärtig meiner Mutter vor und dabei hat mich's höchlich interessiert. Ein eigentümliches Pendant, wenn man der Sache auf den Grund geht, zu Robert Elsmere, von dem wir ja gelegentlich auch sprachen; d. h. wenn das ganze Gegenteil nach Form und Inhalt ein Pendant sein kann. Und doch in beiden ein Funke von wirklichem, wahrem Leben, wo es am tiefsten ist.

Wie ganz anders, als was unsre verknöcherten Theologen und papierenen Philosophen zustande bringen!

Es geht mir mit geschenkten Büchern regelmäßig so: sie treffen mich selten oder nie in der Verfassung, die sie voraussetzen. Sie stehen Jahre – Jahrzehnte lang in einem Winkel, und warten. Und wenn es gute Bücher sind, so kommt ganz plötzlich und unerwartet der Augenblick, in dem sie mir einen großen Genuß bereiten. Ich habe eine Anzahl solcher Bücher noch heute auf Lager, die noch nicht lebendig geworden sind. Versuchen Sie das Experiment mit Drumond. Stellen Sie ihn in einen Winkel. Vielleicht kommt er plötzlich einmal herausgekrochen.

Mit dem herzlichsten Wunsche – Ihnen und den Ihrigen – daß ein glückliches neues Jahr die Wunden des alten heilen möge

Ihr ergebener

Eyth.

Nachschrift. 2. Januar 1892.

Eine volle Woche lag dieser Brief hier. Zunächst hatte ich nämlich die Entdeckung zu machen, daß das »beiliegende Büchlein« Drumonds Naturgesetze in der Geisterwelt, in Ulm überhaupt nicht mehr zu haben war. Ein Brief an die Verlagsbuchhandlung brachte gestern die Nachricht, daß kein Exemplar mehr da sei und erst nach Eintreffen von Remittende oder Fertigstellung der nächsten Auflage expediert werden könne. Da sitze ich nun, mit dem immerhin tröstlichen Gefühl, daß ein gutes Buch trotz allem auch in Deutschland noch »geht«.

Sie muten einem vielgeplagten Mann nicht zu, wegen einer solchen Lapalie – dem Fehlen des Wichtigsten – einen neuen Brief zu schreiben. Und schließlich ist es ja auch gleichgültig, ob Drumond in Leipzig oder in Berlin auf die Stunde wartet, in der Sie nach ihm greifen werden. So möge der Brief der Vorläufer des Buches sein, das ich Ihnen hoffentlich bald selbst bringen kann.

D. O.


130 Potsdamerstraße, Berlin, 13. Sept. 92

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

»Ein böses Gewissen ist ein schlechtes Ruhekissen, sagen und fühlen die Alten aus der Zeit vor Sonnenaufgang.«

So schreib ich denn so bald ich kann – ich konnte wahrhaftig nicht früher – mit herzlichem Dank dafür, daß Sie mir zweimal ein großes Vergnügen gemacht haben. Verzeihen Sie, daß es nicht früher geschah!

Zuerst Kipling. Das ist eine Geschichte, die noch packt. Der volle Pulsschlag des wirklichen Lebens in seiner Lust und Bitterkeit. Ich sag's ja! Wie sich das anders liest, als die mühseligen Konstruktionen aus der Papierwelt unserer Heyse, Sudermann, und wie sie alle heißen, alt und jung. Aber so kann man eben nur schreiben, wenn man lebt und gelebt hat, was ohne Zweifel auch seine zwei Seiten haben mag. Ich mußte dabei viel an Zolas L'oeuvre denken, mit dessen Grundgedanken die Kiplingsche Geschichte viele Ähnlichkeit hat, wenn man tief genug geht: Die Selbstverbrennung des Menschen in seiner eignen Tätigkeit. Und der Unterschied des englischen und französischen Temperaments in den Krallen derselben Teufelswahrheit ist höchst pikant: hier die aktive, elementare Muskelkraft, dort die passive Nervosität, beide an sich selbst zugrunde gehend. Merkwürdig ist mir auch Miß Maisie. Daß die Frauen härter sind als wir, wußte ich schon längst. Aber so! Es ist doch kaum möglich. Und doch weiß Kipling im allgemeinen was er sagt.

Nun zu wichtigerem: den posthumen – verzeihen Sie! – den posthymenen Werken der von uns allen hochverehrten, erst kürzlich dahingeschiedenen Lili Hensel. Was wünschen Sie: einen Lobgesang oder eine Kritik,Diese Kritik bezieht sich auf eine Novelle, die damals in der »Deutschen Rundschau« erschienen war: Drei Geschichten von Frau Paschke. a) Die unwahrscheinliche, b) Die wahrscheinliche. c) Die wahre. denn auch ich bin nach Lessing geboren. Das erstere ist eine Pflicht, die mir leicht wird. Denn die Erzählung liest sich flott und fließend und ist vollgespickt mit niedlichen Gedanken, die, wie schwarze Rosinchen, aus dem vortrefflichsten aller Napfkuchen – so heißen sie doch? – uns entgegenwinken. Die ganze Tendenz ist untadelhaft; ein bißchen wie ein Heinesches Gedicht mit seiner ironischen Schlußwendung zur Verherrlichung der Prosa des Lebens. Doch das hat längst den Stempel der Klassizität erhalten. Das arme Männchen spielt eine etwas betrübte Rolle. Aber das ist nicht mehr als billig in einer Frauengeschichte. Und dann kommt es ja, fast überraschend bald, in ein besseres Jenseits, wo nicht mehr gefreit noch gespielt wird. Kurz, bis hierher bin ich voll Lobes und aufrichtig, wobei ich hauptsächlich die Geschichte im Auge habe.

Nun kann ich aber nicht helfen; die kritische Batterie will auffahren. Zuerst ein kleines Kanönchen.

Das Bild ist hübsch; der Rahmen gefällt mir nicht. Die drei Geschichten a, b, c – das ist zu sehr Reflexionspoesie. Gewöhnlich versteckt man dieselbe so gut man kann. Geht das nicht, so ist es vielleicht klug, dieselbe so offen darzulegen. Aber sie zerstört den Glauben; auch an die wahre Geschichte c.

Nun kommt aber ein Mörser, mit einem 350 Pfund schweren gußeisernen Rundgeschoß, wie es die alten Schweden zu schleudern liebten. Aus Rache. Denn seit zwei Tagen bin ich in der größten Not mit der Chronologie der drei Geschichten und werde nicht klug daraus. Die 27 ersten Dynastien der Pharaonen haben mich nicht heißer gemacht, seinerzeit in Ägypten. Gestatten Sie mir, Ihnen meine Not auseinanderzusetzen.

Die Geschichte 2 beginnt mit einem roten Sonnenstrahlenabend, an dem der arme Paschke krank zu Bett liegt und seine schon etwas gebesserte Frau spazieren geht. Die »Mutter« erzählt ihre Geschichte, die sich auf Erlebtes, Beobachtetes und Vermutetes bezieht, bis sie zum Schluß in reine Zukunftsdichtung übergeht und der Frau Paschke ein nicht ganz unverdientes, gräßliches Ende bereitet.

Auf dem gleichen Spaziergang erzählt nunmehr die viel lebenssicherere »Tochter« was sie weiß und vermutet, verläßt aber auch gegen das Ende der Geschichte den sichern Boden der Wirklichkeit – denn Paschke liegt ja noch immer, wie wir hoffen nicht allzu krank im Bett – läßt, wie billig, den guten, aber minderwertigen Paschke sterben, und bringt zum Trost von jedermann das kleine Paschken zur Welt. Das mag nun, seit einiger Zeit, das reine Fabulieren der Frau Doktorin sein, aber es geschieht in so überzeugendem Ton wahrheitsgetreuen Berichts, daß der naive Leser fest überzeugt ist, mit dem alten Paschke ist es wirklich aus.

Nun »gegen Abend« kommt die wahre Geschichte c. Da schon zu Anfang der Geschichte a die Sonne untergeht, muß dies notwendig ein andrer Abend, vielleicht Jahre später sein. Die Witwe Paschke scheint getröstet, denn ihr Geschäft blüht, und sie erwähnt mit keinem Wort den verstorbenen Gatten. Am Schluß aber fängt der denkende, manchmal aber beispiellos vernagelte Leser an, sich zu wundern. War es eine Prophezeiung der Frau Doktor am Schluß der Geschichte b? Ist diese nun buchstäblich eingetroffen? oder ist es doch umgekehrt? Und es ist nicht schön, den ordnungsliebenden Leser in einen solchen Zustand versetzt zu haben.

Noch nach 200 Jahren verzeiht man es den Schweden nicht, daß sie in Deutschland so plumpe Kugeln rücksichtslos abgeschossen haben. Und sie wollten uns doch nur eigentlich gutes tun: den Protestantismus einführen. Fast mein Fall, und ich weiß, es wird mir ähnlich gehen.

Milderungsgrund: Hochgradige Nervenerregung. Seit 14 Tagen bin ich gezwungen, den 3. Band meines Wanderbuchs, die Novellen u. s. w., wegen einer neuen Auflage zu revidieren. Vor 30 Jahren haben die kleinen Dinger noch gelebt, wirklich gelebt. Nun ist's mir, wie wenn ich braune, verhutzelte Kindermumien in neue, niedlich bemalte Bastbinden einwickeln sollte. So oft ich fertig zu sein glaube, fällt wieder ein Händchen oder ein Füßchen heraus, und ich muß frisch anfangen. Und das soll wieder leben, meint der Buchhändler. Es ist gräßlich.

Gegen Weihnachten will ich sie Ihnen ausliefern. Dann ist die Rache an Ihnen.

Wollen Sie die Freundlichkeit haben, Ihrem verehrten Herrn Vater mit herzlichen Grüßen zu sagen, daß es mir leider nicht möglich war, und auch am nächsten Sonntag nicht möglich sein wird, seiner freundlichen Einladung Folge zu leisten. Es drängt sich wieder alles recht widerwärtig um mich herum: eine Kartoffelerntemaschinenprüfung, die Oktobersitzungen, München. Wenn ihm über Kainit irgend etwas fehlt, bitte ich nur um eine Zeile. Er hat ein heiliges Recht – Wert 20 M. – auf das ganze Wissen und Können der D. L. G. Die Idee in seinem Briefchen: daß ich etwas übelgenommen haben könne! Unerhört!

Und nun – Gnade vor Recht!

Ihr stets ergebener

Eyth.


An Sebastian Hensel.

130 Potsdamerstr. 13. März 92.

Verehrter Freund!

Ihre freundlichen Zeilen haben die meinen fast gekreuzt, denn nur wenige Stunden vor deren Empfang erfuhr ich durch Herrn Muhr, daß ich Ihnen und den Ihren sehr viel mehr Glück wünschen darf, als Sie mir. Denn bei Ihnen, sowohl bei Ihrem Herrn Sohn als bei Herrn du Bois, handelt es sich um den Aufbau und das Wachsen neuen Lebens, bei mir um die anständigen Formen des Absterbens nach deutschem Brauche. – Sehen Sie, die Sonne kommt doch wieder zum Vorschein. Also meine herzlichen Glückwünsche, auch Ihrer verehrten Frau Gemahlin. Sie haben recht: bei all diesen Dingen denkt man an die Frauen zuerst.

Mir ging es wirklich wunderlich. Aber ich bin nun einmal der Haubenstock geworden, an den man die Sachen hängt, mit welchen man unsre D. L. G. zu schmücken für gut findet. Das gescheiteste ist, ich ertrage, was ich nicht vermeiden kann, mit stiller Ergebung. Nein; der Adel hat mit dem württembergischen Hofrat nichts zu tun. Es sollte mich aber nicht wundern, wenn ich noch ein paar Jahre älter und schwächer werde, wenn auch das noch kommt. Nichts soll mich mehr wundern.

Unter den zahlreichen Glückwünschen, die mir aus allen Enden und Ecken des Reichs zugehen, sind natürlich auch die landwirtschaftlichen Poeten in liebenswürdigster Weise tätig. Freund Schultz, Lupitz, als würdiger Vorsitzender der Düngerabteilung, dichtet:

Hofrat bist Du – Geheimrat dazu,
Wir sagen »all right!« – Doch bleibst Du unser Eyth.

Darauf schwang ich mich nun auf den Pegasus, mit folgendem Resultat, das ich Ihnen ganz insgeheim mitteile, weil damit die Episode am einfachsten abgemacht ist:

Meines Lebens Stolz, meines Treibens Würze
War der schlichte Name, das kurze »Eyth«;
Doch der Kurze rühme sich nicht seiner Kürze.
Nun ist es vorbei mit der Herrlichkeit.

Geheim soll ich wandeln auf zierlichen Sohlen,
Kniehosen und Strümpfe und höflichsten Sinn
Empfiehlt man mir dringend. Der Teufel soll's holen!
So Gott will, bleib' ich so kurz wie ich bin.

Herzlich grüßend

Ihr Eyth.


Neu-Ulm, 9. Jan. 93.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Im Trubel der allgemeinen Weihnachtsfreuden und meiner speziellen Münchner Leiden – das süddeutsche Geflügel wehrt sich mit Händ' und Füßen gegen norddeutsche Rasseneinteilung – versäumte ich bis heute, Ihnen für die große Freundlichkeit zu danken, mir sogar etwas zu schicken, das Sie selbst nicht besaßen. Das geht gegen alle Gesetze der uns bisher bekannten Natur, so daß wir Gefahr laufen, wenn es so fortgeht, bald nur noch auf dem Gebiete der vierten Dimension zu verkehren. Da will ich aber doch lieber Marzipan essen und am liebsten warten, bis Sie wieder Zeit haben, Ihre unschätzbaren Kunstwerke auf dem Gebiet süßer Plastik persönlich herzustellen. Ich bitte herzlich, lassen Sie uns davon nicht abgehen. Auch ich hänge am Hergebrachten.

Siemens'Werner von Siemens' Lebenserinnerungen. Buch kannte ich teilweise schon. Es ist ein schönes und gutes Stück aus dem vollen Menschenleben, und wie voll ist es in unsrer Zeit, die buntere Odysseen dichtet als der alte Homer, wenn wir es nur immer merkten. Ich werde Ihnen das Buch sorgfältig bewahren, und in nicht zu langer Zeit wieder zustellen. Es ist Ihnen besonders wertvoll durch die Art, wie es in Ihre Hände kam, und die Kunst, mit der Sie es zu freundlicher Taschenspielerei zu benutzen wissen.

Aber nicht wahr, wir lassen es beim Marzipan. Ich bin ja geduldig, und die nächste Weihnachtszeit ist in elf Monaten schon wieder da.

Mit herzlichen Grüßen – wenige Stunden vor meiner Abreise nach München –, auch an Herrn du Bois-Reymond, an Ihre verehrten Eltern und an die ganze nächste Generation von

Ihrem stets ergebenen

Eyth.


München, Goethestraße 12, II. 8. Mai 93

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Auch die Ehrlichkeit muß man nicht zu weit treiben. Ich wäre schließlich schon gekommen. Aber seit Anfang März bin ich nicht mehr in Berlin, hatte also nicht die Möglichkeit, es zu tun, und seit sieben Jahren habe ich im Mai kaum Zeit, eine Zeile zu schreiben, die sich nicht auf Vieh oder Kohl bezieht.

Nach Chorin also führe ich die Expedition – nach Chorin oder in jedes andre Ihnen genehme ruinierte Kloster. Ein Bußgang.Es war in der Zeit des Septennats. Wir hatten mit Eyth gewettet, daß der Reichstag die geforderte Erhöhung der Präsenzstärke des Heeres für sieben Jahre nicht bewilligen werde. Der verlierende Teil sollte eine – lange geplante – Partie nach Chorin veranstalten. – Denn es ist wirklich eine unsagbare Schmach, ein sogenannter Deutscher zu sein; und man kann doch eigentlich nichts dafür. Ich glaube nicht, daß Bosheit der Grundzug unsers Charakters ist, aber unglaubliche Dummheit, die fast aufs gleiche hinauskommt. Und dann die physische Unmöglichkeit, zu sehen, was alle Welt sieht, die wir unsern Schulmeistern verdanken. Wenn uns nicht eine eiserne Faust zusammenschweißt, und die Fremden mit Fußtritten zwingen, ein Volk zu sein, geht's nun einmal nicht. Ein großes Volk mit verkrüppelten Herzen und verdrehten Köpfen. Die Fußtritte werden wir bald genug wieder bekommen. Ich freue mich drauf.

In rosigster Stimmung, wie Sie sehen, mit herzlichen Grüßen an die werten Ihrigen

Ihr sehr ergebener

Eyth.


An Sebastian Hensel.

Berlin, Potsdamerstr. 130. 14. Nov. 93.

Verehrter Freund!

Es wäre wohl am Platze gewesen, Ihnen mein Beileid etwas früher zu bezeugen. Aber wie es ja meistens geht, gestaltet sich der erwartete ruhige November zu einem stürmischen Regenmonat, in geschäftlichem Sinn, der mir alles mögliche Unerwartete am Dach unsrer D. L. G. zu flicken gibt – Kalidüngerkrämpfe, Kartoffelprüfung (ich habe dabei allerdings nur den Koch und Küchenmeister zu spielen, aber schon hiervon verstehe ich nichts), Bauverträge und Baupläne für die Berliner Ausstellung u. s. w. Und so komme ich erst heute dazu, Ihnen und den werten Ihrigen mein Bedauern darüber auszusprechen, daß Ihr kleines Volk eine Invasion der kleinsten Völker, die uns von Zeit zu Zeit das Leben erschweren, über sich ergehen lassen muß. Hoffentlich nimmt oder nahm die Sache einen milden und raschen Verlauf.

Mir selbst machen Bazillen, welcher Art sie auch sein mögen, blutwenig Sorge. Die Menschheit hat mit und neben den Tierchen 5 bis 50 000 Jahre harmlos gelebt, und hat in dieser Zeit sichtlich nicht abgenommen. Wozu sollen wir plötzlich soviel unnötige Vorsichtsmaßregeln gegen diese Geschöpfchen ergreifen, die vom Anfang an zu unsern intimsten Haustierchen gehörten.

Doch ist es ebensowenig nötig, den Transport meiner Skizzenbücher zu beschleunigen. Ich weiß, daß sie bei Ihnen nicht nur besser aufgehoben sind als bei mir, sondern überdies ein Gastrecht genießen, wie es ihnen noch nie zuteil geworden ist.

Mit den besten Wünschen für die Wiederkehr normaler Zustände

Ihr ergebener

Eyth.


Berlin, Potsdamerstraße 130, III. 4. Dezember 94.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Herzlichen Dank für Ihre freundliche Teilnahme. Ich bin zwar den Klauen des Arztes noch nicht entwischt, doch – behauptet er – mache ich unter denselben die erfreulichsten Fortschritte.

Aber unter keinen Umständen würde ich dulden, daß Ihr Herr Vater den wilden Gedanken einer Bergbesteigung in der Potsdamerstraße zur Ausführung zu bringen versuchte. Erstens gehöre ich in der Tat, wie Sie richtig vermuten, zu den »menschenscheuen Kranken«, bin sogar ein extremer Fall dieser Gattung. Zweitens ist es ja ganz unmöglich!

Dagegen wird es mich herzlich freuen, den alten Freund zu empfangen, den Sie mir versprochen. Hierfür zum –

Ich muß Ihnen diese Zeilen schicken, wie sie sich auch gestalten, denn die Sache ist allzu wunderlich! Zwischen dieser und der vorigen Seite liegt der Besuch Ihres Herrn Vaters!

Hierfür zum voraus meinen herzlichen Dank, wollte ich schreiben, und schreibe es doppelt gern, nach einer solchen Überraschung.

Aber weshalb nennen Sie Ihr Buch schlecht? Das ist nicht recht und nicht natürlich. Oder ist die Mutterliebe ein so weit schwächeres Gefühl als die Vaterliebe, die wir bei manchem Schriftsteller in so rührender Weise entwickelt finden, und nur ganz mit Unrecht? Denn hätte er der Liebe nicht u. s. w.

Ihr stets ergebener

Eyth.


An Julie Hensel.

Berlin, 14. Dez. 94.

Verehrteste Frau!

Ihre freundlichen Zeilen haben mich herzlich gefreut, wenn sie mich auch nicht ganz aus einer Stimmung reißen konnten, die nicht meine gewohnte ist und hoffentlich nie werden wird. Seit einigen Tagen ist mir, und auch meinem Arzt, ziemlich klar, daß sich bei mir ein Leiden eingestellt hat, das ein treuer Begleiter des Menschen zu bleiben pflegt, bis er selbst aufhört, sich begleiten zu lassen. Ein Mann, der seit seiner Jugendzeit leidlich gesund zu sein glaubte, braucht ein paarmal 24 Stunden, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen und damit zu rechnen. Doch hoffe ich, habe ich bereits nicht ohne Erfolg begonnen, die kommenden Subtraktionsexempel – um solche handelt es sich zunächst hauptsächlich – zu studieren. Früher oder später sind sie ja doch unvermeidlich.

Sie sprechen, denke ich, in Ihrem wohltuenden Briefe allzuviel von Opfern. Man tut schließlich, was man nicht lassen kann, nicht den andern zu gefallen, sondern dem eignen Triebe folgend. Das ist wirklich mein Fall. Nichts liegt mir ferner als das Gefühl, damit Opfer gebracht zu haben. Es wäre ja auch barer Unsinn. Ob es klüger ist, sich dem weiteren oder engeren Kreise zu geben, das entscheidet wohl auch nicht die freie Wahl, sondern die innere Notwendigkeit, mit der wir auf die Welt kommen, und die den einen dahin, den andern dorthin weist. Gut, daß es so ist; denn zu wenige gingen sonst ins Weite. Es ist ihnen allzu selten gegeben, mit Befriedigung auf das zurückzublicken, was sie leisten konnten, und man merkt das bald genug. Auf kurze Zeit trägt sie die Woge des Lebens, und plötzlich zieht die Flut weiter, die sie zu treiben meinten, und sie fühlen, daß sie versinken. Die Geschichte des Tropfens im Ozean. Und doch haben sie vielleicht das ihrige getan. Sollte dies nicht genügen, im kleinen und großen, im engen und weiten?

Bitte, sagen Sie Herrn Hensel, wie sehr mich sein Buch über WittKarl Witt, ein Lehrer und Freund der Jugend, geschildert von S. Hensel (Berlin 1894. B. Behrs Verlag). gefreut hat, das ich erst gestern beendete. Nicht bloß den wackren, schlichten Witt, auch eine Anzahl Hensels lernt man daraus besser kennen und schätzen, als in den wenigen Augenblicken, die man im Leben oft so müßig verplaudert. Namentlich geht es den Schwaben so, denen es nun einmal nicht gegeben ist, das Herz auf der Zunge zu haben.

Morgen gehe ich nach Ulm und hoffe in den nächsten drei Wochen mich leidlich zu erholen. Wie es dann weiter geht, wird sich wohl zeigen. Ihnen aber, verehrte Frau, meinen herzlichen Dank für den Abschiedsgruß, den Sie mir auf den Weg geben.

Ihr ergebenster

Eyth.


An Sebastian Hensel.

Neu-Ulm, 5. Jan. 95.

Mein lieber Freund!

Sie haben zum erstenmal im neuen Jahr die Feder für mich eingetaucht; ich tauche sie zum letztenmal für Sie in Ulm ein. Letzteres hat allerdings eine wesentlich weniger erhebende Bedeutung. Sie müssen mich damit trösten, daß wenn jeder sein Möglichstes in seinem Kreise tut, wir leidlich zufrieden sein sollten.

Heute abend gehe ich nämlich nach Stuttgart. Das unangenehme Kranken- und angenehme Faultierleben hat ein Ende. Dann nach Köln, wo ich am Donnerstag den Vätern der Stadt und ihren Kindern ins Gewissen reden muß; eine nicht allzu leichte Sache in Kreisen, die in Handel und Industrie aufgehen und von der Landwirtschaft und ihren Nöten möglichst wenig hören wollen. Hierauf kommen ein paar Tage lieblicher Verhandlungen mit Unternehmern von Erdarbeiten und Bauten, alle fest entschlossen, mir und der D. L. G. die Haut abzuziehen, und schließlich folgt Berlin. Die schönen Monate meines Jahres sind nun wieder vorüber. Wie mir die häßlichen diesmal behagen werden, muß sich noch zeigen. Ulm, die mütterliche Küche und meine kleine Kur haben mir gut getan, aber so ganz neugeboren fühle ich mich trotzdem nicht. Dies ist auch nicht nötig. Mein Ehrgeiz beschränkt sich darauf, den Heimtücken der menschlichen Natur auf fünf Monate durch übermenschliche Schlauheit zu entgehen. Gelingt das, so will ich zufrieden sein.

Für Ihre freundlichen Neujahrswünsche herzlichen Dank! Hoffen wir das Beste für uns alle, wie wir dies schon etliche 50-60 mal mit mehr oder weniger Erfolg getan haben. Sie haben recht; es bleiben im menschlichen Leben noch immer erträgliche Seiten, so bitter andre sein mögen. Wie in Landschaften. Die ödeste kann schließlich durch ihre Öde ein wunderbares Bild werden.

In wesentlich anderm und doch etwas ähnlichem Sinne fällt mir auch heute wieder Ihr Freund Witt ein, der mich viel beschäftigt hat. Man fragt sich unwillkürlich, ob die innere Schönheit dieses überaus schlichten Lebens einen genügenden Ersatz bietet für das, was der Mann hätte sein und werden können, wenn seine unzweifelhafte, edle Charakterstärke das Übergewicht über seine rührende Bescheidenheit gewonnen hätte; wenn er mehr aktiv als passiv gewesen wäre. Die Antwort hängt wohl von unsrer eignen Stimmung ab: ja und nein. Das Beste aber ist wohl, daß Menschen wachsen, die der einen, und andre, die der andern Stimmung gerecht werden. Wir brauchen beide.

Ja – das Buch ist von meiner Mutter, in dem von Ihnen verstandenen Sinn. Die Sachen erschienen ursprünglich stückweise, in den vierziger und fünfziger Jahren größtenteils, in dem Jahresalmanach »Christotherpe«, den damals Knapp in Stuttgart herausgab, und wollten nie etwas anderes sein, als lose Gedanken, wie sie das Leben bringt. Mein Vater, der von jeher eine Freude am Büchermachen hatte, besorgte dies und das weitere. Sonst wäre wohl nie ein Buch daraus geworden. Es freut mich von Herzen, daß es Sie freut. Für mich ist es natürlich etwas mehr als ein bloßes Buch, wenn ich auch, wie Sie, vieles nicht unterschreibe.

Doch genug – schon zu viel des Plauderns. Es hat nun ein Ende, auf Monate. Meine Koffer wollen gepackt sein.

Herzlich grüßend

Ihr Eyth.


An Sebastian Hensel.

130 Potsdamerstr., Berlin, 5. Febr. 95

Verehrter Freund!

In re Kartoffelkrankheit.

Einer meiner Großonkel in Stuttgart hatte eine alte Magd von hervorragender landwirtschaftlicher Vorbildung. Dieselbe erklärte uns, daß die Kartoffelkrankheit die Folge der Eisenbahnen war. Entweder kam sie vom Rauch der Lokomotiven, an den die Kartoffeln nicht gewöhnt waren, oder vom Teufel, der sich infolge der Verkehrserleichterung in allen Teilen des Ländchens viel tätiger zeigen konnte.

Das böse Prinzip gibt uns keinen festen chronologischen Anhaltspunkt, da es in Schwaben seit Urzeiten bemerkt wird. Dagegen wurde die erste Eisenbahn von Stuttgart nach Ludwigsburg im Jahr 1846 festlich eingeweiht, woraus wir mit Hilfe der Magd meines Onkels schließen dürfen, daß die Kartoffelkrankheit in Württemberg um 1847 auftauchte.

Dies stimmt genau mit Professor Dr. Frank, der größten Autorität Berlins in diesen Dingen. Derselbe schreibt mir soeben: »Die Kartoffelkrankheit brach als Epidemie in Europa zuerst 1845 aus.« Die Schwaben kamen von jeher kurz – ungefähr zwei Jahre – hinter Europa. Wir können den Punkt somit als aufgeklärt erachten.

Es wäre gewiß nützlich, wenn Sie dieses Beispiel unsrer gemeinsamen, gewissenhaften Geschichtsquellenforschung dem leichtfertigen Herrn Treitschke zu Gemüt führen wollten.

Herzlich grüßend

Ihr Eyth.


An Sebastian Hensel.

Köln, Christophstr. 39. 12. Mai 95.

Verehrter Freund!

Beim besten Willen kann ich Ihnen nicht mehr als einen herzlichen Gruß und Dank für Ihre Glückwünsche senden. Ich stecke in tausend Nöten, schlimmer als je. Köln hat zwölf Bürgermeister! Es ist fast mehr, als ich tragen kann.

Ihr treuer ergebener

Eyth.


Berlin, Potsdamerstr. 130, III. 31. Aug. 95

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Sie gehen mit meinen literarischen Skizzen um wie Ihr lieber Herr Vater mit meinen Federzeichnungen. Wo und wie werde ich, wenn ich nächstes Jahr wieder in die wilde, weite Welt hinaus ziehe – vorausgesetzt, meine Knie, an denen ich infolge eines kleinen Bergsturzes seit drei Wochen herumkuriere, tragen mich wieder – wo werde ich für beides die unverdiente Anerkennung finden, die dem schwachen Menschen wohl tut?

Von Stevenson habe ich wohl das meiste gelesen, und wie Sie aufrichtig mich daran gefreut. Nicht sehr tief, aber gesund; mehr Muskeln als Nerven. Ärgerlich ist mir, daß er mich in den letzten Jahren seines Lebens dadurch etwas ärgerte, daß er uns Deutschen in Samoa ein arger Dorn im Fleische war. Das hat aber mit seinen Büchern nichts zu tun.

Ein andres feines Buch, das mir in meiner Sommerfrische in die Hand fiel, könnte ich Ihnen leihen, wenn Sie einmal sehr ernsthaft aufgelegt sind: Mc. Larens »Beside the bonnie briar bush«. Uhde in Buchform. Der andre Pol von Kipling in menschlichem Denken, Fühlen und Leben. Und doch unverfälschte Natur, wie dieser in seinen besten Sachen. Das Leben zeitigt eben wundervolle Gegensätze, ohne sich selbst untreu zu werden.

Ihr lieber Vater, der mich gestern besuchte, verhalf mir dazu, daß ich Ihren ritterlichen Kampf gegen den ungekämmten Struwelpeter und für den einäugigen Polyphem nicht übersah.Ein Feuilleton über gute und schlechte Kinderbücher in der »Nationalzeitung«. Der Aufsatz ist ganz vortrefflich in Form und Zweck. Allerdings kann der deutsche Widerspruchsgeist auch einiges für den hausbackenen, boshaften Struwelpeter vorbringen. Ist nicht am Ende Platz für beide in der Welt; selbst in der Kinderwelt, wenn man sie vorsichtig mischt. Vor der Mischung von gut und bös, schön und häßlich, hausbacken und phantasievoll, sinnig und blödsinnig, die das Leben bietet, können Sie gar bald die Kleinen doch nicht schützen. Schließlich kommt es darauf an, beizeiten beides ertragen und genießen zu lernen.

Herzlich grüßend Ihr ergebener

Eyth.


Berlin, Potsdamerstr. 130, III. 18. Sept. 95.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Für Ihre freundlichen Zeilen danke ich Ihnen sozusagen zwischen Köln und Hamburg. Denn erst vor ein paar Tagen kam ich von meiner Dreschmaschinenprüfung zurück und heute abend werde ich die Hamburger Kaufherrn trösten, welche befürchten, für unsre Ausstellung einen Garantiefond zeichnen zu müssen.

Das Dreschen hat meinem Knie gut getan. Seitdem es wieder etwas in Ruhe kommt, geht es ihm wieder schlechter. Sichtliche Böswilligkeit.

Das Buch haben Sie wohl erhalten.Vgl. den Brief vom 31. August. Ich fürchte, es wird Ihnen nicht behagen. Man muß schottisch können, um es zu genießen: erstens den Dialekt und zweitens diese ganz merkwürdige Geistesrichtung eines ganzen Volkes, für die wir in Deutschland kaum mehr ein Verständnis haben – und vollends in Berlin! – Sie werden vielleicht protestieren. Aber der Luft, in der man aufgewachsen ist, entgeht man nicht.

Mit besten Grüßen in entschuldbarer Eile Ihr sehr ergebener

Eyth.

Ich vergaß die Photographie: Ich muß nämlich vorerst nachsehen, welche Aufnahme Ihr Herr Vater mitgenommen hat. Ich besitze drei oder vier; über die meisten schimpfen meine Freunde. Sie wollen nun doch diejenige haben, die keine Karikatur ist. D. O.

Träumerei im Lehnstuhl

Es wird Dir schwer, hört ich Dich klagen,
Der Kunst, den Künstlern nachzugehn.
Wozu auch, wenn aus alten Tagen
Die großen Geister auferstehn?

Die Dich erfreut, entzückt einst hatten,
Da kommen sie: ein wenig bleich;
In Schwarz und Weiß. Drum sind es Schatten,
Und so ist's Brauch im Schattenreich.

Der Raffael, fast ganz wie früher,
So himmlisch rein, so wunderzart,
Und Rembrandt, eh' er noch Erzieher,
Ja, eh' er selbst erzogen ward.

Auch Tenier, der auf fläm'scher Wiese
Sich mit Behagen wälzt im Gras,
Und Michelangelo, der Riese,
Der vor der Götter Tafel aß.

Dann Rubens, der mit goldnen Locken
Und üpp'gem Fleische fröhlich ringt,
Und unser Dürer, tief und trocken,
Was nur ein Deutscher fertig bringt.

Von Jungen auch der kleine Menzel,
Der selbst die Jüngsten überragt.
Und Werner, dessen Hofgeschwänzel
Vielleicht nicht jedermann behagt.

Du hörst in der begrabnen Meister
Geflüster, was sie einst erregt.
Du siehst den Kampf der jungen Geister,
Wenn nur Dein Finger sich bewegt.

Und bist Du's müde, sie zu rufen,
So gehn sie willig, alt und jung;
Und schöner malt Dir, was sie schufen,
Die eigene Erinnerung.

Meinem lieben Freunde Hensel zur Erinnerung an Weihnachten 1895.

M. Eyth.


An Sebastian Hensel.

Neu-Ulm , 6. Jan. 96.

Verehrter und lieber Freund!

Herzlichsten Dank für Ihren, für meinen Athos.Eyth sprach öfter, halb im Scherz, halb im Ernst, davon, sein Leben unter den Mönchen auf dem Athos zu beschließen. Mein Vater hatte ein Bild gemalt, das Eyth auf dem Athos darstellte. L. du B.-R. Ich sehe, Sie ahnen etwas von dem Glück, dem ich entgegengehe. Das hat meine Freude an dem herrlichen Bilde verdoppelt, die selbst die Gruppe verkappter Epikuräer am Fuße des Berges nicht vermindern konnte. – Es war zwar, wie ich vermute, nicht Ihre Absicht, den Entschluß zu kräftigen, meinem Leben nach frommer, raubritterlicher Weise diese Wendung zu geben. Wenn Sie dies dennoch taten, so beweist dies nur, welch tiefe Wirkung Sepia, Ultramarin und Kobalt, von Künstlerhand aufgetragen, auf ein empfängliches Gemüt auszuüben vermag. Es beweist vor allem, von welch scheinbar unscheinbaren Stoffen unser Seelenleben bewegt wird. Sollte ein großer Berg nicht ähnlich und im Verhältnis mächtiger wirken können? Bedenken Sie nur den Unterschied, schon im bloßen Gewicht.

Seit zwei Tagen liege ich in heftigem Kampf mit mir selbst. Mein Athos hängt mir gegenüber, reizvoll an der Türe unsers Speisezimmers angeheftet, so oft ich den verunglückten Hausvater spiele. Soll ich mich auf kurze Zeit von ihm trennen, was mir schwer wird, oder ihn nach Berlin entführen, wogegen meine Mutter protestiert, die, nachdem sie ihn zuvor beschimpfte – Sie können sich denken, weshalb – sich nun nicht mehr von ihm trennen will. Bis heute abend muß der Kampf entschieden sein; denn ich schreibe Ihnen am letzten Tage meines Hierseins.

In Stuttgart steht mir ein andrer bevor: der Kampf mit einem geschlossenen Ring von Zimmerleuten und Bauunternehmern. Die Schwaben, die nicht so dumm sind als sie aussehen, hoffen dies von ihrem Landsmann und suchen mich zunächst zu zwingen, Bauverträge mit unerträglichen Baupreisen anzunehmen. Sie werden sich brennen. Übrigens wächst meine Sehnsucht nach Gegenden, in denen man am besten in Höhlen wohnt, bei jeder Berührung mit diesem Ottergezücht.

Ihrer verehrten Frau Tochter, der Muse des Hauses, deren vielfacher Schuldner ich nachgerade werde, muß ich später antworten. Dazu gehört es sich, auf die nötige Inspiration zu warten. Der Himmel gebe, daß sie nicht ausbleibt und Frau du Bois-Reymond wird milde verzeihen müssen, wenn sie es tut. Inspirationen werden immer seltener in diesen schlechten Zeiten.

Doch nun zum Schluß nochmals meinen Dank und nach meiner Art verspätete herzliche Glückwünsche an Sie und Ihr ganzes liebes Haus von Ihrem

Eyth.


An Sebastian Hensel.

173 Michelsberg. Ulm, 13. Jan. 96.

Lieber und verehrter Freund!

Sie machen einen so freundlichen und herzlich gut gemeinten Vorschlag mit einem Nachdruck von so wehmütig tragischem Ernste, daß es mir schwer wird, der Vernunft die gebührende Herrschaft über das Gefühl zu wahren. Und doch ist dies in unsrer Zeit und zu allen Zeiten eine heilige Pflicht. Sehen Sie: ich komme nach Berlin in der sogenannten »großen Woche«. In diesen acht Tagen werden wir voraussichtlich »sitzen« von morgens neun Uhr bis nachts sieben und acht Uhr mit einem Fleiß, der ans Groteske grenzt, namentlich, wenn man die Ergebnisse dieses phänomenalen Eifers damit vergleicht. Dann verlangen die guten Freunde, mit denen man den Tag durchgestritten hat, nicht mit Unrecht eine halbe Nacht, um in allen möglichen vergnüglichen Formen Freundschaft und Versöhnung zu pflegen. Den Rest der Nacht nimmt der murmeltierartige »Schlaf des Gerechten« dringend in Anspruch. – Wenn Sie das alles mitansehen müßten, würden wir uns beide acht Tage lang bitter darüber ärgern. Glauben Sie mir: es ist besser, ich leide allein. – Nach Schluß dieser fürchterlichen Woche, am 19. Februar, gedenke ich noch ein paar Tage in B. zu bleiben. Dann komme ich zu einem gründlichen Nachmittagsbesuch zu Ihnen, wenn Sie und die lieben Ihrigen wohl genug sind, um unter Besuchen nicht zu leiden. So, glaube ich, ist es für uns alle recht und richtig. –

Auch für die zweite Photographie danke ich Ihnen aufs beste, die beiden bilden nun zwei hübsche Pendants: Jugend und Alter im Schatten der grünen Bäume, die Sie, nach Patriarchenart, auf den Sandhügeln Ihrer nordischen Wüste gepflanzt haben. –

Mit Ihrem Urteil über deutsche Zeitschriften verglichen mit denen andrer Nationen bin ich völlig einverstanden, und »noch mehr so«; wie, wenn ich mich recht erinnere, Artemus Ward sagt. Was ist die Ursache dieses Jammers? Die Leute, die bei uns im praktischen Leben stehen, sind trotz oder infolge all unsrer Schulbildung merkwürdig plump und ungeschickt, ihre Gedanken und Erfahrungen andern in genießbarer Form mitzuteilen. Diejenigen, die denken und schreiben können, sind im allgemeinen ebenso unfähig, in ihrem Denken an das praktische Leben anzuknüpfen. Und dieses Leben ist so voll von Interessantem; und das kleine Ich, mit dem sie schöpfen, so kläglich bald leer geschöpft. Das scheint mir der Hauptgrund dieser Erscheinung. Aber der Grund dieses Grundes liegt tiefer: Rasseneigentümlichkeit, die durch verkehrte Pflege zur Krankheit geworden ist.

Ich habe unter diesem Eindruck den Plan aufgegeben, mehr meiner Sachen den Zeitschriften anzubieten. Ich will nun mit noch zwei zu schreibenden Nummern direkt auf die Buchform losgehen, und das erste kleine Bändchen – es wird nicht einmal sonderlich klein werden – abschließen. –

Der »Tartarenrebell« und das »Billardbein« sind beide bereits gesetzt, so daß es mir gelang, die Manuskripte den Druckereien wieder zu entlocken. Da Sie glauben, die beiden Nummern noch nicht gelesen zu haben, lege ich sie bei. Doch lesen Sie sie nicht, wenn es Ihnen angenehmer ist, sie in einiger Zeit gedruckt vor sich zu sehen. Auch glaube ich wirklich, Sie haben die Sachen in nur wenig andrer Form schon gesehen und nur vergessen. Das werden Sie sofort merken.

Meine Pièce de résistance stellen für heute aber die »dunkeln Blätter« vor. – Warum Sie sich ärgern werden? – Ich glaube schon öfter mit geheimer Verwunderung bemerkt zu haben, daß Ihnen der Sinn für die Mystik der Menschennatur fehlt. Bei mir ist er ganz entschieden vorhanden, wenn auch vielleicht nur in der Form des Hangs nach der Poesie der Mystik. Die »dunkeln Blätter« streifen dieses Gebiet. Doch können Sie sie auch als eine Schilderung der verschiedenen Formen des Aberglaubens verstehen, die im Volksleben der Ägypter heute noch eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Noch im Jahr 63 nahm der Vizekönig Said-Pascha seinen Astrologen nach Paris und London mit, und ging auf dessen Rat rasch nach Alexandrien zurück, um dort zu sterben: was auch gelang.

Ein Vorwort zu dem Abschnitt will ich Ihnen und mir ersparen. Er soll selbst sagen, was er zu sagen hat. Nur eins: es ist alles historisch, soweit Gerüchte im Munde der Leute von Kairo als Quellen dienen können. Nach andern habe ich vergeblich gesucht.

Wenn Sie die Freundlichkeit haben wollten, wieder kritisch zu lesen und Randbemerkungen zu machen, wäre ich Ihnen herzlich dankbar. Die angeklebten Zettel sind nun doch als Fußnoten gedacht, da es unmöglich ist, für manche arabische Bezeichnungen deutsche Äquivalente zu finden, und das nächstliegende deutsche Wort ganz falsche Begriffe in die Geschichte hineinbrächte.

Wollen Sie gütigst andeuten, welche dieser Fußnoten wegbleiben könnten und wo Sie sogar eine weitere nötig fänden. Dann bitte ich, streichen Sie unbarmherzig Wiederholungen an, die Ihnen mißfallen. Ich werde Ihren Winken vielleicht nicht immer folgen, aber ich fühle, daß Sie einen wohltätig erzieherischen Einfluß auf mich ausüben. Das ist zum mindesten für die Zukunft ein gutes Werk.

Nun aber zum Schluß. Herzliche Grüße an das ganze Haus, einschließlich des Nebenhauses. Ganz besonders wünsche ich Ihrer verehrten Frau Gemahlin und Ihnen selbst gesunde Wintermonate. Der Frühling soll dann weiter sorgen.

Ihr stets ergebener

Eyth.


Berlin, Potsdamerstr. 130, III. 3. Febr. 96.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Sie sehen, ich suche mit tunlichster Geschwindigkeit meinen Mißgriff zu verbessern. Die beiliegende Photographie wird von meinen besten Freunden für die schlechteste der drei gehalten; aber ich habe noch schlechtere. Wählen Sie nun gütigst! Ich füge mich gerne auch in das von Ihnen erfundene neueste Wahlsystem, das viele Vorzüge hat. Ihrem lieben Vater meine herzlichsten Wünsche zur baldigsten Wiederherstellung des status quo seiner Gesundheit. Wie ihm, gefiel auch mir gestern manches nicht ganz. Doch müssen wir die Sache auch nicht allzu ernst nehmen. Meine Hauswirtin, eine zweiundachtzigjährige Frau, bekommt seit vier Jahren alle sechs Monate ein ähnliches kleines Nervenschlägchen, fällt um, zappelt ein wenig, ist einige Tage irgendwo steif und befindet sich dann wieder so wohl als zuvor. In Groß-Lichterfelde habe ich einen Freund, dem es seit acht Jahren ähnlich geht. Der hat allerdings viele Schmerzen dabei.

Auf dem Heimweg habe ich gestern mit großem Eifer übersetzt. Dieser Teil der Epistel gehört übrigens Ihrem Herrn Papa!

In tenuis labor!Mein Vater hatte eine Biographie seines Freundes Walter Robert-Tornow geschrieben. Dabei war darüber gesprochen worden, wie dessen Wahlspruch: In tenuis labor wohl übersetzt werden konnte. – Ein Wahlspruch ist natürlich, wie ein feines kleines Gedicht, nicht wörtlich zu übersetzen, sonst kommt unbrauchbarer Unsinn heraus. Ich würde also zunächst sagen: »Treu im Kleinen.« Dies geht an als Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche und damit aus der Kopfsprache in die Herzenssprache.

Ein zweiter Versuch ergab: »Spitze Dein Bleistift.« Dies gibt den Sinn nicht übel und ist überdies eine gelungene Übertragung aus der ganghaften, langweiligen, mit abstrakten Begriffen einherstolzierenden Römerart in die gemütliche, hausbackene, konkrete Form deutscher Denkweise. Allerdings paßt so der Wahlspruch mehr für Künstler als für andre Menschen. Für Hof- und Weltleute, wie es Herr Robert-Tornow gewesen zu sein scheint, würde ich »Wichse Deine Stiefel« vorschlagen.

Nach Sinn und Form scheint mir dies die gelungenste Übersetzung.

Sie sehen, im Übersetzen bin ich nicht ohne berechtigte Selbstgefälligkeit. Ihr stets ergebener

Eyth.


An Sebastian Hensel.

Neu-Ulm, 28. April 96.

Mein lieber und verehrter Freund!

Auf Ihren letzten Brief, der so voll ist vom Leid des Lebens und Sterbens, würde ich herzlich gern mit einer langen Epistel von Trostesworten antworten, wenn ich nicht wüßte, wie nutzlos der Versuch ist, mit erkünstelter Heiterkeit den bittern Ernst des Menschendaseins zu bekämpfen. Packt er uns nicht alle schließlich? Wird es nicht um jeden von uns stiller und stiller, wenn wir einmal den Höhepunkt des Lebens überschritten haben? Sie fühlen es im Kreise der Ihrigen, die Sie, zwei Generationen stark, mit Liebe und Verehrung umgeben. Wieviel mehr ein alternder Junggeselle, dessen ganzes Gemütsleben, wenn wir ihm ein solches zugestehen wollen, nach rückwärts gerichtet ist.

Glauben Sie mir, daß auch mir diese Erfahrung nicht erspart bleibt. Ich schreibe in Ulm, wo ich seit drei Wochen jeden Sonntag am Krankenlager meiner lieben Mutter zubringe, die vor acht Tagen stille einzuschlafen schien. Es geht wohl heute etwas besser, doch hängt alles bei einer neunundsiebzigjährigen Frau an einem Fädchen.

Und auch die Woche über bleibt mir wenig Zeit für Trostesworte. Wenn nicht Kant mit seinem Imperativ in die Welt gekommen wäre, oder vielmehr sein Imperativ schon lange vor ihm, so würde ich nicht erst im zwölften Jahre meiner Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft davonzulaufen trachten und hätte längst Zimmerleute und Prinzen, Pferde und Rinder, ausstellungslustigen Dünger und all die Herrlichkeiten, die er hervorbringt, ihrem Schicksal überlassen. Aber der Mensch muß sich quälen, seitdem der erste notleidende Agrarier – ein Großgrundbesitzer namens Adam – im Schweiß seines Angesichts die Disteln betrachtete, die sein Feld trug. Und es scheint ihm gutzutun, trotz allem Jammer.

Daran glaube ich. Auch weiß ich, wenn ich im Herbst die D. L. G. hinter mir und mir genügend Zeit gelassen habe, einen oder zwei Seufzer der Erlösung auszustoßen, daß ich mit aller Macht daran arbeiten werde, meinen Kopf in ein ähnliches Joch zu stecken, obgleich ich mir zum Glück heute noch nicht klar bin, in welches. Es gibt geborene Lastesel, denen ein wunder Rücken Lebensbedürfnis ist. Auch diese armen Tierchen haben ihr Teil zu tragen.

Von meinen hiesigen Arbeiten und Abenteuern ein andermal. Sie sind nicht weltbewegend, wenn sie auch mich in gehöriger Bewegung erhalten. Heute nur diesen Gruß und den herzlichen Wunsch, daß es Ihnen in der Leidenszeit, die Sie zu tragen haben, gegeben sein möge, sich die Kraft und den Mut zu erhalten, der aus einer andern Welt stammt und schon so oft die unsre siegreich überwand.

Ihr treu ergebener

Eyth.


130 Potsdamerstr., Berlin, 23. Sept. 96.

Verehrte Frau!

Zunächst und vor allem meine herzlichsten Glückwünsche zur Geburt Ihres Söhnchens.

Ihr Brief hat mich, ich gestehe es aufrichtig, lebhaft überrascht. Ich will nicht, wie es üblich ist, von der Ehre sprechen, die Sie mir zugedacht haben. Auch nicht davon, daß ich ein viel zu schlechter Christ bin, um bei dieser Veranlassung meinen Mann ohne Skrupel stellen zu können. Aber auf Ihre Unvorsichtigkeit darf ich hinweisen, die darin liegt, zu wünschen, daß Ihr unschuldiges, ahnungsloses Kind an mir ein Beispiel nehmen soll: wie man sein Leben »verraucht, verschläft und vergeigt«; denn ein halber Zigeuner bin ich doch. Und vollends der Wandertrieb, der sich selbst in meinen alternden Knochen noch nicht legen will!

Und dann, wer weiß, wo in einigen Jahren der kleine Junge seinen Paten suchen müßte? Ohne einen Atlas ginge es ja gar nicht. Und wieder nach ein paar Jahren läge er vielleicht für immer in Honolulu oder in Singapore, und nicht einmal eine Kokosnuß von seinem Grabe würde mein Patchen erreichen.

Einen nutzloseren, ja gefährlicheren Paten kann ich mir nicht denken. Vielleicht darf ich noch erwähnen, daß ich meinen eignen Geburtstag zu vergessen gewohnt bin.

Überlegen Sie sich die Sache doch noch einmal in der trüben Beleuchtung, die ich ihr geben mußte.

Wenn Sie dann zu keinem andern Entschluß kommen, will ich gern meinen Widerstand aufgeben.

Aber schon der Anfang wäre bezeichnend: Ich bin mitten im schweren Abbrechen und Einpacken. Am 1. Oktober bin ich auf dem Weg nach dem Süden. Voraussichtlich zunächst nach Ungarn, wo ich mich mit meinen Brüdern, den andern Zigeunern, wieder etwas befreunden möchte. Schon die erste Pflicht, die einem Paten obliegt, bei der Taufe wenigstens anwesend zu sein, könnte ich nur geistweise erfüllen.

Liegt darin nicht mehr als eine Warnung?

Montag, Dienstag oder Mittwoch nächster Woche komme ich jedenfalls noch auf ein Viertelstündchen nach dem Westend. Sie werden mir dann sagen, ob diese wohlgemeinten Zeilen einigen Eindruck gemacht haben.

Indessen mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth.


173 Michelsberg, Ulm, 13. Okt. 1896.

Liebes Roländchen!

Du weißt es zwar noch nicht, aber Deine liebe Mama hat bestimmt, daß ich Dein Pate werden soll. So bin ich's eben geworden, und wir müssen sehen, wie wir miteinander auskommen. Denn Deiner Mama muß man immer gehorchen, solange man lebt. Vergiß dies nicht.

Auch wird es schon gehen, wenn wir uns Mühe geben. Viele guten Lehren, wie andre Paten es tun, kann ich Dir zwar nicht geben, denn ich bin meist weit weg. Aber Deine Mama sagt, ich sei ein Beispiel für Dich. Sie meint natürlich: eine Warnung, und wird Dir das schon erklären, wenn Du einmal weit weg willst.

Doch ist dies nicht nötig. Wie Dein Namensvorfahre in alter Zeit, Klein-Roland, kannst Du Riesen und Drachen auch in der Nähe bekämpfen. Es wimmelt um Berlin herum. Deine liebe Mama meint zwar, mit dem Kämpfen sei's nicht weit her. Namentlich führe es leicht zu verwerflichen militärischen Neigungen, die für die Roländchen unsrer Tage nichts Gutes bedeuten. Wenn Du ihr aber manchmal ein Kleinod aus dem Schild eines Riesen bringst, den Du im Grunewald erschlagen hast, oder im Reichstag oder auf dem Dönhofplatz – dort sind freilich die Riesen rar –, wird sie vielleicht Nachsicht haben.

Und nun wünsche ich Dir von Herzen einen vergnügten Tauftag und ein langes, fröhliches Leben hinterher. Denke manchmal an mich, wenn Du einmal zu denken anfängst. Denke aber nicht zu viel, tue um so mehr. Es ist besser bei uns zulande, weil es weniger Leute tun, und macht nicht so dumm.

Du siehst, wie ich mir Mühe gebe, Dein Pate zu sein.

Herzlich grüßend

Dein Pate


Max E.

An Sebastian Hensel.

173 Michelsberg, Ulm, 20. Dez. 96.

Verehrter lieber Freund!

Die Bilder gehören nicht Ihnen, sondern Ihrer hochgeehrten Frau Gemahlin, der ich zum Abschluß meines Berliner Lebens diesen kleinen Weihnachtsgruß schicken möchte, welcher zugleich sozusagen den Anfang meines Ulmer Lebens illustriert. Denn ein glücklicher Zufall wollte es, daß die eine mit a bezeichnete Photographie vom Garten des Hauses aufgenommen ist, in dem ich den zweiten Stock bewohne. Es ist deshalb das Bild, das ich stündlich von meinem Schreibtisch aus vor Augen habe und dessen Licht- und Luftspiel mein täglicher Genuß ist. Leider sind die Tiroler und Schweizer Alpen am Horizont kläglich verwischt, die meine Weltumsegelungssehnsucht wach halten. Ein photographischer Apparat hat eben kein Herz und keinen Blick für Geistesfernen.

Den Brief aber will ich an Sie schreiben, als das Haupt des Stammes und den Häuptling des Westens, schon weil ich längst das Bedürfnis empfand, wieder einmal mit Ihnen zu plaudern. Aber man glaubt nicht, wieviel man zu tun hat, wenn man sich zur Ruhe setzt, und so sind mir die letzten drei Monate durch die Finger geschlüpft, als hätte ich die größte Ausstellung vorzubereiten. In Wahrheit hatte ich nichts zu tun, als mich selbst in möglichst vorteilhafter Weise auszustellen, und sodann, nach Eröffnung der Schau, die ohne große Feierlichkeit stattfand, mich zum Besuch derselben nach Kräften zu animieren. Auch dies ist vollständig gelungen. Ich bin abonniert, gehe täglich auf den Michelsberg und betrachte mich in meinen verschiedenen Abteilungen nicht ohne Interesse. Man muß solche Gleichnisse nicht zu weit treiben, sonst würde ich sagen, die Rinder sind wie gewöhnlich ganz besonders hervorragend vertreten. Man sagt mir, ich solle doch endlich anfangen, einen Katalog zu bearbeiten. Ich kann mich dazu vorläufig nicht aufraffen. Es ist alles zu verwirrt aufgestellt, viel Schund da, der sich schlecht ausnimmt, einiges sogar noch nicht einmal ausgepackt. Die alte Geschichte, wie auf allen Ausstellungen.

Trotzdem gefällt mir's persönlich recht gut. Wie Sie wissen, schlafe ich in Bayern und wohne in Württemberg. Das System ist neu, bewährt sich aber ganz vortrefflich. Jeder Mensch sollte in einem Königreich schlafen und träumen, in einem andern wachen und arbeiten, solang er noch leidlich zu Fuß ist. Jeden Morgen, vor Sonnenaufgang, wandere ich nach meinem Athos, jeden Abend steige ich wieder zu den Menschen herab, die ich infolge der Entfernung wieder aufs neue zu lieben gelernt habe, was ungefähr neun Stunden anhält. Auf dem Athos – es ist allerdings nur eine Imitation, aber besser als nichts – habe ich mich sehr nett und behaglich eingerichtet; allerdings mit Hintansetzung einiger ascetischer Grundsätze, auf deren theoretische Hochhaltung ich mich vorläufig noch beschränke. Ihren Athos, mit dem Eierfest am Fuß des heiligen Berges, habe ich schön einrahmen lassen und ihn vor meiner Hauptzimmertür aufgehängt. Ein Cave canem für unwürdige Eindringlinge.

Bis das alles fertig war, ging der Oktober und der halbe November vorüber. Dazwischen hinein ging ich, um Luft zu schöpfen, wie ich es meiner Mutter gegenüber nenne, einmal nach München und ein paarmal nach Stuttgart. Dort bestürmte man mich sehr, Vorträge zu halten. Die Vortragssucht ist bekanntlich gegenwärtig epidemisch. Nachdem ich dies ebenso stürmisch abgelehnt hatte, schreibe ich jetzt – seit vierzehn Tagen – den ersten für die Handelsgeographische Gesellschaft in Stuttgart. Der Mensch bleibt eben auch auf dem Athos ein elendes Rohr, vom Winde bewegt. Mein Vortrag aber heißt: »Ein Pharao im Jahrhundert des Dampfes«, und macht mir wahrscheinlich mehr Spaß als denen, die ihn seinerzeit zu hören bekommen.

Da habe ich, ganz unerwarteterweise, einen Gedanken! Ich schreibe Ihnen beiliegend vier Sonetten ab, die kürzlich zwischen meinem Schwager, Ephorus Kraut in Blaubeuren, und mir hin und her gingen. Er ist ein geborener Ulmer, was zum Verständnis vom ersten nützlich zu wissen ist. Diese Sonette bitte ich, nachdem Sie aus denselben des weiteren ersehen haben, wie es auf dem Athos aussieht, wenn er poetisch beleuchtet wird, an Frau du Bois-Reymond als Weihnachtsgruß von mir weiterzugeben. Ich glaube, ich bin ihr so wie so noch ein Athosliedchen schuldig. Doch nun genug von mir! – Wie geht es Ihnen – körperlich – geistig? Ich hoffe das beste. Die Abschiedsstimmung, in der wir uns trennten, hat ihre Zeit gehabt, und die Weihnachtszeit sollte Ihnen im Kreise von so vielen, die Sie lieben, Freundlicheres bringen.

Bitte, grüßen Sie mir alles und alle, ausdrücklich auch von meiner Mutter, mit deren Gesundheit der Winter bisher sehr glimpflich umgegangen ist. – Und besonders das Roländchen und seine Mama, und noch besonderer Ihre hochverehrte Frau Gemahlin, der ich von ganzem Herzen ein ruhiges, vergnügtes, gesundes Weihnachtsfest, einen glücklichen Beginn des neuen Jahres und eine entsprechende Fortsetzung wünsche.

Desgleichen Ihnen

von Ihrem treu ergebenen

Eyth.

1. Was ich sah

(von K. Kraut, nach einem Besuch auf meinem Athos.)

Ich durfte Dich im neuen Heim begrüßen;
Von hoher Warte ließ den Blick ich gleiten
In traute, liebe, wohlbekannte Weiten
Des heimischen Gefilds zu unsern Füßen.

Und von dem Klang, dem mächtigen und süßen,
Der von des Meisters (?!) Hand gerührten Saiten,
Ließ sinnend sich die Seele dahin leiten,
Wo Einst und Jetzt sich froh zusammenschließen.

An eines reichen Lebens Gänge mahnen
Die von Erinnerung durchwobenen Räume,
Sie weisen hin auf helle Siegesbahnen.

Sie sehn erfüllt der Jugend kühnste Träume.
Und doch durchzittert sie ein leises Ahnen:
Sie schauen neuen Wirkens stille Keime.

2. Was du nicht gesehen

(Erwiderung von M. E.)

Mein buntes Leben – fast wie ein Gedicht –
Hast Du's aus meinem Heim herausgelesen.
Doch winkte Dir der Schein und nicht das Wesen
Im trügerischen Herbstessonnenlicht.

Sahst Du den Rost nicht, der die Waffen bricht,
Und nicht die Kränze, wie sie still verwesen?
Auf meinem Athos bist Du wohl gewesen,
Doch meinen Athos, Lieber, sahst Du nicht.

Wie ist es doch verborgen Dir geblieben!
An allen Wänden steht es angeschrieben
– Schrieb ich's doch selbst und les' es ohne Klagen –

Die blauen Berge winken's aus der Ferne,
Und leise flüstern es bei Nacht die Sterne:
»Entsagen sollst Du, Freund, Du sollst entsagen!«

3. Was bleibt

(Von K. K.)

Nicht richten will ich zwischen den Gesichten,
Wo ich das helle Bild und Du daneben
Das dunkle Dir siehst vor der Seele schweben,
Und dennoch, hoff' ich, wird der Streit sich schlichten.

Früh lerntest Du den Wert der Dinge sichten
Und sahst den finstern Hintergrund im Leben
Und neben fröhlich toller Lust durchwehen
Der stillen Wehmut Züge auf Dein Dichten.

Auf Großes, Herrliches hast Du verzichtet
In weisem, mannhaft mutigem Entschlusse,
Und doch ein Gut – daß es noch lange bliebe! –

Ein Gut, zu dem so gern Dein Herz sich flüchtet,
Bleibt Dir in frohem, täglichem Genusse,
Das Gut der treuen, inn'gen Mutterliebe.

4. Schlußwort vom Athos

(Von M. Eyth.)

Versuche nicht, mir im Vorübergehn
Der Erde Trost auf meinen Berg zu bringen.
Siehst Du nur Höhlen, öde Felsenklingen
Auf der Entsagung lichten Sonnenhöhn?

Ist's nichts, im klaren Morgenlicht zu sehn,
Die Strahlen fühlend, die ins Herz Dir dringen?
Und wie mit geistbewegten Adlerschwingen
Der Freiheit Flügelschläge Dich umwehn.

Hier kannst Du laut von allem Schönen singen,
Von allem Wahren, Guten, das Dein eigen,
Hier wohnt kein Spötter, schleicht kein Geistesscherge.

Nur ein Gesetz will sich der Berg erzwingen:
Vom Schönsten, Wahrsten, Besten sollst Du schweigen;
Denn stumm und schweigend beten auch die Berge.


173 Michelsberg, Ulm, 7. Jan. 97.

Liebes Roländchen!

Schon vor einer Woche habe ich Dir schreiben wollen oder noch früher, um Dir zu gratulieren. Denn Du hast vor acht Tagen etwas erlebt, was niemand, den Du kennst, erlebt hat, und auch Du nur ein einzigesmal erleben konntest. Das sollte man füglich besonders feiern und Dir mit Pauken und Trompeten und feinen Kuchen dazu Glück wünschen. Alle andern Menschen sind nämlich am 1. Januar – so heißt man diesen merkwürdigen Tag – um ein Jahr älter geworden; Du nicht! In späteren Jahren würde Dich dies sehr freuen; jetzt ist es Dir noch gleichgültig, du bedauerst es am Ende gar. Denn bei Deiner Größe wünschen die Leutchen nichts sehnlicher, als so schnell als möglich größer zu werden und älter. Es geht ihnen auch später noch so: sie wissen nicht, was gut für sie ist. Mach Du einmal eine Ausnahme, wenn die Zeit des Wissens für Dich losgeht.

Dann habe ich Dir aber auch wieder nicht so geschwind gratulieren wollen, weil Du acht Tage zuvor schon etwas sehr Trauriges erleben mußtest, als Dein lieber Großvater starb. Das ist ein großes Unglück und macht Deinen Papa und Deine Mama gewiß sehr betrübt. Du mußt Dir Mühe geben, sie zu trösten, denn da Du noch nicht so traurig sein kannst, wird Dir dies leichter.

Ich habe auch einmal einen Großvater gehabt. Er war ein Professor, wie der Deine, aber lange nicht so berühmt. Der nahm mich, wie ich auch ein kleines Bübchen war, alle Morgen an der Hand und führte mich spazieren. Da gingen wir täglich und immer wieder in die Sägemühlen und die Schleifmühlen und in eine Papiermühle in Heilbronn. Denn obgleich mein Großvater viel lieber griechische und hebräische Bücher lesen mochte als Schleifmühlen ansehen, gefielen die mir doch viel besser, und ich, hoffte einmal ein Schleifmüller zu werden – Papiermüller schon weniger, wegen der Bücher. Etwas derart bin ich denn auch richtig geworden, und die Leute sagten, mein Großvater sei schuld daran, mit dem Spazierengehen, und schüttelten die Köpfe. Einige schütteln sie noch; andre haben dies aufgegeben. Ich aber bin meinem lieben Großvater noch heute dankbar, so oft ich an ihn denke.

Zum Glück hast Du noch einen zweiten Großvater, der Dir die herrlichsten Naturgeschichten schreibt. Du bist deshalb auch jetzt noch sehr glücklich. Aber allerdings, man kann nie genug haben der Gaben dieser Art.

Grüße ihn von mir und Deine lieben Eltern recht herzlich. Adje!

Dein Pate Eyth.


173 Michelsberg, Ulm, 23. März 97.

Verehrteste Frau Hensel!

Nun will ich aber auch keinen Augenblick vergehen lassen, Ihren lieben »Besuch« zu erwidern, und keinen mit der Versicherung meiner Reue und Zerknirschung vergeuden, weil zwei Monate vergangen sein sollen, in denen ich nichts von mir hören ließ. Es muß wohl wahr sein, weil Sie es so bestimmt versichern. Unglaublich bleibt es mir doch. Denn trotz des stillen Ulms schlüpft mir die Zeit in einer Weise durch die Finger, daß sie mich manchmal mit einem Gemische von Freude und Entsetzen erfüllt. Freude, daß alles so lustig weiterklappert, als ob die Mühle nicht von einem mächtigen Strom an ein kleines Bächlein versetzt worden wäre, Entsetzen, weil das Mehl nicht feiner werden will und nicht mehr herauskommt als früher auch, solange ich für andre schrotete.

In einem Punkte haben Sie mich nicht ganz erraten: wenn Sie vermuteten, daß mir der Übergang von einem Mittelpunkt des Allerweltsverkehrs in den stillen Schwabenwinkel je einige Herzbeklemmung verursacht habe. Ich fürchtete es kaum; doch war auch ich, vor dem Experiment, meiner nicht ganz sicher. Stille Winkel sind jedoch nicht halb so still, als man in dem einsamen Getöse einer Weltstadt vermutet. Und dann habe ich große Städte und was ich von ihnen erlebt habe, immer gehaßt: die unvermeidliche Oberflächlichkeit der tausend Beziehungen, die sie uns täglich nahelegen, die Unmöglichkeit, selbst den Menschen wirklich nahezutreten, von denen man ahnt, daß man sie gerne haben könnte, die Zerfaserung alles Denkens und Fühlens, die zur Gewohnheit werdende Negation, nach der man als einziges Hilfsmittel greift, um wenigstens ein Stück seiner selbst zu bewahren –: all das machte, daß ich nie heimisch in ihnen werden konnte. Dazu mag mithelfen, daß ich in einem Waldkloster aufgewachsen bin und man die Kinderempfindungen nie ganz los wird. Und überdies bin ich – ich glaube in nicht ganz gewöhnlichem Grade –, was die Engländer von Maschinen und Menschen selfcontained heißen. Meine Freunde schimpfen darüber, und mit Recht. Es ist die Basis des höchsten Egoismus. Aber ein behaglicher Fehler, der über vieles weghilft, was andre ärgert.

Und so geht es mir vorläufig und so lange ich hierbleibe, voraussichtlich gut genug. Ich genieße seit zehn Jahren wieder einmal einen Frühling, ohne vor Sorgen halb blind zu sein, spiele in freien halben Stunden mehr Klavier und mache bemerkenswerte Fortschritte, die auf meinem Athos zum Glück nur die Spatzen zu würdigen brauchen, zeichne und male an meinen tausend Reiseskizzen herum, die mir dagegen die alten Zeiten ohne ihre Mühen und kleinen Unbehaglichkeiten vormalen. Nebenbei lasse ich mir gegenwärtig ein selbsterfundenes Aquarellskizzenbuch machen, an dem ein Gummiwarenhändler, ein Klempner und ein Mechanikus mit Anstrengung aller Geisteskräfte arbeiten. Es wird voraussichtlich so wunderbar praktisch, daß es fast von selbst malen wird, wenn man es an einem passenden Aussichtspunkt liegen läßt. Dann wird natürlich, als pièce de résistance, jetzt ein wenig ernsthafter geschriftstellert. Der Vortrag, den ich kürzlich in Stuttgart hielt und der dort recht nette Aufnahme fand, hat mir mehr Arbeit und Vergnügen gemacht, als man für möglich halten sollte. Aber das gründliche Studium einer der wunderlichsten Perioden unsrer heutigen Geschichte, an die mich an allen Ecken und Enden kleine persönliche Anknüpfungspunkte binden, war ein Genuß, dem ich mich mit so rücksichtslosem Behagen hingab, daß das erste Konzept eine Dreistundenpredigt ergab. So hatte ich vierzehn Tage lang mit Kompressionsversuchen zu tun, bis sie auf anderthalb Stunden reduziert und fast aller Saft ausgepreßt war. Dabei machte ich die Entdeckung, daß gute Vorträge zum mindesten ebenso schwierig zu konstruieren sind als gute Gedichte, und daß sich beide gleich wenig lohnen, wenn einem die Sache selbst in ihrem Entstehen nicht den nötigen Spaß macht. – Seit ein paar Wochen habe ich etwas angefangen, das einmal – in zwei Jahren vielleicht – ein Buch werden könnte. Haben Sie seinerzeit meinen Berliner Vortrag: »Landwirtschaftlich-technische Abenteuer in drei Weltteilen« zufällig einmal angesehen? Ähnlich wie die zwei Abenteuer dort, habe ich im Sinn, fünfundzwanzig bis dreißig Skizzen zu schreiben, die, jede in sich abgeschlossen, einen Augenblick meines Wanderlebens schildern soll und alle zusammen etwa unter dem Titel »Bilder am Wege« oder ähnlich die Stelle von Memoiren vertreten könnten, die ich nie zu schreiben gedenke.

Daneben besuchen mich verunglückte Landwirte und Erfinder aller Art, Trost und Erbauung suchend, wie es auch auf dem wahren Athos, in etwas andrer Färbung, Sitte ist. Etwas ernster ist eine Sache, in die ich hineintreibe, ohne es zu wollen, obgleich ich mich schon früher damit beschäftigte: die Schiffbarmachung der Donau bis Ulm. Die Angelegenheit ist harmlos, denn wenn sie in hundert Jahren wirklich in Fluß gerät, dürfen wir uns Glück wünschen. Ich gehe deshalb im Mai auf ein paar Wochen nach Wien.

Meiner Mutter, nach der Sie so freundlich fragen, geht es augenblicklich recht erträglich. Unberufen! Vor vier Wochen hatte sie einen leichten Influenzaanfall, während dessen ich ernstlich besorgte, sie könnte einschlafen, um nicht mehr zu erwachen. Soweit ist ihr Zustand immer bedenklich, auch wenn sie momentan ganz wohl und munter erscheint: eine wirkliche, ernstliche Krankheit würde sie schwerlich mehr durchmachen können. Auch bleibt es ihr nicht erspart, die Abnahme ihrer geistigen Kräfte selbst beobachten zu müssen, die Carl Witt so rührend schildert. Sie meint, und ich kann es glauben: es gehöre zum schwersten, was der Mensch in einem langen Leben zu tragen lernen müsse.

Aber nun mehr als genug von mir! – Die Nachrichten, die Sie so gütig sind mir zu geben, sind ja im allgemeinen befriedigend. Ihr Enkelchen ist und bleibt ein kleines Wunder. Aber auch ich kann nur, mit Ihrem Arzte, sagen, daß mir Ihre ganze Zukunft darauf zu beruhen scheint, sie jetzt zurückzuhalten, soweit es irgend möglich ist, ohne das Kind unglücklich zu machen. Ihrem lieben Herrn Gemahl meine besten Grüße! Die Hälfte dieser überlangen Epistel gehöre ihm; dadurch wird sie nur halb so lang, und uns dreien ist geholfen.

Ihnen aber, verehrte Frau, die herzlichsten Wünsche für Ihr Wohlergehen in dem reichen Kreise der Ihrigen

von Ihrem

stets ergebenen

Eyth.


An Sebastian Hensel.

173 Michelsberg, Ulm, 12. Mai 97.

Lieber und verehrter Freund!

– – Man muß einen guten Mut haben, um die Nachtigall im Garten gegen die Krücke im Hause abzuwägen. Der Ihnen so manche schwere Prüfung auferlegt, erhalte Ihnen diesen Mut! Wie selten schenkt er uns ein fröhliches Lebensende; und wie hübsch wäre es, wenn es im allgemeinen so eingerichtet wäre. Aber er muß wohl wissen, was er will.

(Wie zum Beispiel bei dem Unglück in Paris, das auch kein Mensch erklären kann. Ist Frau du Bois-Reymond wieder glücklich zurück?)

Mir fährt es fort – normal zu gehen. Vor ein paar Tagen machte ich in herrlichem Frühlingswetter wieder einmal eine Fußtour über die Alb nach Urach, wobei ich fand, daß 36 Kilometer für einen genußreichen Spaziergang auch beim schönsten Frühlingswetter mir jetzt fast genügen. Vor 20 Jahren war mein Maß 42 bis 45, und vor abermals 20 war ich mit 50 kaum zufrieden. Wir können darin ein seltenes Beispiel wachsender Zufriedenheit erblicken, wenn wir, wie Sie, das Gute auch im Schlimmen zu finden wissen.

Habe ich Ihnen erzählt, daß ich in der letzten »Ulmer Schachtel« nach Donauwörth gefahren bin? Ein welthistorisches Ereignis ersten Ranges, aber eigentlich kein erfreuliches, wenn die Schachteln nicht bald in der Form von Kettenschleppschiffen wieder aufstehen. Und dazu ist wenig Aussicht, obgleich ich im Interesse dieser Auferstehung nächste Woche nach Passau und von dort nach Wien pilgern werde. Aber ich vergesse, daß Sie wohl kaum wissen können, was eine Ulmer Schachtel ist, obgleich im Mittelalter, als die Berliner noch Frösche waren, die Handelsflotte der alten Reichsstadt aus diesen Fahrzeugen bestand. Eigentlich hießen sie Zillen. Ein unehrerbietiger Abgeordneter aus Heilbronn erfand die Bezeichnung »Schachtel«, die landesüblich wurde, obgleich die Schifferzunft zu Ulm in einer Eingabe an die Regierung dringend bat, gegen dieses ehrenrührige Wort einzuschreiten. Tatsache.

Mein Pharaovortrag wird erst im nächsten Winter gedruckt. Der Handelsgeographische Verein zu Stuttgart überstürzt sich bei wichtigen Angelegenheiten nicht, und seine Veröffentlichungen erscheinen nur einmal alljährlich, was auch mir mehr als genug erscheint. So gibt es etwas für einen Ihrer Winterabende. –

Dagegen macht mein Buch – Sie wissen doch, daß jeder Deutsche, wenn er nicht weiß, was er mit sich anfangen soll, ein Buch schreibt – Fortschritte. Stückchen davon könnten wohl noch im Laufe des Jahres das Licht der Welt erblicken, wenn mich nicht, loreleyartig, die Donau allzusehr verschlingt.

Auch meiner Mutter geht es recht leidlich; nur macht ihr das auffallend rasch abnehmende Gedächtnis viel Kummer und auch mir einige Sorge. Fast ist es trauriger, einen regen Geist einschlummern zu sehen, als einen gesunden Körper zerfallen. Und doch ist ein Erwachen denkbarer als ein Auferstehen.

Brauchen diese Dinge überhaupt denkbar zu sein?

Nochmals herzliche, allseitige Wünsche für erträgliche, für bessere Zeiten!

Ihr

Eyth.


173 Michelsberg, Ulm, 12. Juni 97.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Gewiß werde ich Ihnen stets dankbar sein, wenn ich von Ihnen höre, wie es groß und klein in Westend und in der Kolonie geht, die Sie, im unwiderstehlichen Drang nach Westen, zu Potsdam zu gründen im Begriff sind. Ist das eine bleibende Einrichtung oder nur ein Sommeraufenthalt wie früher? Die Not, von der Sie schreiben, den Reichtum von Möbeln unterzubringen, läßt mich fast das erstere vermuten. Daß namentlich den Kleinen das verhältnismäßige Landleben behagt, finde ich sehr begreiflich. Diese kleinen Köpfe merken instinktiv, was der Menschheit zusagt. Es ist nichts mit den großen Städten! Wer kann, sollte an ihrer Zerbröckelung mitarbeiten; nicht bloß in der Theorie, das tun fast alle, sondern in der Praxis und in eigner Person, und das tun die wenigsten.

Die Nachrichten, die Sie mir geben, sind immerhin erfreulicher, als was ich vor einiger Zeit von Ihren lieben Eltern hörte. So geht es eben auf und ab, und daß es gegen den Schluß unsers Erdenlebens nicht aufwärts geht, ist eben eine Naturnotwendigkeit, der wir nichts entgegenzusetzen haben, als Ergebung. Zum Glück ist ergeben und erliegen zweierlei.

Auch bei meiner Mutter geht es ähnlich. Sie ist augenblicklich verhältnismäßig wohl, aber das langsame, unaufhaltsame Ersterben ihrer geistigen Kraft ist eine schmerzliche Erfahrung, die ihr und uns um sie her nicht erspart bleibt.

Mir selbst geht es nicht schlecht. Ich komme soeben von Passau und Wien, wo ich zwei Kongresse für Binnenschiffahrt mitmachte und schwatzen half. Das ist nun einmal der Modus dieser Art von »gemeinnütziger Tätigkeit«. Unendlich viel müßiges Gerede und nicht wenig Arbeit, dieses Wassergeplätscher in einer Stromstrecke ohne Fall in Bewegung zu erhalten. Aber so will es unsre demokratische Zeit. Die Menge muß und will dabei sein, ob sie etwas nutzt oder zweimal so viel schadet. Das letztere scheint ihr immer das Hauptvergnügen bei der Sache zu sein.

In Wien erlebt man stets etwas Komisches. Ich hatte dort, wie die übrigen Mitglieder des Kongresses, die Ehre, einen Empfangsabend bei Ministerpräsident Badeni zuzubringen und bildete bei dieser Gelegenheit auf zehn Minuten mit ihm und seinem Leib- und Todfeind, dem Oberbürgermeister Lueger, dem Führer der Wiener Antisemiten, eine sekttrinkende Gruppe, in welcher als vierter ein Herr den liebenswürdigen Ganymed spielte, der früher Itzeles hieß und heute noch so aussieht, obgleich er seinen Namen seit etlichen Jahren in »Zels« umgewandelt hat.

Sonst aber ist vieles traurig in der alten schönen Kaiserstadt; fast mehr noch als in der jüngeren, schöneren mit ihrem Tauschhandel.

Nächste Woche gehe ich unter dem Schutz des tiefsten Inkognitos nach Hamburg, um zu sehen, wie meine alten Freunde mit der Ausstellung zurechtkommen. Zu meiner großen Freude scheinen die Vorbereitungen recht glatt verlaufen zu sein. Von dort will ich direkt zurück und auf ein paar Wochen nach Sils-Maria im Engadin, wohin ich schon im vorigen Sommer auf dem Wege war. Sie sehen, die Einsiedler des Semi-Athos erlauben sich doch gelegentlich noch zu ihren früheren Mitmenschen herabzusteigen.

Und nun herzliche Grüße ringsum! Besonders aber an Sie von Ihrem

stets ergebenen

Eyth.


An Sebastian Hensel.

173 Michelsberg, Ulm, 15. Sept. 97.

Lieber und verehrter Freund!

Eine halbe Weltumseglung könnte ich gemacht haben, seitdem ich Sie aus dem Gesichte verlor. Es packt mich etwas wie Reue, so lange nicht nach Ihnen und den Ihrigen gefragt zu haben. Aber der Strom des Lebens zieht uns fort, fast unmerklich, und plötzlich sehen wir ein altes liebes Schiffchen, das noch vor kurzem neben uns segelte, am Horizont kaum noch mit den Toppsegeln hervorgucken. Wird es das alte blecherne Sprachrohr noch erreichen, das in unsern Tagen Mode war? Nicht anzunehmen! Aber man telegraphiert ja jetzt; ohne Draht; durchs Wasser. Kann der Mensch mehr verlangen? Also getrost –

Wie geht es Ihnen? Und wie den Ihrigen? Da ich so lange nichts hörte, nehme ich an: nicht allzu schlimm, wenn auch vielleicht nicht allzu gut. »Armut und Reichtum gib mir nicht, Herr!« Der Spruch ist so wahr, daß er die ganze soziale Frage lösen könnte, wenn wir wollten. Gilt er nicht vielleicht auch fürs »Gutgehen«?

Mir selbst ging es nicht schlecht. Drei Wochen in Sils-Maria, im Oberengadin, mit Bergstock und Skizzenbuch in einer der schönsten Gebirgsgegenden der Welt; das ist zum Aushalten. Dann lief ich, mit Beifügung eines Rucksackes zu der erwähnten Ausstattung, über die Maloja des Bergellen hinab nach Chiavenna, Como, Lugano, über den Gotthard bis Andermatt, von dort über die Oberalp das Vorderrheintal herunter nach Chur, wo ich zerlumpt und abgerissen Koffer und Kultur wieder fand. All das ereignete sich, weil wir beide, meine Mutter und ich, glaubten, daß sie für die Reise nach einer Gebirgssommerfrische nicht mehr kräftig genug sei. Als ich aber zurückkam, fühlte sie ernstliche Zweifel in dieser Beziehung. Ich machte mich also rasch wieder auf den Weg, um einen geeigneten Platz für uns zu finden, was nicht ganz leicht war. Die Bedingungen waren zahlreich und widersprechend. Doch entdeckte ich am dritten Tag zu Oberstaufen im Algäu annähernd was wir brauchten und war nun, mit meiner Mutter und ihrer »Stütze«, die letzten vier Wochen dort, beide stützend. Dies war nicht gerade sehr amüsant, aber um das Gefühl, zu etwas nütze zu sein, reicher als die vorangegangenen vier Wochen, und nebenbei fiel doch auch manches für mich persönlich ab. Nach dem Engadin ist der Algäu etwas flach. Der nächste anständige Berg, den ich bestieg, der Hochgrat, ist nur 1880 Meter. Aber wie es mit der Natur überall geht, sogar bei Berlin (Höhe 34 Meter), schließlich kommt der Augenblick, wo sie uns ihre Schönheiten aufschließt, wenn man sie nur lange und liebevoll genug ansieht. Und nun leben Sie wohl! Grüßen Sie mir die lieben Ihrigen herzlich und seien Sie es dreifach von Ihrem

getreuen

Eyth.


173 Michelsberg, Ulm, 12. Okt. 97.

Liebes Roländchen!

Du erinnerst Dich vielleicht noch: Kurz nachdem Du auf die Welt kamst, sagte ich Deiner lieben Mama, daß ich zu einem Paten ein ganz untauglicher Mann sei, daß ich meinen eignen Geburtstag schon zweimal vergessen habe, und andres mehr. Aber sie wollte es nicht glauben. Und jetzt haben wir's, Du und ich; und haben vielleicht unser ganzes Leben lang darunter zu leiden. Doch wir wollen es ihr nicht nachtragen. Davon darf einer Mama gegenüber keine Rede sein und dann – sie konnte mir eben nicht glauben, vermute ich. Mit dem Glauben ist es eine ganz eigne Sache!

Aber einen furchtbaren Schreck habe ich plötzlich bekommen, so ähnlich wie vor vielen Jahren der böse Herodes, wenn auch aus andern Gründen, lief in meiner Angst zu den Weisen ins Morgenland, da sie nicht zu mir kamen, und forschte mit Fleiß, »wann das Kindlein geboren ward«. Die Weisen waren in diesem Falle aber nur eine und zwar Deine andre Ulmer Patin. Doch es half nichts; denn es ging alles anders, als in der alten schönen Geschichte und ganz verkehrt. Sie war verreist und konnte mir nichts verkündigen. Nur eins wurde immer deutlicher: daß Dein erster Geburtstag vorübergegangen war, ohne daß ich es gemerkt hatte.

Nun brauchen wir aber zum Glück keine Tagewählerei zu treiben, und was ich Dir wünsche ist nicht an Stunden, noch Wochen, noch Jahre gebunden. Das ist ein Trost. Wie ich höre, wächst Du fleißig, ißt und trinkst wie es einem tapferen Klein-Roland vor allen Dingen gebührt und machst Deiner Mama große Freude. Sieh, das freut mich mehr als alles andre, was Du vorläufig tun könntest. Denn ich bin doch nicht ganz wie der alte Herodes und weit entfernt, die Kindlein umbringen zu wollen. Im Gegenteil: Ich wollte, sie blieben es immer.

Und sobald Du den kleinen Becher halten kannst, den ich Dir schicke – vielleicht geht es jetzt schon –, so laß ihn Dir mit süßer Milch füllen und trinke auf das Wohl Deiner Mama und der ganzen Welt, in der und für die Du ein wackeres Männlein werden mußt, zu unser aller Freude.

Später, wenn Du es geworden bist, füllen wir den Becher mit etwas anderm als mit Milch; aber bei dem Wohl auf Deine Mama und die ganze Welt soll es bleiben Dein Leben lang.

Herzliche Grüße von Deinem Paten

M. Eyth.


An Sebastian Hensel.

173 Michelsberg, Ulm, 14. Okt. 97.

Verehrter Freund!

Sie werden ungeduldig, wenn nicht gar besorgt geworden sein; und ohne Ihr Kärtchen hätte ich es nicht gewagt, Ihr liebes und wertvolles Manuskript so lange zu behalten. Doch nachdem Sie mir ganz ausdrücklich die Erlaubnis dazu gegeben hatten, ließ ich mir's wohl sein, las das Buch mit Behagen und nur, wenn ich innerlich und äußerlich Zeit hatte. Anders darf es ja auch kaum gelesen werden.

Daß es mich sehr interessiert und oft von Herzen gefreut hat, brauche ich Ihnen kaum zu sagen. Wenn man das Glück hatte, einen Teil der Persönlichkeiten, die es berührt, kennen gelernt zu haben, so versteht sich dies eigentlich von selbst. Es öffnete mir jetzt erst, nachdem ich den betreffenden Kreisen auch örtlich ferner stehe, manchen Einblick, der es mich doppelt bedauern läßt, meine Berliner Zeit so ganz der einseitigen Arbeit für ein bestimmtes Ziel geopfert zu haben. Doch das ist und war nicht zu ändern. Es lag in der Notwendigkeit der Verhältnisse und mehr noch in meiner Natur, die sich von jeher an sachliche Tätigkeit mit der eigensinnigen Hartnäckigkeit eines Maulesels anklammerte, der es für seine Lebensaufgabe erkannt hat, gewisse Säcke nach einer gewissen Mühle zu tragen.

In dieser radikalen Verschiedenheit der inneren Anlage liegt wohl auch der Grund, daß ich ein Leben wie das Ihres Freundes bei aller Bewunderung für seinen Geist, bei allem Respekt (gemischt mit manchem kleinen Vorbehalt) für das angeborene Grandseigneurtum, das in seinem Blute lag, mit der aufrichtigsten Hochachtung für jene passive Tapferkeit, mit der er seine körperlichen Leiden trug, nicht so schätzen, kaum so richtig zu beurteilen vermag, wie Sie, sein langjähriger Freund, es verlangen oder vielmehr selbstverständlich finden müssen. Aber es ist nun einmal so, und auch Ihre meisterliche Behandlung des Stoffs kann jene Lücke nicht ausfüllen, die manchmal ein äußerlich vielleicht viel bescheideneres Leben weniger fühlbar zeigt. Der Genuß, auch der verständigste Genuß, die Beschaulichkeit, auch die von den edelsten Gefühlen getragene, das Sammeln von allem Schönen und Guten, das uns Zufall und Glück und eine gütige Vorsehung in den Weg führt, all das ersetzt nicht jenes selbsttätige Schaffen in unsrer harten Arbeitswelt, das, wenn auch in den engsten Grenzen, in jedes Mannes Leben nach meinem Gefühl den Kern bilden muß, der es erzählenswert macht.

Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich lege hier, wie ich fürchte, den allerhöchsten Maßstab an das Inhaltliche der Biographie Ihres Freundes, und ich habe kein Recht, dies zu tun. Sein Leben umfaßte ungewöhnlich viel des Schönen, Interessanten, Wissenswerten, und die Art, wie Sie all das zusammenstellen und namentlich durch Seitenausblicke beleben und verschönern (wie die Schilderung des alten Berlin und andres) macht das Buch ebenso unterhaltend als lesenswert. Doch sicher tun Ihnen meine Bemerkungen nicht so weh, wie Herrn Robert die Kritik seiner eignen Gedichte schmerzt; ein Intermezzo, das bei einem Manne, der so viel Ernsteres mit philosophischer Heiterkeit zu tragen wußte, fast komisch wirkt.

Das bringt mich auf einen andern Punkt. Eine ernste Lücke finde ich darin, daß man in dem ganzen Buch den wahren philosophischen Grund dieses Lebens nicht zu erkennen vermag; und das wäre das interessanteste gewesen. Was half Robert sein nicht leichtes Schicksal tragen? War es ein klares, religiöses Gefühl? Schwerlich. War es eine bestimmte philosophische Überzeugung, und welche? Oder war es nur angeborenes Temperament? Hierüber läßt uns die Biographie in völliger Ungewißheit. Ich gebe zu, daß es eine sehr kitzliche Frage ist, die Sie vielleicht absichtlich umgangen haben. Aber jedem nachdenklichen Leser muß sie sich aufdrängen bei einem Leben, das äußerlich große Ereignisse nicht bietet. Hierin liegt der Wert Ihrer Biographie von Witt. Denn in den hübschen Reisebriefen und vollends in den Begegnungen mit Kaisern und Fürstlichkeiten und Herren und Damen von aristokratischen Namen und Titeln kommt man doch schließlich über die freundlichen Äußerlichkeiten nicht hinaus. Das bleibt Oberfläche und Schatten der Oberfläche.

Bin ich nicht ein entsetzlich anspruchsvoller Mensch? Kanzeln Sie mich ab und machen Sie mir ein paar gesunde Grobheiten. Ich bitte dringend darum. Soll ich Ihnen eine gute Gelegenheit und »Unterlagen« hierzu verschaffen, indem ich Ihnen auch ein Stückchen Manuskript zuschicke? Aber ich möchte Sie nicht quälen, und doch bewegt mich gegenwärtig eine Frage in zudringlicher und fast peinlicher Weise, die in etwas andrer Gestalt auch Ihrem Werke naheliegt. Bei dem Leben Robert-Tornows kann man sich kleiner Zweifel nicht entschlagen: bis zu welchem Grade wird sich das allgemeine Publikum, das keine der Persönlichkeiten der Biographie kennt, für das Buch interessieren; und bei mir handelt es sich darum: wie weit kann sich das Publikum für Dinge und das Leben in Dingen interessieren, die es persönlich nicht kennt. Natürlich liegt viel an der Behandlung; aber nicht alles, und in beiden Fällen ist es dem Verfasser ganz unmöglich, die Antwort aus seinem eignen Innern herauszupumpen. Ein rücksichtsloses, ehrliches Urteil eines völlig Unbefangenen wäre für mich augenblicklich ein wahrer Segen.

Ich nehme bei der Berührung dieser Frage an, was ich von Herzen hoffe, daß Sie gegenwärtig leidlich wohl sind und Lust dazu haben – »lustig sind«, wie mein Freund Thiel und die Rheinländer im allgemeinen zu sagen lieben –, mir ein paar Stunden zu opfern. Um mehr handelt es sich nicht.

Nun aber zum Schluß, und nochmals herzlichen Dank für die Freude, die Sie mir mit der Zusendung des Manuskripts gemacht haben.

Ihrer verehrten Frau Gemahlin und dem ganzen Hause, aber vor allem Ihnen, herzliche Grüße von Ihrem

stets ergebenen

Eyth,

Ps. Noch im letzten Augenblick nehme ich mir Zeit und Freiheit, das Geheimnis der kunstvollen Decke des Bandes zu bewundern. Sie ist sehr hübsch und sinnig, wenn ich sie recht deutete. Fast hätte sie mich zu einem kleinen Gedichtchen hingerissen. Aber es will sich in der Eile nicht recht reimen, und ich reise in einer Stunde nach Stuttgart ab. Vielleicht rüttelt die Eisenbahn die Verschen zusammen.

D. O.


An Sebastian Hensel.

173 Michelsberg, Ulm, 22. Okt. 97.

Lieber und verehrter Freund!

In der Tat habe ich in meinem letzten Brief vergessen, Ihnen auch im Namen meiner lieben Mutter für die Zusendung Ihrer Biographie Roberts aufs herzlichste zu danken. Ich habe ihr manches daraus mitgeteilt, das sie erfreut und erheitert hat. Doch wird es immer weniger leicht, ihr Interesse für Fernerliegendes anzuregen. Ihre dreiundachtzig Jahre machen sich mehr und mehr schmerzlich fühlbar. Es ist etwas Tieftragisches im Menschenleben, zu sehen, wie der Horizont von Fühlen, Denken und Wollen zusammenschrumpft. Nichts legt uns die Frage so peinlich nahe, ob er sich einmal wieder ausdehnen wird. Und doch eigentlich ohne vernünftigen Grund. Ist das Herbstlaub ein Beweis gegen den Frühling oder das Einschlafen gegen das Erwachen?

Mein Mitleid hat Ihr Freund Robert stets besessen. Es war ein furchtbares Schicksal, das ein Mann von seinem Ehrgeiz zu tragen hatte. Ihre Theorie von der Tragfähigkeit der Ironie ist sehr interessant, und etwas Wahres ist sicher daran. Aber sie gefällt mir doch nicht. Ironie ist kein tiefgehendes Motiv, wenn sie gut ist (so etwa wie ein angesäuerter Humor), und kein gutes, wenn sie tief geht. Eine große Tragfähigkeit in wirklichem Leid traue ich ihr nicht zu. –

Daß Sie die Lebensbeschreibung nur für die Ihrigen und in der Erinnerung an Ihren Freund geschrieben haben, ist groß und schön, aber schade. Vielleicht wird doch noch etwas mehr daraus. Sie enthält manches, was weitere Kreise weniger interessieren wird – welche Lebensbeschreibung tut das nicht –, aber doch auch außerordentlich viel, das jedermann freuen muß. Nicht jedermann kommt aus dem hastigen, immer nach Zwecken haschenden Leben nicht hinaus wie ich, selbst auf meinem Athos in Ulm. Andre lesen und beurteilen derartige Bücher ganz anders als ich. Ich hoffe, Sie lassen sich durch das eine oder andre meiner pseudokritischen Worte nicht beeinflussen, Ihren Weg zu gehen. Es würde mir sehr leid tun.

Und nun finden Sie nebenbei etliche Stücke verschriebenen Schreibpapiers, das noch sehr stückwerkartig aussieht, und es auch ist. Ich schreibe nämlich keineswegs der Ordnung nach, sondern absichtlich nur, wie ich lustig bin, und der Plan ist der:

Das Ganze soll einmal aus fünfundzwanzig Stücken bestehen, kleine und große. Die ich Ihnen schicke, gehören schon zu den größeren – etwa Mittelschlag. Jedes Stück ist ein fast selbständiges Ganzes für sich, ein Gedanke, ein kleines Erlebnis, eine Phantasie aus meinem Leben. Alles etwas erlogen und etwas wahr, innerlich so wahr, als ich zu machen imstande bin. Scheinbar nur Äußerliches und Oberflächliches, doch sollte man manchmal den Kern unter der Schale spüren. Das ist's, was ich möchte. Sie sehen, ehrgeizig ist der Plan nicht. Aber er macht mir vorläufig Spaß. Ich schreibe jetzt am sechsten Stück. Ob die fünfundzwanzig je fertig werden, weiß der Himmel; wenn zwölf druckfertig sind, rücke ich vielleicht heraus. Schaden können sie nichts.

Und wenn Sie gelegentlich einen roten Strich an den Rand machen wollen, wo Sie eine Sprachdummheit bemerken oder eine andre, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Wir werden uns schon verstehen.

Mit herzlichen Grüßen an das ganze Haus

Ihr stets ergebener

Eyth.

Ps. Wie geht es Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin gesundheitlich? Ich habe meine übliche November-Influenza und will nächste Woche in München sehen, ob mir das neue Hofbräuhaus hilft. Das alte war sehr gut gegen Erkältungen, Schnupfen und andre Unpäßlichkeiten leichter Art. Aber die Zeiten ändern sich.

D. O.


173 Michelsberg, Ulm, 2. Dez. 97.

Hochverehrte Frau Hensel!

Ihr letzter so überaus freundlicher und trotzdem noch immer unbeantworteter Brief würde mir größere Gewissensnot machen – er tat es schon seit einiger Zeit nicht übel –, wenn ich nicht mittlerweile mit Herrn Hensel gewichtige Schreiben gewechselt hätte. Sie gehören, soweit sie von mir stammen, auch Ihnen, und dies mildert mein Schuldgefühl einigermaßen. Denn ich hoffe und bitte, daß Sie eine derartige Zueignung, die für mich allerdings sehr bequem ist, wie Sie leider ohne Zweifel bemerken werden, annähernd gelten lassen. Die Billigkeit verlangt dann allerdings, daß auch die vorliegenden Zeilen zu einem kleinen Teil Ihrem Herrn Gemahl gewidmet sind.

Ja, wenn der Tag achtundvierzig Stunden hätte und der Mensch vier Hände und zwei Köpfe und zwei Herzen; dann wäre ja alles gut! Sie werden darauf antworten: Geschieht Ihnen ganz recht! Warum haben Sie nicht geheiratet! Und ich fürchte, vom arithmetischen Standpunkte, den ich als alter Ingenieur in erster Linie respektieren muß, kann ich nichts darauf erwidern, und nur den Kopf hängen.

Jedenfalls sehen Sie aus diesem Stoßseufzer, daß es mir an Unterhaltung nicht fehlt, traurige und lustige.

– – Dazwischen war ich wieder in Stuttgart, um etwas Stadtluft zu schöpfen, wenn ich es auch nicht gerade nötig hatte. Doch ist Ulm äußerlich so still und ländlich, daß es gut ist, manchmal daran erinnert zu werden, wie es draußen in der Welt aussieht.

Ich schreibe ziemlich fleißig drauf los, wenn auch ohne Überstürzung und entschlossen, mich nicht drängen zu lassen. Die kritischen Bemerkungen Ihres Herrn Gemahls waren mir sehr wertvoll. Er hat mich fast überzeugt, daß mein Freund Beinhaus seinen Schnurrbart zu oft gen Himmel dreht. Doch der Mann hat es wirklich so gemacht; eigentlich kann er nichts dafür. Doch will ich mir's zweimal überlegen, ehe ich einen solchen Menschen wieder unter meine Feder kommen lasse. – Leider konnte ich die zwei nächsten Abschnitte, von denen ich schrieb, vorläufig nicht schicken, da sie augenblicklich auf Redaktionen herumirren. Weitere Sachen sind noch nicht abgeschrieben, bei welcher Veranlassung ich mich mehr und mehr vom Nutzen, aber auch von der Zeitverschwendung des Wiederkauens überzeuge.

Eine entschiedene Unannehmlichkeit hat die Form, in die ich meine Skizzen gieße – (Fußnote: Kann man auch Skizzen gießen?) Der Leser vergleicht in liebloser Weise stets die eine mit der andern, was ihm bei den verschiedenen Kapiteln einer fortlaufenden Erzählung zu tun kaum einfällt. Und da ist es unvermeidlich, daß die eine den Eindruck gründlicheren Mißlingens macht als die andre, worüber man sich billig ärgert. Ich glaube zum Beispiel die, an der ich gegenwärtig schreibe, wird Ihnen kaum viel Freude machen. Sie ist düster, wie geronnenes Blut. Erst heute habe ich einen Pascha abgeschlachtet. Aber das Leben ist wirklich nicht überall so heiter wie es erscheint, wenn wir es in Westend durchplaudern. Und es ist doch wohl nötig, dies anzudeuten, wenn das werdende Büchlein sein Gleichgewicht bewahren soll.

Nun aber habe ich keinen Platz mehr für die Grüße. Werden Sie mir verzeihen?

Ihr stets ergebener

Eyth.


An Sebastian Hensel

173 Michelsberg, Ulm, 26. Dez. 97.

Verehrter lieber Freund!

Mit nichts hätten Sie mir eine größere Freude machen können, als mit der vortrefflichen Photographie, die Sie mir unter den herrlichen Bäumen Ihres Gartens zeigt. Es ist ein so charakteristisches Bild, daß es mir stets Westend, Sie und die Ihrigen, wenn sie auch nicht darauf zu sehen sind, in Erinnerung rufen wird. Allerdings sehen Sie drein wie ein Salomo zur Zeit, als er die große Wahrheit entdeckte, daß alles eitel sei, und dies ist nicht die Grundstimmung Ihres Lebens gewesen. Aber wahr oder unwahr, sie hat in den letzten Jahren, seit ich Sie kenne, manchmal ihren Schatten auch über Ihren Weg geworfen. Doch es sind nicht die schlechtesten Augenblicke, in denen wir das Leben vom Standpunkt alter salomonischer Weisheit betrachten, vorausgesetzt, daß wir nicht dabei stehen bleiben.

Leider komme ich diesmal mit völlig leeren Händen. Ich hätte Ihnen und namentlich Ihrer verehrten Frau Gemahlin so gern ein kleines Lebens- und Erinnerungszeichen geschickt. Aber das ist die einzige Schattenseite meines nicht genug zu preisenden Athos: er bietet fast nichts für ferne Freunde. Ich habe mir den Kopf wirklich sehr zerbrochen. Was nützen Sie die Scherben? Es kam nichts dabei heraus. Im Laufe des nächsten Jahres geht es mir vielleicht besser, denn wenn alles gut geht, will ich ein wenig wandern, und dabei findet sich manchmal etwas am Wege für liebe Freunde. Geben Sie mir Zeit!

Im Sommer will ich nach England. Es ist Zeit, daß ich mich nach meinen dortigen Bekannten noch einmal umsehe, ehe wir uns in den Haaren liegen. Ich bin ein guter Deutscher, und es freut mich von Herzen, wenn wir die Chinesen beim Zopf erwischen und uns dabei ein Stück desselben in den Händen bleibt. Aber kann das nicht geschehen ohne das müßige, häßliche Geschimpfe mit allen andern, die ja auch nichts andres wollen als ein Stückchen Zopf? Es ist eine widerwärtige Welt; wie weit von dem »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« vor 1900 Jahren!

Mit großem Bedauern sehe ich aus Ihren Zeilen, daß Sie Ihr Wohlbefinden wieder einmal nicht sehr loben können und daß auch Frau Hensel leidend war und mehr oder weniger noch ist. Wie schön könnte alles sein, wenn die menschliche Maschine etwas weniger kompliziert wäre. Einfachheit, o Schöpfer, Einfachheit! Etwas Ähnliches sagte mir der Chef des Zeichenbureaus von Kuhn in Berg, als ich anfing, meine erste Maschine zu konstruieren. Es war allerdings eine etwas einfachere Aufgabe als die, die am sechsten Schöpfungstage vorlag.

Meiner Mutter geht es gegenwärtig verhältnismäßig recht gut. Sie jammert zwar trotzdem etwas nach ihrer Art. Es wird ihr scheinbar schwerer als andern, die natürliche Last des Alters zu tragen. Doch wer will dieses Gewicht beurteilen, ehe er's am eignen Leibe erfahren hat?

Wir lesen derzeit abends Ihr Mendelssohn-Buch. Es bereitet ihr, wie jedermann, einen ungetrübten Genuß. Natürlich habe ich selbst es längst gelesen. Aber es zum zweitenmal vorgelesen zu bekommen und dazu ägyptische oder peruanische Landschäftchen herauszuputzen ist ein sybaritisches Vergnügen. Ich habe jetzt einen Band meiner Skizzen nahezu durchgearbeitet und brauchte fünfviertel Jahre dazu, so daß ich noch dreizehneinhalb Jahre dieser kontemplativen Freude vor mir sehe. Ein überaus beruhigendes Gefühl.

In ein paar Wochen schicke ich Ihnen wieder einen Abschnitt. Es ging in der letzten Zeit nicht langsamer, aber konfuser zu als anfänglich, so daß nichts fertig werden wollte. Sie werden sich diesmal wahrscheinlich ärgern: warum, werde ich Ihnen in meinem nächsten Brief langsam und vorsichtig mitteilen.

Nun aber meine herzlichen Glückwünsche zum kommenden Neuen Jahr. Werden Sie vor allem so geschwind als möglich gesund, um es würdig beginnen zu können. Das gilt namentlich auch Ihrer verehrten Frau Gemahlin. Möge ein gütiges Geschick uns alle zur gegenseitigen Befriedigung weiter leben lassen, und uns gelegentlich durch die guten Nachrichten, die wir einander geben können, eine Freude machen. Ganz besonders gilt dies letztere mir und Ihren Briefen aus Westend.

Ihr

treu ergebener

Eyth.


173 Michelsberg, Ulm, 11. Febr. 98.

Geehrteste Frau du Bois-Reymond!

Fast buchstäblich hatte ich die Feder eingetaucht, um Ihnen auf Ihren eingehenden, freundlichen Brief vom 2. Januar zu antworten, als ich das Kärtchen empfing, in dem Sie mir von dem schweren Schlage Mitteilung machten, der Sie und die Ihrigen betroffen hat. Da gab es andres, Ernsteres zu schreiben; das mich aber doch nicht ganz der Pflicht entbindet, jenen Brief aus einer Zeit, von der Sie sich durch schwere Tage vielleicht weit getrennt fühlen, wenigstens kurz zu beantworten.

Nein, Sie haben keinen Mißgriff getan, indem Sie mir das Kirchbachsche Buch zusandten. Eine Freundlichkeit ist nie ein Mißgriff. Wenn der Empfänger sie nicht versteht, ist es seine Schuld und sein Unglück.

Gelesen habe ich das Buch allerdings immer noch nicht; nur in dem Buch. Vorläufig werde ich wohl nicht weiter kommen. Sie müssen mir das verzeihen. Es geht mir so mit jedem Buch, das ich geschenkt erhalte. Jeder Augenblick ist so voll von seinem eignen Leben, daß Anregungen dieser Art, die unvermittelt von außen an uns herantreten, antichambrieren müssen, so leid es einem tut. Aber ihre Zeit kommt, über kurz oder lang, und mittlerweile steht das hübsche Buch da als freundliche, etwas vorwurfsvolle Erinnerung an den Geber. Das ist schon etwas und oft die Hauptsache.

Wann und ob für mich die Zeit zu Kirchbachs Buch kommen wird, weiß ich allerdings nicht. Was ich in demselben gelesen habe, hat mich fast überzeugt, daß es mir wenig oder nichts Neues zu sagen hat und daß die allgemein menschliche Toleranz der einzige Berührungspunkt zu sein scheint, der zwischen mir und dem Buche möglich ist.

Was er sagt, wurde schon im dritten Jahrhundert von den Arianern in allen Tonarten gesagt. In neuerer Zeit ist es das vollständig ausgearbeitete Evangelium der englischen Unitarier, die seit etlichen sechzig bis siebzig Jahren eine anständige, aber kaum sich weiter entwickelnde Gemeinde bilden. Ich kam in Leeds mit diesen Leuten mannigfach in freundliche Berührung. Sie besitzen eine gewisse hölzerne Respektabilität, eine ausgesprochene Geschicklichkeit, vermöglich zu werden und sind im allgemeinen wackere Durchschnittsmenschen, die viel Gutes tun und zu Zeiten lügen und stehlen wie die andern auch. Aber die Bewegung hat längst aufgehört, Fortschritte zu machen, und ihre Dogmen – genau Kirchbachs neuentdecktes Christentum – sind wie alle Dogmen Glaubenssache, nur zumeist mit negativen Vorzeichen.

Sehr weit kommt man aber nicht mit Shakespeares »Hamlet«, wenn die Rolle des Hamlet ausgeschieden werden muß, und mit einem Christentum, das ein mythischer Egidy verkündigt haben soll.

Es wird von der andern Seite wohl gesagt, man sei auch nicht weit gekommen mit dem Christentum samt Christus. Ich glaube, die weltgeschichtliche und die individuelle Wirkung des Christentums wird von Leuten vom Schlage Kirchbachs ganz gewaltig unterschätzt und von dem Worte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«, hat er sichtlich keine Ahnung.

Doch ich will weder Sie noch mich mit Auseinandersetzungen quälen, deren wahrer Kern stets die innere Überzeugung ist, die sich auf beiden Seiten nie beweisen, sondern nur empfinden läßt. – –

Zu meinem freudigen Erstaunen fand ich in Westermann ganz zufällig Ihre »Elisabeth« und habe sie mit großem Interesse nicht nur selbst gelesen, sondern auch zu Hause meiner Mutter und mir nochmals vorlesen lassen. Die Novelle ist sehr nett und fließend geschrieben, hat eine gesunde, natürliche Farbe und manche dem Leben trefflich abgelauschte Züge. Sie hat uns wirkliches Vergnügen gemacht.

Nachher erhielt ich sie nochmals von Frau Stadtpfarrer, jetzt Frau Dekan Eytel. Gestern feierten wir im Pfarrkranz, den ich als alter, wenn auch etwas entarteter Sprößling aus theologischem Stamme hier regelmäßig besuche, Eytels Abschied von Ulm. Er ist sehr jung Dekan geworden, allerdings in einem Orte (Blaufelden), dem Frau Dekan Eytel als Berlinerin nicht ohne berechtigte Besorgnis entgegensteht. Es ist eine Art Athos, ohne das Meer und ohne den Berg, und – fast hätte ich's vergessen – ohne die erhabenen Prinzipien, die ihn mir heilig machen. – Ihr Besuch von Ulm, auf den Sie mich hoffen ließen und der mich ungeheuer gefreut hätte, wird infolge dieses Ereignisses wohl einer der frommen Wünsche bleiben, die das Menschenleben erheitern.

Dagegen komme ich nächste Woche nach Berlin und werde sicher nach Ihnen und Roländchen und Ihrer lieben Frau Mutter sehen.

Und nun mit herzlichen Grüßen und dem Wunsche, daß die Zeit beginnt, ihre mildernde Hand auf die schweren Tage zu legen, die Sie kürzlich durchlebten,

Ihr stets ergebener

Eyth.


173 Michelsberg, Ulm, 27. April 98.

Verehrteste Frau Hensel!

– – Mir selbst fährt es fort, recht gut zu gehen. Äußerlich lebe ich sehr ruhig auf meinem Athos. Ich pflanze meinen literarischen Kohl, wie ich mir's seit langer Zeit gewünscht hatte, und er geht auf. Dabei habe ich mehr als genug zu tun, um mich in dieser Zwischenzeit munter und gesund zu erhalten. Meine Ulmer Tage fasse ich noch immer als eine Zwischenzeit auf, deren Dauer vom Leben meiner lieben Mutter abhängt. Sie kann kurz oder lang sein, und je länger je lieber. Wenn sie aber zu Ende kommen sollte, so hält mich natürlich Ulm nicht gefangen. Der alte Wandertrieb der Schwaben regt sich selbst in diesen Frühlingstagen gewaltig.

Im Lauf der letzten Monate hatte ich die Ehre, von drei Wahlkreisen im Reich die Aufforderung ablehnen zu dürfen, für den nächsten Reichstag zu kandidieren. Es macht mir keine Sorge mehr, wenn noch weitere kommen sollten, da ich nunmehr mein Danksprüchlein fließend, ohne Anstoß, mit munterer Freundlichkeit aufzusagen imstande bin. Politik ist nie meine Liebhaberei gewesen, und den Schluß meines Lebens will ich mir nicht mit dieser notwendigen, aber trostlosen Sisyphusarbeit verbittern. Gut, daß es Menschen gibt, die anders denken. Und nun nochmals die besten Wünsche für Ihr Wohlergehen von Ihrem

stets ergebenen

Eyth.


173 Michelsberg, Ulm, 17. Juni 98.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

– –Frau von Helmholtz hatte meiner Behauptung, daß Eyth ein Schwabe sei, auf das Entschiedenste widersprochen, da, wie sie sagte, Eyth kein schwäbischer Name sei. Höchstens könne es sich um eine vor kurzem eingewanderte Familie handeln. L. du B.-R. Schwaben muß doch größer sein, als man glaubt. Ihre Exzellenz und meine mir ebenfalls unbekannte verehrte Landsmännin hat unrecht, mir mein Heimatsrecht absprechen zu wollen, wenn vier Generationen – weiter bringe ich's auf väterlicher Seite nicht – hinreichen, einen Mann zum Schwaben zu machen. Mein Ururgroßvater war ehrsamer Küfermeister und Stadtrat zu Tübingen am Neckar; desgleichen nach alter Väter Sitte mein Urgroßvater. Mein Großvater, in Tübingen geboren und aufgewachsen, war sechzig Jahre lang Professor zu Heilbronn am Neckar, wo mein Vater das Licht der Welt erblickte. Ich bin zu Kirchheim an der Teck, in der linken Herzkammer Schwabens geboren. Damit wäre wohl diese Frage hinlänglich beleuchtet. – Nach dunkeln Familiensagen endlich stammt die Familie aus dem Salzburgischen und soll mit den Salzburger Protestantenflüchtlingen nach der Reformation in Württemberg eingewandert sein. Noch dunklere Sagen behaupten, daß der Salzburger Stamm ursprünglich aus Schweden gekommen sei. Ob der Hindukusch schließlich unsre Heimat war, will ich dahingestellt sein lassen. – Meine ausgesprochene Sehnsucht nach den Gangesquellen, die mich von Kindheit an verfolgt, läßt darauf schließen. – –

Nebenbei bemerkt: es wurden mir nicht weniger als drei Reichstagsmandate angetragen, die ich jedoch sämtlich mit höflichstem Danke ablehnte. Nicht ganz ohne Gewissensskrupel. Aber man hat wahrhaftig nicht die Verpflichtung, jede Gelegenheit, sich unglücklich zu machen, zu ergreifen.

Vorige Woche kam der Abdruck der »Skizze« oder wie ich das Ding heißen soll – »Blut und Eisen« in »Über Land und Meer« zu Ende. Ich hatte sie seinerzeit Ihrem lieben Vater zur Kritik übersandt; Sie, wenn ich recht unterrichtet bin, haben sie nicht gesehen, und so erhalten Sie sie diesmal, aus Rache, weil Sie mir Ihre Novelle in Westermann nicht geschickt haben. Das Buch, in dem »Blut und Eisen« einen Abschnitt bildet, ist jetzt fertig. Ich werde mich in den nächsten Wochen entschließen müssen, wo es erscheinen soll. – Im kommenden halben Jahr werde ich mich wieder mit sehr viel trockeneren Dingen befassen, denn auch Flüsse und Kanäle können trocken sein. Aber es ist entschieden gesund, in dieser Weise das geistige Milieu zu wechseln, in dem man herumplätschert.

Über die Erziehung Roländchens ein andermal. Das ist ein zu schwieriges Kapitel für den Schluß eines Briefes. Vorläufig herzliche Grüße an groß und klein von Ihrem

stets ergebenen

Eyth.


173 Michelsberg, Ulm, 30. Sept. 98.

Verehrteste Frau!

Jetzt erst und daran, daß ich nicht einmal weiß, wo Sie ein Brief finden wird, ob Sie noch im alten Hause wohnen oder schon im neuen, ob das neue in Potsdam liegt oder in Glienicke oder sonst wo, merke ich, wie lange ich gezögert habe, Ihnen zu schreiben und wie die Zeit fliegt in Ulm wie in Berlin. Ihre letzten freundlichen Zeilen sind vom 28. Juni. Nach alter gemütlicher Zeitrechnung ist das noch nicht lange her. Aber was kann in drei Monaten in unsern Tagen nicht alles geschehen sein. Drum will ich flugs den abgerissenen Faden wieder anbinden, wenn ich auch nicht weiß, wo, und das alte getreue Westend dazu benutzen muß, um ihn, wie einen fliegenden Spätsommerfaden dranzuhängen.

Ich bin auf meinem Athos nicht klösterlich müßig gewesen, seitdem ich hier oben sitze, und dies freut mich, wenn Ihnen mein Geschichtchen in »Über Land und Meer« gefallen hat, wie Sie mich glauben zu machen suchen. Denn nächste Woche hoffe ich mit den letzten Korrekturbogen von zwei Bändchen ähnlicher Sachen fertig zu werden, und zu oder vor Weihnachten werde ich sie Ihnen zu Füßen legen. Sie sind nicht für Frauen geschrieben; man spürt vielleicht die Luft des Athos. Deshalb sollten Sie mir doppelt ehrlich sagen, was Sie davon denken, wenn Sie dazu kommen sollten, sie zu lesen.

Im übrigen versinke ich in der Donau und ihren Nebenflüssen. Es ist keine kleine Aufgabe, um die es sich hier handelt, wenn man sich ihrer ernstlich annehmen wollte, und ein Haufen Leute behaupten, es sei meine Aufgabe. Aber ich kann das Gefühl nicht los werden, daß ich zu alt hierfür bin und kann mich nicht entschließen, wieder jung zu werden. – Doch das sind Dinge, die Sie kaum interessieren können.

Dagegen interessiert mich die Besorgnis, mit der Sie Ihren Kleinen der Schule entgegenwachsen sehen. Ich glaube, Sie sollten sich keine Sorgen machen und sie getrost gehen lassen. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei – mir wenigstens ist das oft genug gesagt worden – auch nicht die jungen Menschlein. Und ein gewisses Alleinsein ist der Unterricht zu Hause, der an sich viel besser sein mag als die Schablonenwirtschaft der öffentlichen Schulen. Aber der Charakter eines Jungen muß und wird sich an andern Jungen bilden, sicherlich ohne Gefahr, wenn der erste Grund zu Hause gelegt ist. Das kann die beste Mutter nicht und vollends kein Hauslehrer bieten. Ich selber wurde bis fast zu meinem sechzehnten Jahre zu Hause erzogen und gelehrt. Ich glaube nicht, daß es gut war. Es hat mir jedenfalls in den darauffolgenden Jahren manche unnötig bittere Stunde nicht erspart.

Nächsten Monat – nein diesen – voraussichtlich vom 9. bis 13. – komme ich nach Berlin. Wenn es mir irgend möglich ist, Sie aufzusuchen, werde ich versuchen, es zu tun. Aber die Aussichten sind trübe. Natürlich sehe ich den üblichen zahllosen Sitzungen entgegen, und dann ist man bei solch seltenen Besuchen des alten Wirkungskreises der fast willenlose Spielball alter guter Freunde, die sich nicht scheuen, physische Gewalt anzuwenden, wenn man ihnen zu entwischen versucht. Komme ich nicht, so dürfen Sie mir wirklich glauben, daß ich nicht konnte.

Was macht Roländchen? Seiner Photographie nach muß er ein prächtiges Kerlchen sein. Sein Geburtstag muß in der Nähe sein, und ich schlechter Mensch und Christ weiß es nicht einmal genau! Wollen Sie mir nicht zu Hilfe kommen?

Mit herzlichen Grüßen an das ganze Haus

Ihr stets ergebener

Eyth.


An Ilse Roemer.Ilse Roemer, Tochter des verstorbenen Bildhauers Bernhard Roemer und seiner ebenfalls verstorbenen Frau Fanni, geborene Hensel. Sie lebte bei ihren Großeltern Hensel und hatte ein sehr früh entwickeltes bildhauerisches Talent, für das sich Eyth lebhaft interessierte.

Ulm, 25. Dezember 1898.

Meine liebe Ilse!

Es ist mir nicht möglich, Dir so nette Sachen zu machen, wie Du sie fertig bringst. Dazu sind meine Finger viel zu dick. Deshalb mußte ich meine Zuflucht zu den Kunstwerkchen nehmen, die andre Leute fabrizieren, um Dir zu beweisen, wie sehr mich die Sendung Deiner lieben Großmutter gefreut hat. Es ist alles wohl angekommen, der Frosch und die Wassernixe oder die Prinzessin. Wenn es eine Prinzessin ist, so muß ich mich sehr entschuldigen. Man kann ihren vornehmen Stand nämlich nicht gleich erkennen, weil sie nur ein Krönchen an hat.

Der Frosch befindet sich ganz vortrefflich. Er hat sich schnell an das Wasser und die Luft in Ulm gewöhnt. Der Nixe ist es ein wenig zu kalt. Es ist nämlich kälter hier als in Berlin. Das siehst Du schon dem Rotkäppchen an und dem Wolf, der aus der hiesigen Gegend stammt. Später machst Du vielleicht auch einmal ein Rotkäppchen und einen Berliner Wolf oder einen Bären, was sich für Berlin besser schickt. Denn alles ist bei Euch ein wenig größer als bei uns – ich weiß das recht wohl. Außer unser Münster, das mußt Du Dir einmal ansehen.

Und nun danke ich Dir zum Schluß noch recht herzlich. Grüße Deine liebe Großmutter vielmal von mir, und Dein Schwesterlein, und Roländchen und Deine Tante, und sage Ihnen, ich lasse ihnen allen ein glückliches neues Jahr wünschen und daß sie recht viele Freude an Dir erleben mögen. Dich aber grüßt ganz besonders

Dein Freund

Max Eyth.


Ulm, 20. April 1900.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Wenn ich recht unterrichtet bin, reicht es gerade noch vor Toresschluß, Ihnen einen Brief nach Italien zu schicken, da Sie bis zum 26. April in Rom sein werden. Es geht Ihnen ja zuweilen nicht besser, wenn ich Ihren Selbstanklagen Glauben schenken darf. Seit Wochen oder, richtiger gesagt, seit Monaten hatte ich die ehrliche Absicht, Ihnen einen langen, vernünftigen Brief alten Stils zu schreiben. Aber die Zeit zerschmilzt uns unter den Fingern und der Brief ist noch heute ungeschrieben. Wir wollen uns auch in Zukunft beiderseits unsern Gewissensbissen überantworten. Eine schrecklichere Strafe soll es ja kaum geben. Hoffentlich schmückt sich der Mai Ihnen zulieb in den Farben, die wir ihm so beharrlich andichten.

Mir ist es verhältnismäßig sehr gut gegangen, wozu beigetragen haben mag, daß ich alle Hände voll zu tun hatte. Seit ein paar Monaten stecke ich wieder in einem neuen Buch, das mir viel Spaß macht, auch Spaß ernsterer Art, Sie aber wahrscheinlich zu sehr viel schärferer Kritik anregen wird, als mein letztes. Doch wird es noch eine gute Weile dauern, ehe ich mich Ihrem Urteil unterwerfen kann.

Ich gebe mir nämlich alle erdenkliche Mühe, nicht zu eilen und finde auf den Gebieten von Land- und Wasserwirtschaft Entschuldigungen aller Art, die mich in diesem Streben unterstützen. – Vielleicht kommt auf diese Weise etwas Besseres heraus. Gewiß ist, daß es im allgemeinen Bücherstrudel um so sicherer untergeht.

Wenn meine Mutter so wohl bleibt als zur Zeit, so gehe ich im Juni von Posen, wo die diesjährige Ausstellung der D. L. G. stattfindet, nach England, wo zu York die Royal Agricultural Society ihre Schau abhält. Es ist eine gute Gelegenheit und die Erfüllung eines oft gegebenen Versprechens, die größere Zahl meiner alten englischen Freunde mit einem Schlag zu besuchen und in ihrer Burentrübsal zu trösten. Dann gedenke ich über Paris zurückzukommen und zum letztenmal in meinem Leben fast etwas widerstrebend eine Weltausstellung zu betrachten. Aber con amore, nicht wie vor Zeiten im Schweiß meines Angesichts. Wird aus dem ganzen Plane nichts – alles hängt von dem überaus schwankenden Befinden meiner Mutter ab –, so ist das Unglück auch nicht groß. Man ist zur Not in Ulm ein Mittelpunkt der Welt, so gut als anderswo. Dies ist eine der guten Eigenschaften der Unendlichkeit des Universums. Um Ihren italienischen Aufenthalt beneide ich Sie allerdings ein wenig, wenn Sie ihn genießen konnten, wie er es verdient.

Und nun kommen Sie glücklich und gesund wieder in die alte Heimat! Wenn Sie Ihr Weg über Ulm führen könnte, so würde es mich hoch erfreuen. Sie blieben hier über Nacht; ich würde Ihnen im Russischen Hof Quartier machen. Am folgenden Morgen sähen Sie den Stolz der alten Reichsstadt, unser Münster, das jedenfalls in der Länge und Höhe die Peterskirche überragt. Das wäre ein hübscher Abschluß Ihrer Wandermonate und ein würdiger Eintritt in unser hausbackenes deutsches Leben, aus dem heraus Sie herzlichst grüßt

Ihr stets ergebener

Eyth.


An Ilse Roemer.

Ulm, 4. Juni 1900.

Meine liebe Ilse!

Gestern kam eine große, geheimnisvolle Kiste bei mir an, die ich mit der äußersten Vorsicht und mit wachsendem Erstaunen öffnete. Schließlich, nach vielem Stroh und feiner Watte kam der herrliche Frühling heraus und ein kleiner Amor und ein Brieflein Deiner lieben Großmutter. Nun wußte ich, was das alles zu bedeuten hatte: daß sie und Du mir eine große Freude gemacht habt, von der ich im Augenblick noch nicht weiß, wie ich sie anders heimzahlen soll, als indem ich Dir schreibe.

Erst dachte ich, es sei eine Psyche und sie läute Deinen Künstlerfrühling ein; und es wurde mir fast etwas bange. Denn dazu bist Du doch noch etwas zu jung. Nun ist es mir recht lieb, daß es der Frühling ist. Der läutet den Jüngsten von uns am schönsten.

Die liebliche Gruppe kam ganz gut an. Nur am erhobenen Arm des Frühlings sind ein paar Stückchen abgebrochen. Ich habe sie aber gefunden und mit Gummi angeklebt, so daß jetzt kein Mensch den Schaden sieht. Und der Amor hat seine Pfeilspitze verloren. Das paßt für mich ganz ausgezeichnet, was Du später einmal verstehen wirst.

Ich komme, auf meinem Weg nach Posen, morgen durch Berlin, habe dort aber nur eine Stunde, und dazu eine frühe Morgenstunde, Zeit, so daß ich nicht daran denken kann, nach Westend zu kommen, um Dich und Deine liebe Großmutter zu besuchen und mich auch mündlich zu bedanken. Ähnlich geht mir's eine Woche später auf meiner Rückreise, denn ich muß so schnell als möglich nach London und von dort nach Paris. Dort werde ich voraussichtlich eine Unzahl Statuen und Statuetten sehen, aber keine, die mich so erfreuen wird, wie es die Deine getan hat.

Mit herzlichen Grüßen an Dich, Deine liebe Großmutter, Dein Schwesterchen, Tante Lili, Rolandchen und alle Anverwandten

Dein alter Freund

Eyth.


Ulm, 19. Juli 1900.

Hochverehrte Frau Hensel!

– – – Auch in England wurde ich lebhaft genug daran erinnert, daß ich alt genug bin. Drei Viertel meiner teilweise recht lieben Freunde, die ich dort vor achtzehn Jahren verließ, sind tot. Eine neue Welt wächst heran, die ich kaum mehr kenne. Die alten Örtlichkeiten sind nicht viel verändert, Meer und Land, Luft und Licht und vor allem Nebel und Rauch sind geblieben, aber alles ist leer geworden, denn selbst die kleinen Jungen von damals sind jetzt fremde, hochaufgeschossene junge Herren, die jetzt scheinbar mühelos tun, was seinerzeit, wie ich mir einbildete, ohne mich nicht ging. Ein derartiger Besuch nach langen Jahren ist mehr wehmütig als erfreulich. Ich fühlte mich nachher in der fremden Welt von Paris weniger fremd.

Dort hatte ich wenigstens etwas zu tun, denn ich arbeitete vierzehn Tage lang wie ein Nigger, in der Hoffnung, einen allgemeinen Überblick über diesen Riesenweltmarkt zu gewinnen. Dies mißlang, aber ich habe doch unendlich viel Schönes und noch mehr Barockes und Verunglücktes gesehen, das mir den Eindruck machte, als ob die Welt am Ende der Möglichkeiten angelangt sei, die das Spiel der menschlichen Phantasie erreichen kann. Es ist gut, daß das alles in wenigen Monaten wieder verschwindet. – Man wird dann hoffentlich wieder Mut gewinnen, im kleineren Kreise, den man zu übersehen vermag, zu schaffen, was jedem zu schaffen bestimmt ist.

Übrigens hat sich in der Tat Deutschland einen wundervollen Platz erobert. Das – und einiges andre – bringen wir doch von Paris nach Hause.

Ihren Freund Dr. Lobach habe ich mehrere Mal gesehen. Er hat, wie mir scheint, an der Riesenaufgabe tüchtig mitgearbeitet und sieht vortrefflich aus.

Für den Abguß von Ilses »Frühling« habe ich auch Ihnen noch meinen herzlichen Dank auszusprechen. Ihr Talent bleibt etwas so Erstaunliches, daß man fast Angst davor hat. Vererbung. Aber wie alles Geheimnisvollste macht sie uns auch in dieser lieblichen Form bange.

Mit herzlichen Grüßen und Wünschen für Ihr Wohlergehen

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, 19. Juli 1900.

Geehrteste Frau du Bois-Reymond!

Nachdem Sie mir einen so freundlichen und ausführlichen Reisebrief geschrieben hatten, mußte ich doch auch erst eine Reise machen um das Material für eine ebenbürtige Antwort zu sammeln. Das ist nun geschehen. Ob aber das Material nun die entsprechende Verwendung finden wird, ist mehr als zweifelhaft. Das Leben schleppt uns in so ruheloser, unerbittlicher Weise von einem Platz zum andern, daß man kaum Zeit findet, darüber nachzudenken, wo man soeben herkam.

Zuerst ging's nach dem fernen Osten. Posen. Der übliche Ausstellungsrummel, an dem ich, seitdem ich nicht selbst mehr mitarbeite und -leide, nur noch ein sehr platonisches Interesse nehme. Vielleicht wäre ich kaum nach Posen gegangen, wenn nicht gerade dort mit unsrer Ausstellung eine Art patriotischer Pflicht verbunden gewesen wäre. Die Deutschen wollten und sollten sich zeigen. Es hieß, mehr als anderswo, alle Mann an Bord, und trotzdem glaubten wir einer Art Niederlage, wenigstens einer großen Schlappe entgegenzugehen. Aber es ging recht gut, wie es meist geht, wenn man das Schlimmste erwartet, und ich konnte beruhigt ab- und meiner zweiten Ausstellung entgegenziehen.

Die war in York, im Norden von England. Seit Jahren hatte ich meinen englischen Freunden versprochen, sie wieder zu besuchen. Nun endlich mußte und konnte es sein. Ich machte die übliche Erfahrung: daß trotz aller äußerlichen Freude alte Freunde und alte, liebgewordene Orte wiederzusehen, eine Zeit von achtzehn Jahren die alten Bande unmerklich gelockert hat, so daß man sich fast fremd und mit wehmütiger Gleichgültigkeit den alten Verhältnissen gegenübersieht. Auch ist man mit einer Riesenstadt wie London, die man im allgemeinen kennt, außerordentlich rasch bis zum Überdruß fertig, wenn uns keine spezielle Aufgabe beschäftigt. Ich nahm mir aus diesem Grund, den ich lebhaft empfand, bei meiner Abreise grundsätzlich vor, von Paris nichts, aber auch gar nichts zu sehen, als die Ausstellung, und habe dementsprechend meine dortigen vierzehn Tage auch verlebt.

Und wahrhaftig, ich hatte genug zu tun. Anfänglich ging ich mit Widerstreben an die Aufgabe, den Riesenmarkt des näheren zu besehen. Dann aber reizte mich die Unmöglichkeit, einen Überblick über das Ganze zu gewinnen, und ich lief mir redlich die Füße ab, um das Unmögliche zu erreichen. Und es war immerhin der Mühe wert. Nach Inhalt und Form bot mir die Ausstellung viel; unter anderm die Erfahrung, daß die Fortschritte der Welt in zehn oder fünfzehn Jahren – so lange hatte ich mich unter meinen Bauern begraben – eine gewaltige Masse Neues emporwerfen, von dem man sich nichts träumen läßt. Man hat gar zu leicht das Gefühl, am Ende des möglichen Fortschritts angelangt zu sein. In Paris wurde mir recht klar, daß Welten und Welten noch hinter dem liegen, was uns heute zum Bewußtsein gekommen ist. Eine recht tröstliche Aussicht.

In Bezug auf Details freute mich Deutschland. Das Eigenlob ist in unsern Zeitungen neuerdings eine solche Krankheit geworden, daß ich mit beträchtlichem Mißtrauen an unsre deutschen Abteilungen herantrat. Aber es ist zweifellos: sie sind schöner als alle andern. Nicht überall in Bezug auf die Leistungen, denn selbstverständlich werden wir in diesem und jenem übertroffen, aber wie wir zeigen, was wir haben, ist unübertroffen. Ein vornehmer Geschmack, ein technisches Taktgefühl, das ich uns nicht zugetraut hätte. Sonst überwiegt das Bizarre der ganzen Veranstaltung weitaus ihre Schönheit. Namentlich scheinen mir die Franzosen am Ende ihrer Phantasie angelangt zu sein. Auch in der Kunst. Ich gratuliere mir sehr, kein Bildhauer zu sein. Weiter läßt sich der menschliche Körper nicht mehr verdrehen, als es mit vielem Geschmack da und dort hier zu sehen ist, und wenn die Architektur unsrer Zeit in Cambodscha angelangt ist, hat sie wohl ihr Ziel auch nahezu erreicht, wie die Buddhisten der Pariser Gesellschaft auf anderm Gebiet.

Nunmehr werde ich mit meiner Mutter vier Wochen am Bodensee zubringen und habe Zeit, das Gesehene zu verdauen, und das ist auch der Grund, weshalb Sie mir verzeihen müssen, daß ich plötzlich abbreche. Die Freuden des Packens packen mich.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, 16. Oktober 1900.

Geehrteste Frau du Bois-Reymond!

Mit dem herzlichsten Dank für die schönen Stunden, die ich in Ihrem lieblichen Heim verbrachte, sende ich Ihnen versprochenermaßen das erste Viertel meiner Pyramidengeschichte. Sie werden in dem Manuskript wohl manche kleine Unebenheit entdecken, die noch verschwinden dürfte, und manche große, die, fürchte ich, stehenbleiben muß.

Nicht wahr, Sie geben es nicht aus der Hand? Eine halb- oder vielmehr viertelsfertige Arbeit gehört nicht in fremde Hände. Mit der Lektüre hat es keine Eile, wenn ich das Paket in zwei Monaten zurückerhalte, kommt es früh genug. Ich fange morgen das vierzehnte Kapitel – das letzte des zweiten Abschnittes – an, und brauche den ersten Teil nicht, ehe das achtundzwanzigste, das letzte des vierten Abschnittes, hinter mir liegt.

Im übrigen muß ich dieses Bruchstück für sich sprechen lassen, auf die Gefahr hin, daß manches unverständlich bleiben muß, das erst im weiteren Verlauf der Erzählung seine richtige Stelle im Ganzen findet. Für eine rücksichtslose Kritik werde ich Ihnen sehr dankbar sein, wenn auch kaum zu erwarten ist, daß ich viel ändern kann. Le style, c'est l'homme ist eine bekannte Wahrheit, und noch wahrer ist, daß die ganze Auffassung und Behandlung einer literarischen Aufgabe nicht von unserm Willen abhängt, sondern von unserm Wesen. An dem aber ist Hopfen und Malz verloren, um ein schwäbisches dem französischen »geflügelten Wort« gegenüberzustellen.

Mit den besten Wünschen vor allem an die kleine Welt, die mir großes Vergnügen gemacht hat, sonderlich beim Treppensteigen, mit einem zutraulichen Kinderherzchen an jedem Bein

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, 25. Okt. 1900.

Geehrteste Frau du Bois-Reymond!

Sie sind in der liebenswürdigsten Weise bereit, eine Aufgabe zu übernehmen, die ich Ihnen niemals zugemutet hätte. Natürlich bin ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich mit dem Manuskript in der angedeuteten Weise beschäftigen. Der weiße Rand steht Ihnen in jeder Weise zur Verfügung. Nur eine Bedingung möchte ich vorschlagen: daß Sie die Sache fallen lassen, sobald Sie finden, daß sie Ihnen lästig wird. Sie ist sicherlich weniger angenehm, als Sie dies in der ersten Aufwallung des Gedankens annahmen.

Um meiner Dankbarkeit einen praktischen Ausdruck zu geben – Dankbarkeit ist bekanntlich ein lebhaftes Gefühl zu erwartender Wohltaten –, werde ich Ihnen sehr gern im Laufe der nächsten Woche den zweiten Teil der Pyramidengeschichte senden. Dann allerdings muß eine lange Stockung eintreten, denn vom dritten und vierten Teil ist noch nicht ein Wort geschrieben.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, 31. Okt. 1900.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Sie haben es gewollt. Nun müssen Sie eben sehen, wie Sie mit der zweiten Massenlieferung zurechtkommen.

Ich bin kein Freund von Vorworten, habe deshalb auch zu diesem zweiten Teil nichts weiter zu sagen, als daß er mir mehr als die andern zur Prüfung der Geduld meiner Freunde geschrieben zu sein scheint.

Was die vier geplanten Teile betrifft, so befinde ich mich allerdings augenblicklich in einem großen Seelenkampf. Das Buch wird mir zu lang. Ich habe halb und halb im Sinn, die letzten zwei Teile in einen zusammenzudrängen und so drei aus dem Ganzen zu machen. Eine gedrungene Erzählung ist in unsrer Zeit meist mehr wert als eine behaglich ausgesponnene. Nur ein technisches Bedenken hält mich zurück: es würde dadurch ein, aber ein fast zu dicker Band entstehen, statt der zwei handlichen Bändchen, auf die ich es ursprünglich abgesehen hatte. Hierüber – wenn Sie den zweiten Teil gelesen haben – wäre mir Ihre Ansicht sehr erwünscht. Selbstverständlich – so oder so – wird in der Folge die Pyramidenmystik Thinkers nicht mehr die Rolle spielen wie im zweiten Teile.

Nur ein Detail: es dürfte Ihnen auffallen, daß ich mich mitten in der Geschichte zur Puttkamerschen Behandlung der großen Buchstaben bekehrt habe. Sie wird natürlich später das ganze Buch regieren.

Sehr dankbar bin ich, wenn Sie mich auf Anglicismen aufmerksam machen wollen. Rochefort, der sich in London zornig weigerte, Englisch zu lernen, um seinen französischen Stil nicht zu verderben, hat nicht ganz unrecht.

Auch wenn Sie Schwabicismen mit nordischer Energie anstreichen, dürfen Sie meiner Dankbarkeit sicher sein. Korrigieren werde ich sie vielleicht nicht immer. Denn ich finde, daß manche süddeutsche Wendung, die dem norddeutschen Ohr unangenehm auffällt, sprachberechtigt ist, wie umgekehrt mancher norddeutsche Sprachgebrauch uns mit Recht nicht behagen will. Das Berliner Journalistendeutsch liefert hierfür manchen Beleg. Ich halte es aber keineswegs für notwendig, daß wir alle nach einem Reglement geschoren werden.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, 5. Dez. 1900.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Da Sie sich in engster Verbindung mit Ihrem Herrn Gemahl und beide in nicht genug anzuerkennender Weise für mich und mein Manuskript geopfert haben, werden Sie vielleicht verzeihen, wenn ich auf diesen Blättchen meinen doppelten Dank und eine zwiefache Erwiderung in eins verschmelze. Ich könnte sonst kaum vermeiden, mich auch brieflich zu wiederholen und in der Richtung zu sündigen, vor der Sie mich mit vollem Recht soeben eindringlich zu warnen gezwungen waren.

Zunächst also meinen aufrichtigen Dank! Ich weiß kaum, bin ich Ihnen oder Ihrem lieben Mann die größere Hälfte schuldig. Nach Männerart neige ich mich ein wenig auf seine Seite. Denn wir bilden uns ein, daß unsre Lebensaufgaben alles Nebensächliche schroffer ausschließen, als dies bei Frauen der Fall ist, deren schönste Pflicht ja eben im »Flechten und Weben himmlischer Rosen« liegt, die uns Barbaren insgeheim immer ein wenig als Nebensache anmuten. Daß er mir dieses Opfer gebracht hat, weiß ich vielleicht mehr als mancher andre zu schätzen. Ich wäre kaum fähig; ein gleiches zu tun, solange mich nicht der Stachel eines förmlichen Pflichtgefühls treibt.

Selbstverständlich denke ich nicht daran, das Manuskript gegen Ihre mir hochwillkommenen kritischen Äußerungen zu verteidigen, um so weniger, als ich Ihnen fast überall recht gebe. Nachlässigkeiten und schlechte Gewohnheiten, Gedächtnisschwäche und Temperamentfehler, all das und mehr zeigt es in reichlicher Menge. Einiges werde ich, Ihren Winken entsprechend, mit Genuß abändern, anderes mit Überwindung; wieder andres werde ich stehen lassen, weil ich mir nicht zu helfen weiß oder mich nicht zu überwinden vermag. Denn aus der eignen Haut schlüpft eben doch niemand heraus, und könnte er's, würde er sicherlich eine klägliche Figur machen. – Doch nun einige Einzelheiten:

Die Sakien und alle arabischen Ausdrücke, die ja nicht zahlreich sind, sollen kurz erklärt werden. Sie haben doch Thinkers Äußerungen über Lepsius nicht für meine Ansicht gehalten? Ich fuhr mit L. einmal von Alexandrien nach Triest und habe ihn ebenso liebgewonnen, als ich ihn zuvor hochachtete. Ich wollte mit den betreffenden Bemerkungen nur jenen eigentümlichen Haß der Gruppe eigensinniger Mystologen gegen das offizielle Wissen und Forschen andeuten, der in P. Smyths Büchern häufig zum Ausdruck kommt und die Spezies aller Faddisten charakterisiert. Wenn dies mißverstanden werden kann, so will ich den Satz jedenfalls milder fassen.

Die Schilderung der Globetrotters sollte allerdings den Gegensatz zwischen Thinkers Ernst und der Oberflächlichkeit der Herdenreisenden markieren. Daß dies nichts Neues ist, gebe ich freudig zu. Aber kann man überhaupt etwas schreiben, das neu ist, wenn man das Leben schildern will? Eine weitere Entschuldigung ist, daß Romane im Gegensatz zu Novellen schlechterdings Nebenfiguren brauchen, wenn sie nicht unnatürlich einseitig und monoton werden sollen. Die Switchleys und Harry Websters haben auch in der Folge noch gelegentlich mitzuspielen; aber gern will ich dafür sorgen, daß die Leute etwas rascher auf die Pyramide hinaufkommen und wieder herunter.

Was die Geschichte meiner Anwesenheit in Ägypten betrifft, so war es mir widerwärtig genug, sie wiederholt zu erzählen. Ich fühlte wie Sie, nur »more so«. Aber in einem täuschen Sie sich sicherlich: daß das Publikum sie kennt. Es ist nach meiner Erfahrung erstaunlich, wie selten eine solche Voraussetzung zutrifft, in ganz andern und wichtigeren Fällen. Und da ich nun einmal als nicht unwichtige Nebenfigur in der Geschichte eine Rolle spiele, so muß meine Anwesenheit in einem Land, in dem man nicht gerade jedermann trifft, begründet sein, wie die Anwesenheit der Thinkers oder Buchwalds. So konnte ich mir nicht anders helfen, als die alte Geschichte noch einmal, hoffentlich zum letztenmal, aufzutischen.

Zur Entschuldigung des Schlagbaumkapitels, gegen das ich selbst lange gerungen habe, kann ich nicht viel mehr sagen, als was ich in der Einleitung möglichst betonte. Der Kuckuck ist: niemand nimmt diese Einleitung für ernst, sondern sieht in derselben einen schriftstellerischen Trick, der die Erwartung steigern soll. Dann kommt natürlich die Enttäuschung. Was ich mit dem Kapitel bezweckte, ist, Thinkers Gedankenwelt einigermaßen zu rechtfertigen, ihn nicht ganz als Narren erscheinen zu lassen. Es gibt in der Tat solche Verrückte, die nebenbei die wackersten Menschen sind, und es gibt solche Verrücktheiten unter den unendlich vielen Kombinationen der Dinge der wirklichen Welt, auf die sie sich mit einem Schein von Recht stützen können. Von einer solchen Kombination sollte das Kapitel ein zusammenhängendes, klares Bild geben. Aufmerksame Leser, wie Sie es sind, konnten seinen Inhalt allerdings aus der Vergangenheit zusammenklauben. Allein sie konnten auch, infolge der Unmöglichkeit, dort mit wirklichen Zahlen zu operieren, denken: die ganze Geschichte ist der reinste Schwindel des Geschichtenerzählers. Dies ist sie nicht. Piazzi Smyth und J. Taylor sind sehr wirkliche Persönlichkeiten. Davon wollte ich den ernsteren Leser überzeugen. Vom Standpunkt des Romanlesers ist das Kapitel nicht zu verteidigen. Warum will man mir dies nicht glauben, wenn ich es in der Einleitung laut und eindringlich verkündige? – Aber ich werde mir's doch noch einmal reiflich überlegen: ob ich es ganz weglassen, oder den Besuch der Pyramide (in dieser Richtung) kürzen kann oder das jetzige Material des Schlagbaumkapitels wesentlich kürze und dafür neues Material einschiebe, das noch tiefer aus der Smythschen Pyramidenmystik heraufgeholt ist. Letzteres würde allerdings den armen Thinker dem deutschen Leser noch verrückter erscheinen lassen als bisher. Und das möchte ich wieder nicht, denn er bleibt wie immer der symbolische Repräsentant einer Richtung, die in unsrer Zeit und in Deutschland sehr ernst genommen sein will und tatsächlich noch immer die herrschende ist.

Für Ihre stilistischen Monita danke ich Ihnen ganz besonders. Sie haben überall recht. Daß ich mich bessern möge, wünsche ich von Herzen. Ob ich's tun werde, weiß nur Allah.

Stilistische Reinheit ist eine Gottesgabe. Wem sie nicht beschieden ist, dem kann sie zu teuer zu stehen kommen. Ich glaube die Goncourts erzählen irgendwo, daß Flaubert, der große Stilist, oft wochenlang mit einem einzigen Satz gerungen habe. Das war sehr schön, aber er konnte auf diese Weise allzu wenig schreiben, und der innere Wert des wenigen wächst nicht in entsprechendem Grade. Schließlich ist doch der korrekte Stil nur Mittel, und es ist gefährlich, ihn zum Zweck zu machen. Manche Schönheit in der Welt wäre nicht möglich, wenn sie stilistisch tadellos herausgearbeitet würde. Damit will ich förmliche Fehler niemals entschuldigen.

Über die Unvermeidlichkeit der zwei Bände bin ich schon seit einigen Wochen im klaren. Es geht wirklich nicht anders, und es freut mich, daß Ihre soliden Gründe (Sofa und so weiter) mit meinen unsolideren Hand in Hand gehen. Viel, an Raum und Zeit, ließe sich allerdings gewinnen, wenn ich nach Beendigung des Werks den moralischen Mut hätte, von der ersten bis zur letzten Seite alle Eigenschaftswörter zu streichen, die mir so reichlich durch die Feder fließen. Dort, glaube ich, liegt meine Hauptschwäche. – Doch wo soll ich die Seelenstärke hierfür hernehmen? Ich bin eben auch in der Schule aufgewachsen, die dem bildsamen Gemüt die Freude am Wort einzuimpfen weiß. Da haben wir's nun!

Und nun nochmals meinen aufrichtigen Dank mit dem Wunsch, daß ich in irgendwelcher Weise einmal Gelegenheit finden möge, Ihnen Gutes mit Gutem zu vergelten.

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, 22. April 1901.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Beiliegend der zweite Band. »Tu l´as voulu.«

So sehr ich für jede Randbemerkung dankbar sein werde, möchte ich ausdrücklich bitten, quälen Sie sich nicht, wenn Ihnen der Bleistift nicht ganz bequem zur Hand liegt. Und quälen Sie Herrn du Bois nicht! Wenn ich bedenke, daß ich erst morgen mit dem großen Reinemachen des ersten Bandes anfangen will, so kann ich mich kaum enthalten, Ihnen mit Mark Twain zuzurufen: ›Mind, this is not a finished picture, this is only a sketch!‹ Wenn ich aber bedenke, daß the picture schwerlich sehr verschieden von der sketch aussehen wird, so ist es wohl klüger, still zu sein; namentlich einer notorisch so wohlwollenden Kritik gegenüber wie die Ihre.

Ich fürchte sonderlich, daß Ihnen die ans Burleske grenzenden Partien des zweiten Teiles wenig behagen werden, denn ich weiß, was Sie vom Struwwelpeter denken. In diesem Punkte sind von jeher Ansichten und Geschmack verschiedener Naturen außerordentlich verschieden gewesen und werden schwerlich je unter einen Hut zu bringen sein. Aber nicht wahr, Sie sagen mir offen, ob ich nach Ihrem Gefühl zum Beispiel im einundzwanzigsten Kapitel zu weit gegangen bin.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, 18. Mai 1901.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Besten Dank für die prompteste und pünktlichste aller Rücksendungen.

Vor acht Tagen, an einem vernichtenden Regenmorgen begann ich in Weggis einen langen Brief an Sie oder vielmehr an Herrn du Bois, für dessen ausführliche Kritik der ersten Hälfte meines Buches ich in keiner andern Weise zu danken weiß. Darin wollte ich die verschiedenen Punkte, die er erwähnt, verteidigen, erklären und in der Mehrzahl als verlorene, wenn auch manchmal unverbesserliche Posten preisgeben. Zum Glück für uns beide hellte sich das Wetter auf, und der lange Brief blieb kurz und völlig unbrauchbar. Ich erwähne dies nur, um darzutun, daß ich nicht ganz ohne briefliches Gewissen bin, sein Schuldner aber wahrscheinlich auf ewig bleiben werde. –

Das folgende bitte ich nicht als Brief zu betrachten, sondern wie ein altes Buch zu behandeln, das man im Laufe von Wochen gelegentlich in die Hand nimmt.

Mein achtundzwanzigstes Kapitel! – An den viermal Sieben hänge ich zwar mehr, als Sie glauben – das ist weniger Joe Thinker als der Konstrukteur a. D., der mir diesen Streich spielt –, aber ich sah sofort, daß ich durch eine andre Einteilung die viermal Sieben retten und doch das jetzige achtundzwanzigste über Bord werfen konnte. An sich macht mir ein Jonas mehr oder weniger keine Skrupel, selbst wenn ich ihn für einen kleinen Propheten halten sollte. So war ich nach zehn Minuten schon daran, die Exekution vorzunehmen. Nach fünfzehn aber zauderte ich bei der verzeihlichen Frage: Warum habe ich eigentlich dieses Kapitel geschrieben? Denn was Sie dagegen einwenden, wußte und fühlte ich schon längst. Die hausbackene Wahrheit, daß es ordentlichen Menschen schließlich im Leben ordentlich gehen wird, kann sich der ordentliche Leser selbst sagen und ärgert sich gar, wenn man's ihm des langen und breiten erzählt. Das ist ja klar. Also warum? –

Ich habe mir durch das ganze Buch Mühe gegeben, keinen Roman zu schreiben, das heißt keine Geschichte, die auf der Fiktion beruht, daß das einzig Interessante im Leben darin liegt, ob und wie ein paar Gänschen und einige Gänseriche sich zusammenfinden und daß das Leben mit der Hochzeit besagter Geschöpfe und einem Gedankenstrich à la Prellwitz aufhört. Ich weiß, daß achtzig Prozent der deutschen Romane von diesem nichtswürdigen Gedanken leben und daß fünfundneunzig Prozent der Romanleser dies verlangen. Es ist aber grundfalsch und weiter nichts als eine Geisteskrankheit der letzten paar Jahrhunderte. Es gibt nichts Schwachköpfigeres, nichts Uninteressanteres, nichts Unbrauchbareres als Wesen im Zustand der Verliebtheit. Das weiß man im wirklichen Leben recht gut und läßt sie allein. Nach der Krankheit werden es vielleicht wieder ganz vernünftige Menschen, während derselben sind sie, auch in Büchern, nur genießbar für solche, die ähnlich veranlagt sind oder es werden möchten. So kommt es, daß fast ausschließlich nur Frauen – für die das Verhältnis der Geschlechter in jeder Phase von weitaus größerer Bedeutung ist als für den Mann – deutsche Romane lesen, zu denen die Männer von heute nur in der Not der äußersten Langeweile greifen. – Früher war dies anders. Ein Homer, ein Virgil, die »Nibelungen«, selbst »Tausendundeine Nacht«, und die Literatur des Mittelalters weiß von dieser grotesken Einseitigkeit nichts.

Sie sehen aus dem Obigen, mit welch zärtlichen Gefühlen ich diese Richtung betrachte und können nun verstehen, weshalb es mir in tiefster Seele zuwider ist, mein Buch mit zwei Hochzeiten zu schließen, die ihm den Stempel der gewöhnlichen Liebesgeschichte aufdrücken. Die betreffenden Partien sind die reinsten Episoden und sollten als nichts andres angesehen werden. Ich weiß, die geneigte Leserin wird hierüber empört sein. Aber ich weiß auch, wie oft und wie sehr sie mich empört hat mit ihrem verflachenden, versüßelnden Einfluß auf unsre unglückliche, verbackfischte Literatur. Viele suchen sich diesem Einfluß zu entziehen, indem sie über die Schnur von Sitte und Anstand hauen. Es sollte auch andre Wege geben, dem Leben Interesse abzugewinnen. Spielt in dem Dasein wirklich tüchtiger und großer Menschen die Liebesperiode und die Heiratsgeschichte ihres Lebens irgendwelche Rolle? Ausnahmen zugegeben. Wer denkt an die Liebeleien ernsterer oder vorübergehender – namentlich ernsterer Art eines Alexander, Cäsar, Napoleon, eines Luther oder Kant, eines Stephenson oder Darwin. Nehmen Sie, wen Sie wollen. Wer fragt auch im gewöhnlichen Leben nach dieser seiner törichtsten Periode, außer vielleicht eine höhere Tochter in der untern Klasse ihrer Schule? Und gerade diese Seite soll immer das A und O einer guten Geschichte sein.

Nun wissen Sie auch, wie ein ehrlicher alter Junggeselle über diesen Punkt denkt. Daß die meisten Männer ebenso fühlen, ohne zu denken, das weiß ich.

Ich wollte nun für Männer schreiben oder jedenfalls nicht vorzüglich für Frauen. Das ist mein Recht. Und ich werde wahrscheinlich dafür büßen. Das ist meine Pflicht. Das Buch sollte die Geschichte von Joe, Ben und der Pyramide erzählen, die alle drei selbstverständlich mehr Symbole als reale Wirklichkeit vorstellen. – Nun ärgerte mich während der ganzen Geschichte etwas andres oft so, daß ich nahe daran war, die ganze Arbeit wegzuwerfen. Ich hasse negative Größen, negative Ergebnisse, und tatsächlich ist die Moral der Geschichte eine negative. Weder Ben mit seinem stürmischen Vorwärtsdrängen noch Joe mit seinen träumerischen Rückblicken kommen zu einem Ziel, und das Ganze schließt im siebenundzwanzigsten Kapitel mit einem unentschiedenen Schach. Es ist dies nicht unnatürlich, denn solche Fragen werden selten oder nie in einer Generation ausgefochten. Da deutet nun das achtundzwanzigste Kapitel auf den Kern der Sache hin: Die Pläne Ben Thinkers sind heute in voller Ausführung, und Joes geheiligte Pyramide samt ihren Träumereien steht ruhig und unberührt mitten im Getriebe des Tages. Das ist die Bedeutung und, ich bilde mir ein, der Wert des achtundzwanzigsten Kapitels: es ist der wirkliche Schlußstein des Buchs. Soll ich ihn ausbrechen wegen eines Romänchens, das Ihnen in hunderttausend Versionen entgegengebracht wird?

Nun sind Sie schuld daran, daß ich mich wieder in dieser Weise in die Sache hineingeschrieben habe und es mir wie eine unverzeihliche Schwäche vorkommt, wenn ich, um des momentanen Beifalls des Lesepublikums willen, die Tendenz des Buches preisgebe. Solche Dinge wollen mit der nötigen Gefühllosigkeit behandelt sein. Vielleicht sehe ich in etlichen Tagen klarer. Die Sache ist nicht so einfach wie Sie denken.

Nun aber mit herzlichen Grüßen an das ganze Haus – Schluß!

Ihr stets ergebener

Eyth.

Nachschrift.

Ich füge noch ein Blättchen bei, fast um nach der oben so wenig höflich behandelten Frauenart das Wichtigste nach Schluß der Epistel sagen zu können: Noch einmal meinen besten Dank dafür, daß Sie Zeit und Raum gefunden haben, auch die zweite Lieferung des Manuskripts mit Randbemerkungen zu versehen. Ich könnte Bogen und Bogen darüber schreiben, aber ich sehe ein, daß es unmöglich ist, diese Dinge schriftlich zu diskutieren. Wo sollte das enden?

Noch etwas weniger Wichtiges: Die vier Teile des Buches erhalten die Untertitel: Wasser, Feuer, Luft und Erde, und jede dieser Unterschriften ist mit einem Sonett verziert. Wollen Sie die Gedichtchen auch haben, ehe Sie sie im Buche sehen? Sie bemerken, wie ich mich bemühe, Ihr Wohlwollen für das achtundzwanzigste Kapitel selbst durch eine Art Bestechung zu gewinnen. D. O.


Ulm, 30. Mai 1901.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Es droht Ihnen ein zweiter langer Brief, denn seit gestern habe ich Zeit; lange aber wird dieser gefährliche Zustand nicht dauern. Mein Cheopspyramiden-Manuskript ist zusammengepackt und aus dem Haus, und ich fühle das dringende Bedürfnis, mit der ganzen ägyptischen Atmosphäre, die es umgibt, so rasch als möglich aufzuräumen.

Früher wollte ich Ihnen nicht schreiben, denn Sie mußten doch erfahren, was mit dem achtundzwanzigsten Kapitel geschehen ist, und vor vier Tagen wußte ich es selbst noch nicht. Ich wollte mich erst unter dem Eindruck der endgültigen Revision des dritten und vierten Teiles des Buchs entscheiden.

Unter diesem Eindruck ist es gefallen. Sie haben recht: der Leser hat satt, am Schluß des siebenundzwanzigsten Kapitels, vielleicht mehr als satt; und zum ersten Male während der ganzen Schreiberei habe ich, verführt durch Sie, ernstlich an den »Leser« gedacht. Es ist dies Prinzipiensache. – Ein wirklich guter Schauspieler wird nie etwas Großes schaffen, wenn er an das Parkett denkt, anstatt an seine Rolle. Zehnmal weniger sollte ein Schriftsteller an den Leser denken, anstatt an die Gestalten und Situationen, die er schafft. Das ist überhaupt das Kritisierbare in Ihrer sonst so dankenswerten Kritik. Sie stellen sich durchweg auf den Standpunkt des Lesers und vergessen wohl auch manchmal, wie unendlich vielköpfig und verschiedenartig dieser Leser ist. Der Kerl geht mich aber nichts an, fast nichts.

Und nun werde ich das alte achtundzwanzigste Kapitel in einem hervorragenden Geheimkabinett sorgfältig aufbewahren, als einen denkwürdigen Beweis männlicher Schwäche und weiblichen Triumphes. Ich besitze leider wenige Documents humains dieser Gattung.

Ernsthaft gesprochen: vom Standpunkt des Lesers haben Sie völlig recht. Weshalb das Kapitel überhaupt erdacht und geschrieben wurde, fühlen Sie vielleicht, wenn Sie den Sinn des vierten Sonetts (Erde) auf sich wirken lassen. Ich wollte den Leser zwingen, über eine Generation hinauszublicken, ich wollte feststellen, daß das Untergehen der Saat nicht das Ende der Dinge bedeutet. Siebenundzwanzig Kapitel schildern das Leben dieser Saat, das achtundzwanzigste zeigt, wie die Früchte reifen. Aber ich habe all das vielleicht zu sehr in die Sprache und das Treiben des gewöhnlichen Lebens gehüllt, so daß es diesen Eindruck auf Ihren »Leser« nicht macht. Das ist mein Fehler, den ich gerne zugebe, aber ich büße auch dafür mit dem Opfer des achtundzwanzigsten Kapitels und von mehr als ihm.

Sonst war ich in bezug auf Kürzungen ziemlich störrisch; nicht, weil ich nicht zugebe, daß das Buch, wenn es kürzer wäre, besser sein könnte, sondern weil ich die Gründe, die Sie für die einzelnen Fälle anführen, nicht anerkennen konnte, ganz abgesehen von dem Leser, den ich prinzipiell nicht gelten lasse und dem zulieb die schönsten Werke der Literatur – namentlich in der Zeit ihres Entstehens – unfehlbar verhunzt worden wären. Beispiele:

Ich ging anfänglich mit großem Eifer an die gewünschten Kürzungen, begegnete aber auch sehr bald einer lehrreichen Erfahrung. In den ersten Kapiteln fand ich bei jeder Personenbeschreibung ein peremtorisches Kürzen! Ich gehorchte im Schweiße meines Angesichts, bis ich an Buchwald kam. B. ist eine der Hauptfiguren des Buchs. Seine Personalbeschreibung nimmt genau fünf Zeilen ein; jedes Wort sagt etwas. Einer der ersten Erzähler der Welt, Walter Scott, hätte ihm fünf Seiten gegeben. Aber auch hier stand »kürzen« am Rand. Nun wußte ich, daß ich es nicht mit einer Eigentümlichkeit des Buchs, sondern von Frau du Bois-Reymond zu tun hatte, und stellte alles – fast alles – wieder her, wie es ursprünglich war. »Wrong or right, my country

Einen andern Grund für Kürzungen finden Sie in Szenen, welche unangenehme Vorkommnisse oder Personen betreffen. Derartige Beschreibungen mögen ungeschickt sein; das ist eine Frage für sich. Aber ein Buch, das das Leben schildern will mit Auslassung seiner unangenehmen Seiten, ist wirklich nicht wert, geschrieben zu werden. Juckerwasser und Honig, Biskuitfigürchen nach Modellen der Dresdner Porzellanfabrik sind ja recht nette Sachen, aber sie sind nicht der Stoff, aus dem allein ein vernünftiges Buch gemacht werden kann. Peinliches, Unangenehmes, Widerwärtiges muß gelegentlich in einem solchen auftauchen, wenn es nicht süßlich und unwahr werden soll. In unsrer modernen Literatur beansprucht diese Seite des Lebens bekanntlich den breitesten Raum. Dies ist natürlich ebenso unwahr, als ihr ganz aus dem Wege gehen zu wollen.

Ein weiterer Ihrer Gründe ist, daß gewisse Vorgänge in andern Büchern schon oft beschrieben worden seien. Können Sie mir in der weiten Welt etwas zeigen, das nicht schon vor fünfhundert Jahren viel und oft beschrieben worden, wenn es überhaupt existierte. Nein, schon vorher, in Visionen und Prophezeiungen aller Art. Aber auch hier komme ich lieber mit meinen widerwärtigen Prinzipien: ich halte es für schlechterdings verwerflich, wenn ein Schriftsteller über den Rand seines eignen Buches hinwegschielt, um sich danach zu richten, was andre getan und gelassen haben. Das geht ihn nichts an. Ein Buch, das sein Salz wert ist, ist ein Werk für sich. Es mag mit vielen Fehlern geboren worden sein, aber einer der größten wäre der, daß es mit Rücksicht auf andre Bücher geschrieben wurde. Ich kenne nur einen ebenso großen: wenn es von andern abgeschrieben ist.

Und so weiter – –

Es freut mich herzlich, daß wir anfangen, uns auszusprechen. Glauben Sie mir dabei nur eins: ich halte meine Ansichten nicht für die alleinseligmachenden und freue mich, wenn sich andre neben den meinen regen und geltend machen. Das wollen wir bei allen etwaigen zukünftigen Diskussionen festhalten. –

Beiliegend die Sonette zur Erinnerung an unsre pyramidale Korrespondenz. Die Beziehungen der Gedichtchen zum Buch können vielleicht ein paar Worte der Erläuterung ertragen.

Mit dem etwas pathetischen Ton hätte ich gern darauf hingewiesen, daß hinter dem leichten des Buchs etwas mehr steckt, als man vielleicht auf den ersten Blick annimmt.

Der erste Teil (die ersten sieben Kapitel) behandelt, wie Sie sich vielleicht erinnern, hauptsächlich die ägyptische Wasserfrage. So ist schon äußerlich der Titel »Wasser« zu entschuldigen.

Der zweite Teil umfaßt Joe Thinkers Pyramidenphantasien, bei allen Irrungen ein mehr geistiges Element – »Feuer«.

Der dritte Teil bewegt sich in der beweglichen Atmosphäre von Irrsalen, von Zügen und Gegenzügen in Kairo und endet (jetzt) mit der Märchenschlacht: »Luft«.

Und schließlich der vierte Teil – »Erde« –, der uns auf den festen Boden der harten Wirklichkeit mit ihren Enttäuschungen, aber auch mit der Hoffnung einer gesunden Weiterentwicklung zurückführt.

So habe ich mir diese Titel gedacht. Der »Leser« wird, fürchte ich, weniger darüber denken. Allein, Sie wissen nun auch, was ich über ihn denke – present company excepted of course!

Wenn Sie mich jetzt für einen eingebildeten Narren halten, muß ich mir's gefallen lassen. Ganz richtig wäre auch dieser Gedanke nicht.

Auch ein altmodisches Motto gab ich schließlich dem Ganzen mit auf den Weg: Goethes »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«.

Nun aber zum Schluß mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, den 30. Dez. 01.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Sie haben es sich nicht nehmen lassen, auf meinen mit Recht mehr und mehr zusammenschmelzenden Weihnachtstisch ein Zeichen Ihrer Freundschaft zu legen. Ich kann nur meine, ich glaube schon früher ausgesprochenen Mahnungen und Bitten wiederholen, dies nur geistweise zu tun. Sie haben im Kreise einer großen Familie um die Weihnachtszeit ohne Zweifel Sorge und Mühe genug, bis all die großen und kleinen Verpflichtungen erfüllt sind, die diese Zeit mit sich bringt. Weshalb sie vermehren, wo alles, was wir bedürfen, mit einer Zeile und einem Gruß erreicht ist und darüber hinaus mit allem Mühen nichts geschehen kann.

Trotz dieses Gebrumms aus der Bärenhaut eines alten Junggesellen meinen herzlichen Dank für das schöne Buch, das in wenigen Tagen an die Reihe kommen wird – als erstes nach einem reichlich Bücher spendenden Christtag –, in der Stille eines Krankenzimmers vorgelesen zu werden, denn wenn meine liebe Mutter auch nicht mehr fähig ist, den Zusammenhang einer größeren Erzählung festzuhalten, so scheint ihr das gewohnte Gemurmel des Vorlesens doch gut zu tun, und wir andern – ich und ihr Fräulein – kommen dabei auch auf unsre Rechnung. Sie haben somit in mehr als einer Richtung Gutes gewirkt und mir das Recht vollends genommen, meinen Protest nachdrücklicher zu erheben.

Es geht augenblicklich bei uns in der Tat ein klein wenig besser. Welches Rätsel doch die Lebenskraft ist, an die man auch in physiologischen Kreisen neuerdings wieder etwas zu glauben anfängt. Es geht eben, man mag sich drehen und winden, wie man will, mit Physik und Chemie allein nicht überall.

Ihr stets ergebener

Eyth.

Roländchen meinen besten Gruß und Dank für das wundervolle Buchzeichen, dessen klassisch ernste Formen einem »heimlichen Romantiker« besonders zuträglich sind.

D. O.


Ulm, Dez. 1901.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Das Schwerste einer schweren Zeit liegt nun wohl hinter Ihnen, und die Tage und Wochen des Alltagslebens, über die man sich so oft mit Unmut und Unrecht beklagt, haben, wie ich hoffe, auch bei Ihnen ihre heilende Wirkung begonnen. Möge Ihnen die kommende Festzeit, die oft genug schmerzlich an frische Wunden rührt, neue Lebensfreudigkeit bringen! Dazu sollte sie Fröhlichen und Traurigen dienen, um ein neues Jahr mit neuem Mut beginnen zu können.

Ich glaube zu wissen, daß Sie für den Weltfrieden eintreten – wenn ich auch nicht weiß, ob Sie in der kleinen aber kampfesmutigen Armee der großen Friedens-Berta in Reih und Glied mitmarschieren. Ich stehe leider auf der andern Seite und freute mich insgeheim, daß Sie Roländchen den kriegsruhmreichen Namen gegeben haben, den er trägt. Da jedoch zu befürchten ist, daß in dieser Richtung seine Erziehung nicht ganz entsprechend dem großen Namen seines Namensahnen ausfallen dürfte, so erinnere ich mich ausnahmsweise meiner Pflichten als Pate und schicke ihm eine Kanone. Wenn Sie sie ihm unterschlagen, so wasche ich meine Hände in Unschuld. Wenn nicht, so beobachten Sie die Wirkung, die der erste Schuß auf sein kleines Herz ausübt. Ich hoffe das Beste. Und bedenken Sie: wir leben nicht in einer Welt des Friedens, und Männer sind dazu da, in dieser Welt zu leben.

Meine Weihnachten werden recht still und wehmütig ausfallen. Meine Mutter hat sich zwar tatsächlich wieder etwas erholt; allein trüb bleibt Gegenwart und Zukunft bis zum Schluß. Darüber brauchen wir uns keine Illusionen zu machen.

Herzliche Grüße an groß und klein, und wenn ich ja im Tintensturm der kommenden Festzeit nicht dazu käme, Ihnen einen besonders gewichtigen Neujahrsbrief zu schreiben, so nehmen Sie freundlichst diese Zeilen dafür. Meiner besten Wünsche sind Sie ja sicher.

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, 24. Febr. 1902.

Sehr geehrte Frau du Bois-Reymond!

Einen vorläufigen Entwurf Ihres Feldzugs durch Schwaben finden Sie auf der nächsten Seite. Lassen Sie mich freundlichst wissen, ob Sie denselben im allgemeinen billigen, ob Sie ihn kürzer oder länger haben möchten, ob Sie irgendwelche nicht berücksichtigte Spezialwünsche haben und so weiter. – Ist der Plan einmal im allgemeinen festgestellt, so kann ich Ihnen leicht die einzelnen Tage mit nützlichen Winken à la Baedeker ausfüllen.

Wir sind jetzt mit Jörn Uhl durch. Ich halte es für eines der besten Bücher, die mir seit vielen Jahren in die Hände gekommen sind, und ich danke Ihnen nochmals herzlich dafür, daß Sie es mir zugeführt haben. Sie sagten damals, wie Sie sich gewundert hätten, daß solche Bücher noch geschrieben werden. Ich wundere mich gar nicht und freue mich bloß. Das jammervolle Fin-de-siècle-Gewinsel liegt hinter uns, das das unausbleibliche Ergebnis der rein materialistischen Lebensauffassung der absterbenden Generation werden mußte. – Ein ernster Geist der Hoffnung und des Glaubens – wenn wir auch noch nicht recht wissen, was wir glauben sollen – zieht durch die Welt wie ein Frühlingshauch, und da und dort kommen schon die Knospen. Die Jahre der Menschheit sind noch lange nicht zu Ende, und Säen und Ernten, Blühen und Früchtebringen wird, Gott sei Dank, wohl noch eine Zeitlang fortgehen.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr sehr ergebener

Eyth.


Ulm, den 31. Juli 1902.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Mit bestem Danke sende ich Ihnen Fontanes »Kinderjahre« zurück, die wir aufmerksam und mit Interesse gelesen haben, vor allem des Mannes wegen, der sie schrieb. Das Buch, scheint mir, hat all dessen Tugenden: die gerade Ehrlichkeit, die schöne einfache Sprache, aber auch seine Fehler, worunter ich einen gewissen Mangel an Wärme rechne, der gerade bei dem Thema dieses Buchs besonders ausfällt. Vielleicht wurde mir der Eindruck dadurch vertieft oder erhöht, daß es das dritte Buch über Kinderjahre war, das wir kürzlich lasen. Solche Bücher sind eine Gefahr für die Verfasser. In unsrer Jugend ist uns alles so unendlich interessant, daß es uns schwer wird, zu verstehen, daß andre diese Dinge nicht mit dem gleichen Gefühl des kindlich liebenswürdigen Egoismus ansehen. Gewöhnlich sind es für Dritte sehr gleichgültige Sachen: Detailschilderungen von Haus und Hof, die überall sich wiederholenden Räuberspiele der Jungen, die Abenteuer mit zerrissenen Höschen oder einem Klecks im Schulheft. Es kommt alles darauf an, wie sie behandelt werden, und da scheint mir der etwas trockene Ton Fontanes ein nicht glückliches Zusammentreffen mit der zu trockenen Jugend des Mannes. Fontane ist kein rechtes Kind gewesen, und es ist kein Wunder. Im ganzen Buch sind seine Geschwister kaum erwähnt. Nehmen Sie die Schilderung des Weihnachtsabends in seinem väterlichen Haus: das ist einfach entsetzlich. Die ganze poesielose Atmosphäre unsers philisterhaften Mittelstandes mit seinen fadenscheinigen Prätensionen. Ich werfe keinen Stein auf ihn. Er spricht von seinen Eltern mit der Achtung, die sich gebührt, aber er war in ihrer Wahl nicht glücklich und das entschuldigt viel. Über eins wunderte ich mich beständig: daß in diesem ehrlichen, aber steifen Charakter so gar nichts von dem französischen Blut seiner Eltern zu spüren ist. Wo ist das doch hingekommen?

Wer weiß – vielleicht machte Ihnen das Buch einen ganz andern Eindruck,Nein! L. du Bois-Reymond und es macht sich in mir wieder einmal jener infame Unterschied zwischen Nord- und Süddeutschland geltend, den ich so lebhaft beklage als irgend ein andrer guter Deutscher, über den wir aber – in Gefühlssachen – nun einmal nicht weg können, so lange wir waschechte Deutsche sind.

Verzeihen Sie diesen nörgeligen Brief!

Ich habe mich törichterweise gründlich überarbeitet, war vierzehn Tage lang in einer Kaltwasserheilanstalt, um mein geistiges Gleichgewicht wiederzufinden, bin zurück, im allgemeinen wohl, aber, wie Sie sehen, noch nicht ganz munter. Es wird wiederkommen, denk' ich.

Indessen mit herzlichen Grüßen an Sie und das ganze Haus

Ihr stets ergebener

Eyth


Ulm, 9. Sept. 1902.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Soeben komme ich von München und Breslau zurück, wo ich eine Woche lang in Wasserangelegenheiten herumplätscherte. Es ist unglaublich, wie viele Festdiners man im lieben deutschen Vaterland erdulden muß, um auch nur das kleinste Kanälchen unter Dach zu bringen!

Dort, das heißt in Breslau, erreichten mich Ihre freundlichen Zeilen bezüglich des Kernerhauses.In der »Nationalzeitung« war über den Verfall des Hauses von Justinus Kerner geklagt worden Meine Zeit war aber so sehr in Anspruch genommen, daß ich der heimlichen Romantik auch nicht eine Minute lang nachhängen konnte und heute erst dazu komme, für Ihre freundliche Anregung auch nur zu danken.

Von den in der »Nationalzeitung« berührten Verhältnissen weiß ich augenblicklich absolut nichts, will mich aber ohne Verzug erkundigen. Tatsache ist, daß die Kreise, die den ganz alten Kerner umgaben, durchaus andre waren als die, in welchen der junge auch seine späteren Jahre verlebt hat. Der erstere war ein Poet, aus Humor, Schwermut und Mystik zusammengesetzt, der letztere ein fideler Lebemann und ist es meines Wissens noch heute in hohem Alter. Dies dürfte es erklären, wenn in dem vorliegenden Falle der Name des Vaters sich nicht mehr so wirksam erweisen sollte, als es wünschenswert wäre. Gewiß, es wäre schade um den poetischen Winkel bei Weinsberg. Aber alles hat eben seine Zeit, und die poetischen Winkelchen der kleineren Größen wohl mit Recht eine kurze.

Aber wie gesagt, ich will Nachforschungen anstellen. Die »Nationalzeitung« seufzt zwar, gibt aber nicht den geringsten Wink, wie und wo etwas geschieht oder geschehen könnte.

Ich bin augenblicklich in recht schlechter Stimmung infolge der Notwendigkeit, meine Pyramidengeschichte selbst zu lesen, der Korrektur wegen. Es ist mir dies eine fürchterliche Qual, und ich würde Ihnen und andern ganz anders vorjammern, wenn ich nicht die natürlichste und einfachste Entgegnung fürchten müßte. »Warum, ins Kuckucks Namen, lassen Sie's nicht bleiben, wenn Ihnen die Schriftstellerei so schlecht bekommt?« Darauf wüßte ich keine vernünftige Antwort – und muß deshalb das Elend allein tragen, so gut oder so schlecht es eben gehen will. Übrigens ist dreiviertel des Ganzen schon gedruckt, so daß es nicht mehr lange dauern wird. –

Habe ich Ihnen für die prächtige Photographie Rolands und seines Schwesterchens gedankt? Verzeihen Sie, wenn es jetzt erst geschieht. Mit Zermatt und Friedrichshafen und Breslau und so weiter ist mir alles ein wenig durcheinander gekommen.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth


Ulm, den 15. Nov. 1902.

Geehrteste Frau du Bois-Reymond!

Dickens »Hard times« – Sie wissen, daß Dickens einen wunderlichen Namensbruder in England hat, an den ich eigentlich denke – bleiben keinem Menschenleben erspart, mag es äußerlich noch so glatt und glänzend verlaufen. Ich glaube fast – nein, ich weiß aus Erfahrung – sie sind notwendig für unser inneres Gedeihen. Deshalb sollte man sich nicht allzu laut beklagen, wenn sie uns etwas schwer fallen. In ihrem Gewicht liegt ihr Wert. Ich predige mir, nicht Ihnen. Nun sollen Sie aber auch wissen, weshalb mir der Predigttext aus der Feder schlüpft. Meine Mutter ist körperlich für den Augenblick zum Glück nicht allzu schlimm dran, wenn auch ihr Geist völlig hilflos zwischen unfaßbarem Seelenjammer und kleinen Nöten aller Art hin und her schwankt und durch keine Vorstellungen mehr zu packen ist. Dagegen ist Fräulein Heintzeler, die unentbehrliche Stütze unsrer kleinen Haushaltung, an einer tüchtigen Influenza ernstlich erkrankt, und ich selbst habe offenbar etwas Ähnliches im Leibe und halte mich nur mühsam aufrecht. Wir haben ein fremdes Fräulein und eine Diakonissin im Hause, und alles, was man an einem verhältnismäßig kleinen Ort mit Geld herbeischaffen kann. Aber wie wenig kann man in solchen Fällen plötzlicher Not mit Geld machen.

Meine Geschichte der Technik habe ich, offenbar im Vorgefühl dessen, was kommen sollte, vor acht Tagen zu drei Vierteln fertig, gänzlich über Bord geworfen. Die Sache wurde mir unerträglich. Mit Krämer, dem Herausgeber des »Weltalls«, komme ich, wie es scheint, ganz nett auseinander. Wenn man von den Menschen für eine Masse Arbeit nichts verlangt, so sind sie doch im allgemeinen menschlich. Mag ein andrer die Geschichte vollenden, umarbeiten, in den Papierkorb werfen – es ist mir alles recht. Es ist mir, als hätte ich augenblicklich für nichts Sinn, als für den letzten Seufzer des Götz von Berlichingen: »Freiheit! Freiheit!«

In den letzten Tagen habe ich zufällig Tagebücher meines Vaters aus den Jahren 1827 bis 1831 (Studentenzeit und so weiter) aufgestöbert. Er glaubte damals – an einem schweren Augenleiden erkrankt – der Blindheit entgegenzugehen und wirft jetzt, nach siebzig Jahren, einen Lichtblick über die trüben Stunden von heute. Eines seiner hübschesten Gedichte von damals will ich Ihnen doch mitteilen. Man fühlt ihm an, daß es erlebt ist:

Der Blinde im Frühling

Helle ward's, der Morgen schickte
Weit hinaus das goldne Licht,
Und die Frühlingssonne blickte
Auf ein bleiches Angesicht.
In der Kammer saß er drinnen,
Starrte in die Welt hinein,
Aus dem Auge fühlt' er's rinnen
In den warmen Sonnenschein –
Fließe, stille Träne, fließe
Aus dem finstern, öden Haus,
Ziehe zu dem Paradiese,
Zu des Tages Licht hinaus.
Du empfingst das holde, schöne,
Saugst es ein, das letzte Gold;
O wie glücklich ist die Träne,
Die aus meinem Auge rollt.

Mit den Büchern Ihres »kleinen Freundes«,Flynt: Tramping with tramps. The rise of Ruderick Clowd. die Sie so freundlich waren, mir zu schicken, müssen Sie ein wenig Geduld haben. In diesen Tagen bin ich zu wenig in der Stimmung, mit ihm in den Sümpfen der Menschheit herumzuplätschern und würde seine Eigenart wahrscheinlich nicht richtig beurteilen. Lassen Sie mich ein paar Wochen zuwarten.

Auch bei Ihnen geht es ja keineswegs, wie wir es wünschen. Ich schließe mit dem herzlichen Wunsche, daß alles mild und gnädig verlaufen möge und Sie sich mit Sorgen und Mühen nicht allzusehr anstrengen müssen,

und bleibe wie immer

Ihr ergebener

Eyth


Ulm, den 30. Dezember 1902.

Meine liebe Ilse!

Für das reizende Figürchen, das Du – oder sollte ich schon Sie sagen? ich weiß wahrhaftig nicht, ob Du mit der Einsegnung diese Grenzlinie des jungen Lebens schon überschritten hast, und will zu unser aller Beruhigung annehmen, daß es noch nicht geschehen ist –, das Du mir geschickt hast, danke ich Dir recht herzlich. Es hat mich sehr gefreut, besonders weil es zeigt, daß Du nicht aufhörst, Fortschritte zu machen, auf die die lieben Deinen stolz sein dürfen. Damit will ich aber nicht sagen, daß auch Du stolz sein solltest; denn damit wäre der Hauptspaß vorbei.

Von anatomischen Fehlern sehe ich nichts. Das kommt wohl daher, daß ich die Anatomie der Sakuntala zu wenig studiert habe. Das kannst Du viel besser tun als ich. Das Schlänglein aber ist jedenfalls vortrefflich; das verstehe ich nämlich auch.

Das Beiliegende soll nur ein kleiner Gruß sein. Ulm ist keine große Stadt und liegt ein wenig außerhalb aller Welt. Da muß man schon zufrieden sein mit dem, was man kriegt.

Daß Dich die Cheopspyramide gefreut hat, wundert und. freut mich. Es ist doch auch viel langweiliges Zeugs drin – Zahlen und dergleichen –, aber die werdet Ihr wohl übersprungen haben, hoffe ich. Leider – wenn man so lange in Ägypten gelebt hat, wie ich, wird man selbst ein wenig langweilig.

Und nun lebe wohl. Grüße mir die lieben Deinen, Tante, Onkel, Geschwister, vielmals. Ich lasse Ihnen allen, wie auch Dir, ein glückliches neues Jahr wünschen und bleibe

Dein treuer Freund

M. Eyth.


Ulm, den 14. März 1903.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Sie haben mir durch die klare Fragestellung und die genaue Bezeichnung der Seiten in den zwei Manuskriptbänden die Sache so erleichtert, daß ich Ihnen die Bücher mit meiner Antwort heute schon zurücksenden kann.

Gehen wir ohne Umschweife an die Arbeit.

Band III, Seite i, k, und 1. XIII.Es handelte sich um die Autobiographie meines Vaters, die dann unter dem Titel: Sebastian Hensel. Ein Lebensbild aus Deutschlands Lehrjahren in Behrs Verlag, Berlin, erschien. L. du B.-R.

Ich bin entschieden für die Aufnahme dieser Sachen. Es ist grundfalsch, zu glauben, daß die Arbeiten eines Mannes das bessere Lesepublikum weniger interessieren als die Erlebnisse, die neben seiner Arbeit herlaufen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Arbeit ist das Knochengerüste eines männlichen Lebens. Es ist vielleicht nicht ratlich, die Knochen ohne Fleisch und Haut zu präsentieren; aber noch schlimmer ist Fleisch und Haut ohne Knochen. Ich weiß, unsre Literatur ist reich an solchen molluskenartigen Produkten; und die Mehrzahl des lesenden Publikums ist molluskenartig genug, solche vorzuziehen. Die Besseren aber, für die Ihres Vaters Memoiren geschrieben sind, sind zum Glück andrer Natur. Hüten Sie sich, diesen das kleinste Knöchlein zu entziehen, das sich vorfindet.

Band IV, Seite 53 und so weiter bis 72.

Diese Schilderungen sind sehr interessant als Bild der Verhältnisse jener Zeit und als ein ganz wesentliches Element im Leben und im Charakter Ihres Vaters. Warum kann das Plänchen nicht beigedruckt werden? Übrigens ist der Plan und das Ganze so einfach, daß man die Sache auch ohne Plan recht wohl verständlich machen kann, namentlich, wenn Sie bei der örtlichen Beschreibung mehr von den Bezeichnungen der Himmelsgegenden Nord, Süd, Ost und West Gebrauch machen. Damit erleichtern sich Engländer und namentlich Amerikaner derartige Schilderungen ungemein. Das einzige, was vielleicht wegbleiben könnte, ist die Geschichte der Thomasschlacke. Ganz Sachverständige interessiert sie wenig, einigermaßen Sachverständigen ist sie heute fast allzu bekannt. – Köstlich ist auf Seite 64 die Sorge und Freude Ihres Vaters darüber, daß seine Wasserpumpe Wasser pumpte, und die Schlußworte nach dem Streit mit Schichau: »Die Lokomobile war nun sehr preiswürdig.«

Ich freue mich herzlich darauf, das Buch fertig zu sehen und will alle Bemerkungen über dasselbe bis dahin aufsparen.

Ihres Herrn Gemahls hübsche Schilderung seiner Jungfraufahrt kannte ich schon. Einer meiner Berliner Freunde, der weiß, daß ich Sie und die Ihren kenne, schickte mir die »Nationalzeitung« sofort nach dem Erscheinen des vortrefflichen Aufsatzes.

Sie schreiben nichts darüber, wie Ihnen Wengen gesundheitlich zugesagt hat. Ich hoffe daraus schließen zu dürfen, daß die Bergluft gehalten hat, was Sie und wir alle für Sie hofften.

Ich selbst war noch nicht in Freiburg. Meine Absicht war, in den nächsten Tagen zu gehen. Nun höre ich aber, daß der berühmte Mann, dem ich mein Mißtrauen zuzuwenden gedenke, im Begriff ist, in Ferien zu gehen und erst nach Ostern wieder zurückkommt. So lange habe also auch ich noch zu warten. Es schadet nichts, denn der wahre Grund meiner Besorgnis liegt in nichts anderm als im herannahenden Alter. Dies wird sich in vier Wochen, auch ohne ärztliche Nachhilfe, nicht wesentlich bessern, so daß der Herr Professor noch immer etwas zu tun finden dürfte.

Auch daß ich nicht früher nach Freiburg ging, hatte seinen Grund, nämlich den folgenden: Nachdem ich im November halb krank und ganz verzweifelnd »Menschheit und Weltall« über Bord geworfen hatte, mußte ich natürlich das entstandene Vakuum so schnell als möglich ausfüllen, wenn ich nicht wirklich unglücklich werden wollte. Nun ist mein Heidelberger Verleger schon seit drei Jahren hinter mir her. Mein Wanderbuch ist nämlich in dritter Auflage völlig vergriffen. Die fünf Bändchen wieder zu drucken lohnt sich in der Tat nicht. Zuviel ist veraltet, andres war von Anfang an zu breit u. s. w. Doch werde immer noch danach gefragt, deshalb wollte er, ich solle die fünf Bände in zwei umarbeiten, die dann ein neues Buch geben würden. Das schien mir nun eine angenehme, leichte Arbeit zu versprechen, wie ich sie gerade nach Leib und Seele brauchte, und ich begann munter nach folgendem Plan. Erster Band: Lehrjahre.

Deutschland, England, Ägypten, Nordamerika. – Zeit 1856–66.

Zweiter Band: Wanderjahre.

Zeit 1866–82 (vierter, fünfter und sechster Band des Wanderbuchs).

Dritter Band: Meisterjahre (Zeit 1882–96, Gründung der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, und was daneben herlief). Dieser Band wird natürlich neu und erst im Lauf des nächsten Winters geschrieben. Der Untertitel klingt leider conceited wenn er nicht im alten Zunftsinn verstanden wird, wie ich ihn verstehe. – Dafür will ich aber schon sorgen und ihn entsprechend abdämpfen. – Alle drei Bände erhalten wahrscheinlich den Titel: »Im Strom der Zeit«, zwei sollen Ende 1903, der dritte Ende 1904 erscheinen.

Nun wollte ich wenigstens den ersten Band druckfertig haben, ehe ich jemand an meinen Augen herumdoktern lasse; und vor drei Tagen bin ich, nicht ohne tüchtig zu arbeiten, soweit gediehen.

Damit habe ich Ihnen nun mein ganzes Dasein erklärt. –

Der zweite Band von »Jerusalem« war, soweit wir gediehen sind, eine bittere Enttäuschung. Es ging so weit, daß ich manchmal den Verdacht hegte, es könne nicht dieselbe Verfasserin sein. Dies geht wohl zu weit. Aber nie habe ich in so greller Weise den Unterschied gesehen zwischen dem was wächst und dem was gemacht wird. Dies soll nicht mein endgültiges Urteil sein; das werde ich Ihnen schreiben, wenn wir das Buch wirklich beendet haben.

Sie sollten sich durch fremde Bücher die Freude am eignen Fabulieren nicht verderben lassen. Auch nicht durch den Gedanken an den Erfolg. Der kümmert mich z. B. »den Kuckuck!« Und ich glaube, dies ist die richtige Stimmung für Leute, die die Literatur nicht zum Brotstudium machen müssen. Übrigens haben Sie, wie mir scheint, übersehen, daß weder Westend noch Grunewald, noch Potsdam meines Wissens zu Berlin W. gehört. Ich habe dies wohl im Auge gehabt, als ich in meinem letzten Brief gegen der Reichshauptstadt westliches Viertel loszog.

Mit den besten Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth.


Ulm, 12. April 1903.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Schon früher hätte ich Ihnen die Versicherung gegeben, daß mir die Nichtanzeige der Postsendung bei Ihrem vielbewegten Leben ganz natürlich schien, und ich nur eine persönliche kleine Sorge los sein wollte – Zuvor aber hätte ich gerne abgewartet, bis wir aus »Jerusalem« zurück wären, um Selma Lagerlöf gleichzeitig und sehr ernstlich um Verzeihung zu bitten. Unser Vorlesen geht aber außerordentlich langsam vonstatten – alle Abende 1/2–3/4 Stunden – und so wurden wir mit dem Buch erst vor ein paar Tagen fertig.

Meine Bemerkungen über den zweiten Band waren die Folgen der ersten Kapitel – namentlich des Gesprächs zwischen der Grabeskirche und der Omarmoschee, das eine verkünstelte und unnatürliche, und überdies recht billige Allegorie ist. Auch später ist manches in dem Buch, das besser im Baedeker nachzulesen ist. Sobald sie aber zu ihren eignen Leuten zurückkehrt, wird sie wieder ganz vortrefflich. Ich habe leider keine Zeit, einen längeren Brief zu schreiben, aber einzelne Partien des Buchs verdienten mehr als das. Zwei Dinge halte ich für das Höchste, das ein derartiges Werk leisten kann; wenn es uns eine verhältnismäßig fremde Umgebung so schildert, daß wir von der Wahrheit der Schilderung durchdrungen sind und wenn uns eine »gut ausgehende« Geschichte – das heißt eine, die zur glücklichen Vereinigung der hierzu prädestinierten Paare führt – die Tränen in die Augen treibt. Beides hat Selma Lagerlöf fertig gebracht. In jener eigentümlichen Mischung von wahrer Frömmigkeit, religiöser Hysterie und der guten, grundehrlichen Natur ihrer Menschen liegt eine rührende Tragik, die uns zivilisierte Menschen der besseren Gattung wie ein verlorenes Paradies anheimelt.

Leider – leider habe ich die Zeitungen mit Ihres Herrn Gemahls vortrefflicher Schilderung seiner Jungfraufahrt verlegt oder verloren. So geht es mit Zeitungen, diesen Eintagsfliegen, und mit dem, was sie uns bringen. Meist ist dies ein Glück. Manchmal aber ist's doch auch recht ärgerlich, wie Figura zeigt.

Weder Titel noch Buch von Jentsch waren mir bekannt. Das letztere will ich mir aber verschaffen. Meinen Titel habe ich schon vor einigen Wochen ein klein wenig abgeändert, in: »Im Strom unsrer Zeit.« Daß er trotzdem an Jentsch anklingt, ist mir gleichgültig. Man kann kaum einen Titel wählen, der nicht an einen andern anklingt. Und die Leute können dann mein Buch »Strom« heißen, was noch kürzer ist, als »Wandlungen«.

Ich schicke den Brief nach Potsdam, obgleich mir zweifelhaft erscheint, daß Sie bei diesem Wetter schon dort sind. Doch wird er Sie auch so zu finden wissen.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth.


An Ulrich Leo.Ulrich Leo, Enkel von Sebastian Hensel, hatte an Eyth einen begeisterten Brief über »Den Kampf um die Cheopspyramide« geschrieben.

Berlin, 24. IV. 03.

Mein lieber Ulrich!

Wenn Sie einmal selbst Bücher schreiben, wovor ich Sie jedoch warnen möchte, denn es macht viel unnötige Mühe und Arbeit, so werden Sie finden, daß es ein großes Vergnügen ist, wenn andre Leute an Ihren Büchern eine unerwartete Freude haben. Genau so geht es mir auch; und deshalb hat mich Ihr Brief ganz besonders gefreut. Aber auch aus andern Gründen: Daß Sie das gelehrteste Kapitel in dem Buch studiert haben, ist sehr ehrenvoll für Sie und für das Kapitel. Ein Russe aus Riga hat alles nachgerechnet und gefunden, daß es stimmt. Nur an einem Punkt wollte es nicht ganz klappen. Ich konnte ihn aber beruhigen. Die Sache selbst war doch richtig, nur etwas zu fein für grobe Zahlen.

Wie aber die alten Ägypter das alles herausfanden, weiß ich auch nicht. Die meisten glauben, daß es doch nur ein Spiel des Zufalls sei. Ich selbst denke so. Man kommt auf diese Weise am besten aus der Verlegenheit. Darüber wollen wir uns einmal unterhalten, wenn wir uns kennen lernen.

Ja, die ganze ägyptische Wirtschaft des damaligen Vizekönigs hat ein trauriges Ende genommen. Er selbst wurde verbannt und ist in Neapel gestorben. Halim Pascha ist nie Vizekönig geworden. Er hat unter den Verhältnissen, ich denke unschuldig, mit leiden müssen. Die Engländer wollten einen so energischen Mann nicht zur Herrschaft kommen lassen, denn sie waren längst entschlossen, Ägypten selbst zu behalten, und für das Land war dies schließlich das beste. Für viele Ägypter war es doch eine herbe Sache, und namentlich Halim, den ich sehr gern gehabt habe, dauerte mich. Ich besuchte ihn später einmal in Konstantinopel, wo er sich einen Palast gebaut hatte. Er ist jetzt auch gestorben.

Nun aber zum Schluß! Grüßen Sie mir Ihre lieben Eltern vielmal und seien Sie es selbst herzlich von

Ihrem unbekannten Freund

Max Eyth


Ulm, 23. V. 03.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Diesmal ist es an mir, Sie um Entschuldigung zu bitten und Entschuldigungsgründe zusammenzusuchen. Ich habe hierfür allerdings nicht weit zu gehen; ob sie aber gewichtig genug sind, ist eine andre Frage.

Die Hauptursache meines langen Schweigens ist einfach die, daß es mir wieder ganz wohl ist. Folge: ich arbeite wie ein Maurer: so und so viele Backsteine täglich, nicht einen mehr noch einen weniger. Das Maß aber, das ich mir selbst vorgeschrieben habe, füllt meinen Tag so, daß mir fast nichts mehr übrig bleibt, und das wird voraussichtlich bis gegen September erst ein Ende nehmen.

Dagegen läßt sich nun alles mögliche sagen, vor allem, daß es keine Entschuldigung ist. Aber was wollen Sie machen? Was will namentlich ich machen, nachdem mir klar geworden, daß ich in andrer Weise in Ulm nicht leben kann? – Haben Sie Geduld mit mir, und, wenn Ihnen der Zustand bemitleidenswert erscheint, Mitleid. Obgleich das Letztere nicht nötig ist, denn es war mir durch mein ganzes Leben nicht wohl, wenn ich es besser hatte.

Zu Details übergehend: Das Manuskript des ersten Bandes von »Im Strom unsrer Zeit« ist bereits in Heidelberg. Heute erhielt ich die ersten Korrekturbogen. Den zweiten Band hoffe ich Ende August fertig zu bekommen. Habe ich Ihnen geschrieben, daß die Bände nach meinen Skizzen illustriert werden? Wie es Ihren lieben Vater gefreut haben würde, mir hierbei helfen zu können! Jeder Band erhält 36 Bilder: 4 farbige und 32 in Autotypie. Die Sachen für den ersten Band sind bereits vervielfältigt und ich glaube, nicht schlecht ausgefallen, soweit dies die Originale zuließen. Natürlich macht auch dies mir ziemlich viel weitere Arbeit. – 72 Aquarelle herausputzen ist kein Kinderspiel – aber auch viel Spaß.

In Freiburg war ich vor vierzehn Tagen. Der dortige Arzt hat mich gründlichst untersucht, und mich mit dem Trost heimgeschickt: meine Augen seien kerngesund, nur übermüdet. Ich soll sie nur schonen. Der dumme Kerl! Das ist's ja eben, was ich nicht will. – Übrigens bin ich doch recht zufrieden mit diesem Ergebnis. –

Besten Dank für die Ratschläge bezüglich lesenswerter Bücher, die ich von Ihnen ganz besonders gern annehme und befolge. Aber leihen Sie mir nichts. Ich halte mich schon seit Jahren an den Grundsatz, daß man die Bücher, die man liest, kaufen sollte. Man ist das den armen Schriftstellern eigentlich schuldig, vorausgesetzt, daß man es kann, und es ist eines der billigsten Vergnügen.

Ihre Idylle am Krankenbett Ihres Felix hat mich förmlich gerührt und erhöht meine Reue, Ihnen nicht früher geschrieben zu haben und auch diesmal kürzer zu sein, als ich möchte und sollte. Aber es ist doch wenigstens wieder ein Lebenszeichen und beruhigt – mich.

Felix und Roland und die Mädchen und vor allem Sie herzlich grüßend

Ihr ergebener

Eyth

(Die Aprilnummer der »Wartburgstimmen« habe ich noch nicht gesehen, weiß auch nicht, was von mir drin steht)


Ulm, 13. Sept. 1903.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Ihre freundlichen Zeilen haben mich tief gerührt, Aber danken Sie Ihrem gütigen Geschick, daß ich gegen alle Rührungen grundsätzlich steinhart bin, denn sie sind meistens nicht viel wert, und daß auch andre Gründe vorliegen, auf Ihre so gut gemeinte, aber – für Sie – allzu gefährliche Aufforderung mit einem schüchternen Nein zu antworten.

Winters Buchdrucker, ein Mann in Naumburg a. S., arbeitet nämlich mit einer wahrhaft affenartigen Behendigkeit. Ich erhalte einen Druckbogen pro Tag, den er möglichst umgehend wieder zurückhaben möchte und auch erhält. Auf diese Weise sind wir schon über die Hälfte des zweiten Bandes hinaus – gerade mit ihrem Lieblingskapitel, der Märchenschlacht, fertig.

Sie werden hoffentlich zugeben, daß es sich unter diesen Umständen kaum lohnt, Sie mit den jämmerlichen Resten zu quälen. Und eine Qual wäre es gewesen – jeden Tag einen Bogen – zwei bis drei Stunden, wenn man die Sache ernst nimmt!

Danken Sie Ihrem Geschick, wie ich Ihnen danke.

Ohne stehengebliebene Druckfehler, die Sie wahrscheinlich gefunden hätten, ist es allerdings nicht abgegangen. Einer, gleich im ersten Bogen, bekümmert mich tief. Dort wird dem wissensgierigen Publikum mitgeteilt, daß die ägyptischen Schaduffs »vom Hund« statt »von Hand« in Bewegung gesetzt werden. Auch gerate ich mit dem unglückseligen Puttkamer mehrfach in Konflikt. Der Kerl ist aber auch halbverrückt und wird ja zum Glück in kurzem abgeschafft sein.

Anfangs Oktober – jedenfalls vom 7. an, – bin ich einige Tage in Berlin und hoffe Sie und die lieben Ihrigen zu sehen.

Indessen herzlich grüßend

Ihr stets ergebener

Eyth


Ulm, 16. Nov. 1903.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Sie wissen, daß es mit unserm häuslichen Vorlesen höchst bedächtig geht: eine knappe Abendstunde täglich. Für mehr habe ich keine Zeit und das gibt nicht einmal sieben Stunden die Woche. Denn nach Ulmer Sitte müssen ein paar Stunden unerbittlich der Wirtshäuslichkeit gewidmet werden. Daß ich diese konsequent auf zwei wöchentlich beschränke, erregte anfänglich das ungläubige Staunen und in der Folge eine chronische Entrüstung unter den Eingeborenen. So kam es, daß wir erst gestern mit dem Buch Ihres lieben Vaters fertig wurden, dem wir für viele, wahrhaft genußreiche Stunden zu danken haben.

Hundertmal habe ich in diesen Tagen gedacht: wie schade, wie jammerschade, daß ich den reichen Inhalt desselben erst heute kennen lerne. Wieviel Anknüpfungspunkte hätte er mir verschafft, wenn wir – nein, ich – nicht achtlos ein Jahrzehnt lang daran vorübergegangen wäre. Noch einmal, nein; nicht allein ich, er auch, in unsern Beziehungen zueinander. Es ist nun einmal so: in älteren Jahren wird man stiller und verschlossener und braucht eine unglaubliche Zeit, bis die Rinde schmilzt, die das äußere Leben um unser inneres legt; selbst solchen gegenüber, bei denen wir unter einem ähnlichen Panzer eines Freundes Herz ahnen. So ging es uns; und doppelt dankbar bin ich Ihnen und Ihrem Bruder, daß durch dieses Buch wenigstens nach einer Seite hin ein liebes, wenn auch wehmütiges Licht in das Halbdunkel unsrer Beziehungen gefallen ist.

Daß das Buch für diejenigen, die Ihren Herrn Vater oder auch nur Ihren Familien- und Freundeskreis kennen gelernt haben, eine liebe und schätzenswerte Gabe ist, brauche ich nicht zu sagen. Auch der Allgemeinheit gegenüber ist es in seiner Schlichtheit und Ehrlichkeit, in seiner sachlichen Vielseitigkeit und geistigen Beweglichkeit ein vortreffliches Bild eines Mannes und seiner Zeit. Als solches ist es der Anerkennung sicher. Ob das nach Außerordentlichem und Aufregendem haschende Lesepublikum unsrer Tage es beachten wird, wie es verdient, beachtet zu werden, muß sich zeigen. Ich gestehe, ich habe hierüber meine Zweifel, die mir aber insofern selbst wieder zweifelhaft werden, als deutlich fühlbar gegenwärtig ein Zug durch die Welt geht, der sich von dem oberflächlichen Sensationsbedürfnis gelangweilt abwendet und ernstere und ruhigere Genüsse sucht. Und diese bietet ein Leben, wie es Ihrem lieben Vater zu führen vergönnt war und wie er es uns in so liebenswürdiger Weise zu schildern wußte.

Sie sprechen den Wunsch aus, ich möchte, wenn möglich, landwirtschaftliche Zeitungen auf das Buch aufmerksam machen. Diese Blätter – hunderte existieren in Deutschland – sind im allgemeinen so fürchterlich trockene Fach- und Nutzblätter, daß sie kaum Raum für etwas dieser Art haben. Ich kenne tatsächlich nur eines, die »Deutsche Landwirtschaftliche Presse«, die ein Feuilleton führt, das anständig genug ist, einen Aufsatz über Ihres lieben Vaters Buch zu verdienen. Den will ich gern und sofort schreiben. Die Zeitung ist die erste und vornehmste ihrer Art in Deutschland und gerade in denjenigen Kreisen viel gelesen, die allein das Buch kaufen dürften. Das ist wenigstens ein Trost. Hoffentlich nimmt die Redaktion den Artikel. Die Schwierigkeit, namentlich für alle andern landwirtschaftlichen Blätter, liegt darin, daß die landwirtschaftlichen Erlebnisse Ihres lieben Vaters, seine Bestrebungen und Erfolge einer Zeit und Verhältnissen angehören, die heute weit hinter uns liegen, und daß die vielen und großen Interessen, die sich gegenwärtig auf diesem Gebiete regen, damals noch kaum berührt wurden. An diese ältere Zeit mit Vergnügen zurückzudenken, dazu gehört ein geschichtlicher Sinn, den die meisten Redaktionen dieser Gattung nicht besitzen und ihrem Leserkreis – mit Recht – nicht zutrauen. Nous verrons.

Ich habe einige Tage Zeit, mich dieser Arbeit con amore hinzugeben, ehe ich mich ernsthaft an den dritten Band meines »Stroms« mache. Gestern wurde ich mit dem letzten Korrekturbogen des zweiten Bandes fertig. Der erste fährt bereits seit einigen Wochen in der Welt herum. Ich warte nur auf den zweiten, um Ihnen, hoffentlich Anfang Dezember, beide zu Füßen legen zu können. Bis dahin haben Sie den verschneiten Bergen Steiermarks wohl Lebewohl gesagt, wenn dies nicht bereits geschehen ist.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth


Ulm, 29. Nov. 1903.

Mein lieber Herr du Bois!

Zunächst meine herzlichen Glückwünsche, daß Sie wieder im Lande der Lebendigen angelangt sind. Es ist nicht jedermanns Sache, dem heiligen Athos allzunah zu kommen, der auf mich wirkt, wie der Magnetberg auf einen alten, rostigen Schiffsnagel (siehe Odyssee, Buch X, Vers V). Sie können sich deshalb auch vorstellen, wie sehr ich Sie beneidet habe, so daß ich eine weitere Ursache für – diesmal an mich zu richtende – Glückwünsche darin sehe, daß ich nunmehr aufhören kann, Sie mit scheelen Augen anzusehen.

Indessen nicht ganz. Ihr Vorschlag, für ewige Zeiten Ihr Schuldner bleiben zu sollen geht selbst über die spitzbübische Grausamkeit des »ollen ehrlichen Seemanns« oder wie der Hauptheld des berühmten hannoverischen Wucherprozesses hieß. Der Bonbonsvorschlag ist menschlicher und unvergleichlich angenehmer. Wenn mir nichts Gescheiteres einfällt, mich mit dem Schicksal zu versöhnen – was nicht wahrscheinlich –, werde ich mir denselben gierig zu eigen machen.

Mit herzlichen Grützen an Ihr ganzes Haus

Ihr sehr ergebener

Eyth


Ulm, 27. Dez. 1903.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Noch immer bin ich Ihnen einen langen Brief (vom 7. Dezember) schuldig, obgleich vieles andre und selbst kleine Briefchen und große Sendungen dazwischen liegen. Der Briefwirbel der Weihnachtszeit ist jetzt vorüber und so kann ich auch in dieser Beziehung etwas ernster zu Werk gehen und alte Sünden bekennen, bereuen und gutzumachen suchen.

Sie finden doch immer etwas für andrer Leute Weihnachtstisch, wenigstens für den meinen! Es ist ein für mich hochinteressantes Buch, das Sie mir geschickt haben.Viertausend Jahre Pionierarbeit in den exakten Wissenschaften. Ist der Verfasser ein Bruder Ihres Gatten und was treibt er sonst im Leben? Es steckt eine gewaltige Arbeit zwischen den Deckeln dieses Buchs und insofern keine allzu angenehme, als die Verfasser in Hunderten von V. Dannstädter und R. du Bois-Reymond. Berlin-Stargardt. Fällen fühlen mußten, daß die positiven Angaben, die sie zu machen gezwungen waren, auf überaus schwankendem Boden stehen. Aber es ist in hohem Grade dankenswert, daß jemand einen ernsten Anfang gemacht hat, dieses merkwürdige und traurig vernachlässigte Feld der Geschichte zu kultivieren. – Mich bestärkt das Buch wohltuend in dem Gefühl, wie recht ich getan habe, meine Geschichte der Technik für »Weltall und Menschheit« über Bord zu werfen oder vielmehr, wie gütig der Himmel war, mich darüber fast verrückt werden zu lassen. Das ist eine Aufgabe, die ein Menschenleben erfordert, wenn sie auch nur annähernd gelöst werden soll. Wenn nur der unglückselige KrämerDer Herausgeber von »Weltall und Menschheit« in seinen Annoncen des »Weltalls« trotz inständigen Bittens meinen Namen nicht immer noch mitschleppen wollte! – Alles, was mir aus jenen herben Monaten einer intellektuellen Verirrung übrige geblieben ist, habe ich vor ein paar Wochen mittels eines Vortrags »Zur Philosophie des Erfindens« im Handelsgeographischen Verein zu Stuttgart mir von der Seele gewälzt. – Nun also, und endlich, herzlichen Dank für das schöne Buch. Möge mir bei nächster Gelegenheit etwas ähnlich Passendes für Sie einfallen.

Mein kleiner Aufsatz über »Sebastin Hensel« hat, wie ich gestern aus Berlin hörte, in landwirtschaftlichen Kreisen lebhaft interessiert. Hoffentlich wirkt er auch. Aber selbst gebildete Bauern sind keine großen Bücherkonsumenten, wenn die Sachen nicht direkt Anweisungen zur Befruchtung ihrer Felder enthalten. Geistiger Kunstdünger, das geht zur Not. Übrigens können Sie sich ja nicht beklagen, wenn Ihr Verleger jetzt schon die zweite Auftage druckt. Wenn nur endlich einmal der Unfug mit den »Auflagen« geregelt würde! Die Deutsche Verlags-Anstalt (Pflug und Schraubstock) wie manche andre heißt jedes neue Tausend eine neue Auflage. Winter druckte von der »Cheopspyramide« 3000 und vom »Strom« 4000 Exemplare und spricht von einer neuen Auflage erst, wenn diese vergriffen sind. Kein Mensch weiß, wie er dran ist, wenn er von den Auflagen eines Buches hört. Übrigens ist es ziemlich gleichgültig, solange man kein Frenssen ist.

Was Sie über mein Verhältnis zu Ihrem lieben Vater sagen, ist ganz zutreffend. Das Mißliche war, daß er durch mein Wanderbuch mich und meine Verhältnisse kannte, ich aber durch das Fehlen des »Sebastian Hensel« von ihm nichts wußte. So kam das Gespräch beständig auf mich, und ich konnte, wenn ich nicht förmlich als »Ausfrager« auftreten wollte, nichts aus ihm herausbekommen. Diese Ungleichheit hinderte ein näheres zutrauliches Verhältnis, das wir beide instinktiv suchten, ohne es ganz zu finden. Und dann wirkte jenes unüberbrückbare Etwas, das zwischen Nord und Süd liegt; das wir alle verwünschen, aber nicht aus der Welt schaffen können. Es liegt mehr an uns als an Ihnen. Daß wir Süddeutschen mitteilsamer seien, ist eine akustische Täuschung. Wir sind Schnecken, die sich bei jeder Berührung sinnend in ihr Häuschen verkriechen. Sie sind Schmetterlinge, die fröhlich um uns herumflattern, und uns mit ihrer schillernden Behendigkeit ärgern. Natürlich mit Ausnahmen, mit Ausnahmen ganzer Provinzen.

Mit herzlichem Bedauern vernahm ich, daß Sie Ihre Weihnachtszeit im Krankenzimmer verbringen müssen. Sie haben in der Tat keinen kleinen Teil an der Last des Lebens zu tragen. Ob Sie sich dies erschweren oder erleichtern durch jene Zweiteilung der Interessen, die in Ihrer Natur liegt, ist eine ernste Frage. Erleichtern möchte ich sagen, solange die körperlichen Kräfte ausreichen. Und hoffe es deshalb.

Bei uns ist die Weihnachtszeit recht erträglich vorübergegangen. Körperlich ist meine Mutter gegenwärtig wohler, geistig heiterer als gewöhnlich, wenn auch fast alles Verständnis für ihre Umgebung geschwunden ist. Merkwürdig ist, daß ihre religiösen Ideen verhältnismäßig klar und überaus rege bleiben. Es ist oft wahrhaft rührend, dieses vertrauensvolle Anlehnen an eine Macht, die keine Vernunft zu begreifen vermag. Aber es geht eine Kraft von ihr aus, darüber bin ich mir völlig klar, die nicht unter dem Mayerschen Gesetz steht.

Mir geht es ganz gut. Ich stecke tief in den Vorbereitungen und den ersten Kapiteln des dritten Bandes des »Stroms« und bin begierig, was daraus wird. Er hat eigentümlich Klippen und Sandbänke, auf denen ich manchmal bedenklich sitzen bleibe, wenn nicht ganz scheitere. Aber es muß einmal durchgefahren werden. Noch freue ich mich bereits auf das Folgende, das lustiger werden soll.

Ich schließe mit dem herzlichen Wunsch, daß diese Zeilen Sie, die Kinder und das ganze Haus wieder wohl und munter antreffen mögen. Auch will ich hiermit eine neue Lebensregel in Anwendung bringen, die ich kürzlich erfand und die gegen das unnötige deutsche Schreiberwesen gerichtet ist: Jedem Brief vom 15. Dezember an die üblichen Neujahrswünsche beizufügen. Also: ich wünsche Ihnen und den lieben Ihrigen, Roländchen besonders bedenkend, mit aller Macht einen fröhlichen Jahresschluß, einen hoffnungsvollen Jahresanfang und die Erfüllung aller Hoffnungen, die zu Ihrem Glück dienen.

Ihr stets ergebener

Eyth


Ulm, den 10. Februar 1904.

Mein lieber Roland!

Dein Briefchen hat mich sehr gefreut. Hättest Du mir nicht geschrieben, so hätte ich schwerlich erfahren, wie es mit dem Eis auf der Havel steht, ja nicht einmal, daß es sehr nett gewesen ist, als Ihr krank waret und in Ruhe mit Papierpfeilen schießen konntet.

Nun haben die Japaner und die Russen auch angefangen zu schießen, aber nicht mit Papierpfeilen. Vielleicht sind sie auch krank im Kopf. Mit wem hältst Du's? Die Russen sind nicht viel wert und die Japaner auch nicht; aber mit dem einen oder mit dem andern muß man es doch halten, damit die Sache nicht zu langweilig wird. Wenn ich irgendwo eine russische und eine japanische Flotte finde, werde ich sie Dir mitbringen, denn es gibt wahrscheinlich einen Wasserkrieg.

Grüße jedermann von mir recht herzlich und sei selbst vielmal gegrüßt von Deinem Freund

Max Eyth


Berlin, 14. Februar 1904.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Fügen wir uns in das Unvermeidliche! Wenn Sie die Liste der 53 Sitzungen sähen, die sich in der laufenden Woche zusammendrängen und von denen ich wenigstens ein Drittel persönlich mitmachen sollte und ein Viertel mitmachen muß, würden Sie, von Mitleid erschüttert, ohne weiteres zugeben, daß sich ein Ausflug nach Potsdam mit dem Jammer eines solchen Daseins nicht mehr vereinigen läßt.

Auch dieses Briefchen leidet unter dem Drang der Verhältnisse.

Als Ersatz will ich Ihnen von Ulm aus etliche Besprechungen meines »Stroms« schicken, die nachgerade recht warm zu werden beginnen, obgleich ich in meiner habituellen Faulheit und Weltverachtung keinen Finger rühre, sie hervorzurufen.

Für Ihre bevorstehenden Karnevalsfreuden wünsche ich Ihnen etwas Kölner Luft.

Mit allseitigen herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

Eyth


Ulm, 31. Mz. 1904.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Nur einen herzlichen Gruß und besten Dank für das hübsche Gedicht, das Sie mir zusandten. Ich vermute wenigstens, daß Sie es mir schickten. Kleists Grab ist ja, wie es scheint, infolge des allgemeinen Sturms gerettet, der auch Sie erfaßte.

Sie müssen mir heut die Kürze dieser Zeilen verzeihen. Ich stecke tief in dem dritten Band meines »Stroms« und kann mich, wie gewöhnlich, wenn es gegen das Ende einer derartigen Arbeit geht, nicht bremsen, bis ich entweder auf der Nase liege oder fertig bin.

Ein Zettel kam mir vor einigen Tagen wieder in die Hand, den ich beilege. Er soll noch einmal betonen, weshalb ich dies letztemal nicht nach Potsdam kommen konnte.

Wie kann man mit einer solchen Liste von Sitzungen überhaupt noch Mensch bleiben?

Sie wünschten vor einiger Zeit meinen Vortrag »Zur Philosophie des Erfindens« zu erhalten. Der Handelsgeographische Verein zu Stuttgart, wo er gehalten wurde, druckt seine Sachen, wie es scheint, erst am Schluß des Wintersemesters und hat noch nicht begonnen. – Gut Ding braucht lang Weile. Mit der Zeit werden wir auch diese Druckerei überleben.

In der Hoffnung, daß alles bei Ihnen wohl und munter ist, und herzlichen Grüßen an das ganze Haus

Ihr stets ergebener

Eyth


Ulm, 22. Juli 1904.

Geehrteste Frau du Bois-Reymond!

Ein Briefchen von Ihrem Herrn Gemahl erinnerte mich gestern besonders lebhaft daran, daß eine ungewöhnlich lange Zeit verstrichen ist, seitdem wir zum letztenmal Lebenszeichen ausgetauscht haben. Gleichzeitig gingen gestern Manuskript und Bilder des dritten Bandes meines »Stroms« an Winter ab, so daß ich Zeit habe, ein wenig aufzuräumen und aufzuatmen. Wie gewöhnlich war ich auch diesmal gegen den Abschluß einer größeren Arbeit dermaßen im Bann derselben verstrickt, daß alles andre darunter jammervoll Not litt; in erster Linie eine immer zeitraubender werdende Korrespondenz. So benutzte ich den ersten freien Atemzug, um auch Ihnen gegenüber eine alte Schuld abzutragen.

Wo sind Sie? Wie geht es Ihnen? Was macht die Schar der Kleinen, für die Sie zu sorgen haben?

Ich hätte mich hierüber allerdings selbst etwas mehr unterrichten können, denn ich kam in der ersten Hälfte des Juni auf dem Weg von und nach Danzig zweimal durch Berlin, das einemal mit einem Aufenthalt von zwei Stunden, das andremal von zwei Tagen. Den ersten verzehrte ein Frühstück, den zweiten die Kunstausstellung, für die ich einen ähnlichen Heißhunger empfand, ohne eine ähnliche Befriedigung zu finden. Nach Potsdam reichte es jedoch in beiden Fällen nicht, wofür ich nur den Hunger als Entschuldigung anführen kann.

Alles andre war seit Monaten intensive Arbeit, einschließlich eines Vortrags zu Frankfurt a. M. über »Poesie und Technik« im Verein deutscher Ingenieure, in dem ich meinen alten Berufsgenossen vielleicht mehr Komplimente machte als recht und billig war, und die übrige Welt entsprechend ärgerte.

Jetzt tritt eine kleine Pause ein. Anfangs August gehe ich mit drei Damen!!! nach St. Anton am Arlberg, wo ich drei Wochen lang zu bummeln hoffe. Bezüglich der Damen bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig. Es sind meine zwei jüngsten Nichten und Fräulein Heintzeler. Letztere wird auch in Zukunft meine Haushaltung führen. Ich habe mich nämlich entschlossen, vorläufig in Ulm zu bleiben, und habe vom 1. Oktober an eine kleine Villa, auch auf meinem Athos, etwas mehr gegen Osten hin, gemietet. Das ruhige Leben in Ulm behagt mir und manche Pläne, die mir durch den Kopf gehen, können nur unter solchen Verhältnissen ausreifen. Der wirkliche Athos ist es zwar noch immer nicht, doch komme ich ihm schon um 300 Meter näher, und hoffe ihn im kommenden Frühjahr von Ägypten aus zu besuchen. Dann wird sich das weitere wohl finden. –

In der Hoffnung, bald und Gutes von Ihnen zu hören Ihr stets ergebener

M. Eyth.


Ulm, 18. Dez. 1904.

Lieber Roland!

Es freut mich sehr zu hören, daß Du Dich bemühst, ein guter Soldat zu werden. Man weiß nie, wo und wann man dies brauchen kann. Ich schicke Dir deshalb mit Vergnügen die gewünschte Kanone. Und weil, wie Du wohl weißt, die Japaner und Russen furchtbar aufeinander los schießen, wird es gut sein, wenn auch Du Dich an eine etwas größere Kanone gewöhnst; wofür ich gesorgt habe.

Da aber Deine liebe Mama noch immer nicht sehr kriegslustig ist, mußt Du Dich vorläufig etwas mäßigen. Wenn es einmal ernst werden sollte, wird sie Dir schon selbst laden helfen; das wollen wir beide wenigstens hoffen.

Grüße sie und Deinen lieben Papa und Deine Geschwister vielmals von mir; sage ihr, daß ich ihr schreiben werde, sobald ich Zeit habe, daß es mir aber mit dem Zeithaben gegenwärtig etwas schlecht geht; und Deinem lieben Vater kannst Du etwas sagen, das Du selbst noch nicht verstehst, nämlich: daß es doch rechte Winkel in der Welt gegeben habe, ehe es Menschen gab, die sie erfanden; nämlich bei den Oktaedern und andern Kristallen. Dagegen habe es seine Richtigkeit mit den Drehachsen und sei sehr merkwürdig. Nun lebe wohl! und sei herzlich gegrüßt von Deinem Freund

Max Eyth.


Ulm, 27. Dez. 1904.

Hochverehrte Frau du Bois-Reymond!

Etwas verfrüht, denn so genau brauchen wir es ja nicht zu nehmen – Ihnen, Ihrem lieben Mann und dem ganzen Haus meine herzlichsten Glückwünsche zum Neuen Jahr! Möge es Ihnen eine fröhlichere Stimmung bringen als die, in der sichtlich die letzten zwei kurzen Mitteilungen geschrieben wurden, die ich von Ihnen erhielt. So viel, fast alles im Menschenleben hängt von Stimmungen ab, die nicht das Recht haben, uns zu meistern. Wir sollten es nicht dulden. Das Gefühl, daß all unser Tun kaum der Mühe wert ist, kenne ich nur zu gut, und das schlimmste ist, es ist etwas Wahres dran. Doch wenn man sich einmal drein gefunden und in den Gedanken ergeben hat, daß all unser Schaffen und Streben die Bewegung eines Tröpfchens im Meer ist, dann geht es auch so. Es ist deprimierend; gewiß. Allein das Tröpfchen, mit Milliarden multipliziert, hat doch auch seine Aufgabe, sein Recht und seine Pflicht. Das will freilich Nietzsche nicht einsehen, und deshalb bleibt es so hoffnungslos, in der Richtung, die er eingeschlagen hat, trotz allem Feuerwerk, das er losließ, auch nur eine Spur lebendiger Früchte zu entdecken.

Doch was geht uns Nietzsche an! Schreiben Sie mir, wenn Sie Zeit und Lust haben, etwas mehr von dem, was Sie bekümmert. Sonst kann man ja nicht einmal vernünftigerweise Mitleid haben.

Mir geht es wieder leidlich, oder eigentlich ganz gut. Da das erste Christfest nach dem Tode meiner lieben Mutter etwas allzu still und wehmütig zu werden drohte, habe ich mir mit Hilfe der Schulbehörden drei kleine Buben und dito Mädchen eingeladen – die ärmsten und dümmsten war meine einzige Bedingung – und eine glänzende Bescheerung veranstaltet. Es war ein fröhlicher Erfolg, obgleich das kleine Korps meinen Anforderungen bezüglich der Dummheit keineswegs entsprach. Ich fürchte, die Lehrer, denen meine Idee zu sehr gegen den Strich ging, haben in dieser Beziehung gemogelt.

Für Ihr gegenwärtiges Lieblingsbuch meinen herzlichen Dank! Mehr darüber, wenn ich es einmal gelesen habe, wozu ich allerdings erst in zwei bis drei Wochen kommen werde, da mir ein andres halbgelesenes Buch im Wege liegt. Aber ich weiß, es wird mir gefallen, denn Sie haben es nur einmal nicht ganz erraten. Damals mit dem Vagabundenbuch. Ich lasse mir Photographien gefallen, aber es darf nicht die Photographie von Düngerhaufen sein, wenn ich nicht gerade einen Vortrag in der Düngerabteilung der D. L. G. mitgenieße.

Doch genug für heute: genug für dieses Jahr. Es hat auch mir manches Ernste gebracht und doch möchte ich nicht im Unfrieden von ihm scheiden. Verzeihen Sie ihm auch zum Schluß und lassen Sie uns das neue Jahr mit den alten guten Wünschen begrüßen.

Ihr stets ergebener

M. Eyth.


Ulm, 5. Febr. 1905.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Sie haben lange auf Nachrichten von dem Eindruck warten müssen, den Ihre liebenswürdige Weihnachtsgabe auf mich gemacht hat. Ich selbst bin mir erst seit etlichen Tagen darüber klar geworden, aus dem guten Grund, daß wir mit der Lektüre des Buches soeben erst zu Ende kamen. Der Puls der alten Reichsstadt Ulm schlägt noch immer höchst bedächtig. Dies übt wohl auch auf mich zugewanderten Einwohner seinen beruhigenden Einfluß aus.

Peter Camenzind paßt in diese Umgebung und hat mir gut getan und wohlgefallen. Als Geschichtchen hat das Buch natürlich den großen Fehler, daß es kein Geschichtchen ist. Als Charakterschilderung hat es viele ganz vortreffliche Partien, wenn man auch über den Wert des geschilderten Charakters sehr verschiedener Ansicht sein kann. Das Wohltuendste ist die absolute Ehrlichkeit der Darstellung. Aber diese Ehrlichkeit enthüllt uns auch ein Bild, in dem viel wahrhaft Gutes mit allzuviel Unbrauchbarem im Kampfe steht, so daß schließlich das negative Ergebnis eines guten, aber fast zwecklosen Lebens vor uns liegt, und wir etwas verwirrt fragen: Darf Gutes zwecklos sein?

Der Mann hat mit dem Pfund, das ihm Gott gegeben, nicht gewuchert, um in den Worten des alten Gleichnisses zu reden. Auch der Herr wird zu ihm sprechen: Du unnützer, wenn auch liebenswürdiger Knecht, was fange ich mit Dir an? Allzu hart kann ich gegen dich nicht sein. Du magst für den Rest der gegenwärtigen Ewigkeit Wolken schieben!

Doch ich bin selbst vielleicht zu sehr Utilitarier, um ein Buch von dieser Passivität zu würdigen, wie es gewürdigt zu werden verdient. Es muß auch solche Käuze geben. Und wenn sie schließlich mit rührender Gutmütigkeit einsehen, wohin sie gehören: auf das zerfallene Schindeldach ihrer väterlichen Hütte – kann man ihnen zürnen?

Das alles hindert nicht daran, daß das Buch als Charakterschilderung ganz vortrefflich ist. Nur den Übergang vom schwermütigen, passiven Sonderling, der seinen Trost allzu häufig in der Flasche sucht und findet, zum zufriedenen Märtyrer des aktiven Mitleids finde ich etwas zu rasch und kaum genügend motiviert.

Doch genug von Büchern! Sonnabend früh komme ich nach Berlin und bleibe eine Woche. Schöne Aussichten: vierzig Sitzungen, in denen allen ich allerdings nicht sein könnte, ohne mich zu vierteilen, fünf Abende schon fast belegt; aber ich werde mein möglichstes tun, ein Stündchen nach Potsdam zu kommen.

Mit herzlichen Grüßen an das ganze Haus

Ihr stets ergebener

M. Eyth.


Ulm, 8. Okt. 1905.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Sie wollen nach dem Raben, der sein Ölzweiglein – nicht ganz schriftmäßig – gefunden und zurückgebracht hat, nun auch die Taube sehen. Ich kann nur eine kleine loslassen, denn die Wasser haben sich, auf meiner Seite wenigstens, keineswegs verloren. Und auch Sie klagen, daß die gesellschaftliche Flut über Sie zusammenschlägt, was ich wohl glauben kann. Denn Potsdam liegt nahe genug bei Berlin, um gelegentlich vom Wirbel der Großstadt erfaßt zu werden. Doch glaube ich kaum, daß es Ihnen in der Stille einer alten Reichsstadt wohler wäre. Auch das muß gelernt und geübt sein.

Ich beneide Sie um Ihre griechische Reise, werde aber von Ihrem freundlichen Anerbieten, mir deren Beschreibung mitzuteilen, erst im nächsten Juli Gebrauch machen, um sie mit wirklichem Genuß auf- und einnehmen zu können. Bis dahin stecke ich nämlich so tief in meinem Schneider von Ulm, daß ich mir – nach meiner Art – alles andre vom Leibe halten muß. Selbst dieses Briefchen wäre schwerlich geschrieben worden, wenn ich nicht gestern den ersten Band fertigbekommen hätte und ich mir einen Feiertag erlaubte. Den zweiten Band hoffe ich Ende März abzuschließen. Dann kommen ein paar – ich rechne auf drei – Monate gründlicher Revision, und dann mag er fliegen. Die Sache kostet mich diesmal mehr Zeit und Arbeit, weil, abgesehen von der Schneiderlehre, ziemlich viele Studien nötig waren. Wir haben alle so gründlich vergessen, wie es um 1790 bis 1810 in der Welt aussah. Die Geschichte bringt mir fast ein wirkliches Leben, Freud und Leid die Menge. Ob etwas dabei herauskommt, weiß nur der Himmel. Es fehlt ihr der bunte Hintergrund der Cheopspyramide, sie wird Ihnen und vielen andern deshalb weniger gefallen. Aber ich kann Ihnen und ihnen und mir selbst nicht helfen. –

Übrigens habe ich den ganzen Mai in Rom verlebt und dort herrliche Tage zugebracht. Eine unglaubliche Stadt, wenn man sich, von nichts gestört, einen Monat lang in ihre versunkenen Schätze versenkt. Natürlich ist man nach vier Wochen gerade so weit gekommen, um mit größerem Behagen eigentliche Studien beginnen zu können. Doch hat es auch sein gutes, nicht alles »erschöpfend« behandeln zu können und von einem gedeckten Tisch ohne überladenen Magen aufstehen zu müssen. –

Meine Berliner Freunde haben diesmal unsre Oktobersitzungen in den November verlegt und werden dies in Zukunft wohl immer so machen. Es paßt den Herrn Bauern besser. Ich komme deshalb voraussichtlich erst um den 28. Oktober nach Berlin. Auch ist mein Berliner Aufenthalt diesmal zwischen zwei Hochzeiten eingequetscht, so daß ich nicht weiß, ob es mir möglich sein wird, nach Potsdam zu kommen: der Hauptgrund, weshalb ich mich zu diesem Brief aufgerafft habe. Doch ist's noch drei Wochen bis dorthin, und manches kann sich anders machen. Habe ich Ihnen oder Herrn du Bois einen größeren Aufsatz – »Wort und Werkzeug« – geschickt, den ich schon im Laufe des Frühlings verbrach? Ich weiß es wahrhaftig nicht mehr, und Sie waren während der Zeit vermutlich auf dem Parnaß im wirklichen Hellas.

Mit herzlichen Grüßen an das ganze Haus und dem Wunsch, daß es Ihnen so gut gehen möge wie derzeit mir.

Ihr stets ergebener

M. Eyth.


Ulm, 15. Dez. 1905.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Über das Buch – auch meinen Dank dafür – das nächstemal. Ich stecke so tief in meinem Schneider, der erst zu zwei Drittel fertig ist, daß ich für nichts anders Sinn habe und nur die Verlegenheit empfinde, in die Sie mich versetzen und aus der, wie ich hoffe, wenigstens bis zu einem gewissen Grad der kleine Roland mich retten kann.

Bitte, sagen Sie ihm doch, mir sofort zu schreiben, wie es mit seinem Volk in Waffen stehe, oder ob er – da die Friedens-Berta gegenwärtig solch glänzende Triumphe feiert – mir auf friedlichen Gebieten einen erlösenden Vorschlag zu machen weiß.

Verzeihen Sie, in der Hoffnung auf bessere Zeiten, die Kürze und Hast dieser Zeilen und seien Sie mit dem ganzen Haus herzlich gegrüßt von Ihrem

stets ergebenen

M. Eyth.


Ulm, 27. Jan. 1906.

Lieber Roland!

Für Dein Brieflein danke ich Dir bestens. Es hat mich gefreut, zu hören, daß die Kanonen gut angekommen sind. Wie man sie behandelt, weiß ich selbst nicht, weil die Mobilmachung so rasch erfolgen mußte, daß ich sie nicht genau studieren konnte. Daraus kannst Du wieder sehen, wie gut es ist, wenn man schon einige Wochen vor Weihnachten schreibt, welche Art von Kriegsbedarf im kommenden Jahr notwendig ist. So macht man's auch beim Reichstag, bekommt aber trotzdem nicht immer, was man braucht.

Wenn die Kanonen hinten ein Zündloch haben, so glaube ich, daß man mit wirklichem Pulver daraus schießen kann, nicht aber ohne väterliche Aufsicht. Auch muß das Pulver sehr fein sein und der Kanonier weit weg stehen, damit ihm die Kanone nicht ins Gesicht fliegt. Fehlen die Zündlöcher, so sind es Friedenskanonen und werden Deine Mutter besonders freuen.

Im Februar komme ich nach Berlin und, wenn mir's möglich ist, auch nach Potsdam (in der Woche vom 11. bis 17. Februar), um selbst danach zu sehen. Indessen wünsche ich Dir und all Deinen Geschwistern und Mama und Papa eine gute Eisbahn und Schlittenfahrten und alle möglichen andern Vergnügungen und bleibe Dein lieber Kriegskamerad

M. Eyth.


Ulm, 22. Februar 1906.

Geehrteste Frau du Bois-Reymond!

Herzlichen Dank für das Stückchen Ihres Märchenspiels, das ich in der Tat recht hübsch finde, wenn ich mir auch nicht erlaube, aus einem Bruchstück ein endgültiges Urteil herauszukonstruieren. Es war mir doppelt interessant, weil mir vor kurzer Zeit ein Herr aus Augsburg auch ein Märchenspiel zusandte, das im Kreis seiner Familie zu Ehren des siebzigsten Geburtstags aufgeführt wurde, und die beiden Märchenspiele in bemerkenswerter Weise den Unterschied zwischen Nord und Süd, zwischen Verstand und Güte zur Anschauung bringen.

Einen andern, einen echten alten Junggesellengedanken regten die beiden Dichtungen in mir an. Muß denn alle Poesie, auch die für Kinder oder solche, die es werden wollen, aufs Heiraten hinauslaufen –? Wäre es nicht gut, der Phantasie, selbst der der Mädchen, gelegentlich auch andre Wege zu zeigen? Das war so, als die Grimmschen, das heißt die wahren Volksmärchen, entstanden, und als die Ilias, die Odyssee, die Nibelungen, die wunderbaren Märchen und Sagen des Orients gedichtet wurden. Warum ist es heute anders?

Abgesehen von einer heftigen, aber wie es scheint vorübergehenden Erkältung brachte ich diesmal manche hübsche Erinnerung aus Berlin zurück. Hierzu rechne ich in erster Linie die freundlichen Stunden in Ihrem Hause, obgleich wir uns über Krieg und Frieden ganz energisch zankten. Sie muteten mir schließlich zu, den Dreißigjährigen Krieg und seine Folgen zu verteidigen. Aber kann man nicht vom Besten in dieser Welt zuviel haben? Vielleicht ist die Heftigkeit unsers Kampfes daran schuld, daß ich Ihnen völlig falsche Angaben über die relative Lage von Ulm und Heidenheim machte, die mich schon auf der Rückfahrt nach Berlin mit Beschämung erfüllten. Ulm liegt leider so, daß wenn Sie nicht von München kommen, Sie es nicht auf dem Weg, sondern nur auf einem kurzen Abstecher von Heidenheim her erreichen können.

Es ist aber eine ganz kurze Entfernung, so daß, wenn Sie einen Tag übrig haben, Sie ihn zu keinem passenderen Ausflug benutzen könnten, als nach den Ufern der Donau und den Höhen des Michelsberges. Noch hübscher ließe sich die Sache machen, wenn Sie das Kloster Blaubeuren und den berühmten Blautopf in Ihr Programm aufnehmen wollten, wobei ich mich als kundiger Bergführer aufs dringendste empfehlen möchte.

Indessen mit allseitigen herzlichen Grüßen

Ihr ergebenster

M. Eyth.


Ulm, 21. März 1906.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Das ist schön von Ihnen, daß Sie dem Plan, einen Abstecher von Heidenheim nach Ulm zu machen, nähertreten wollen. Was ich dazu beitragen kann, Ulm und seine Umgebung in das richtige Licht zu stellen, soll mit Freuden geschehen.

Alles übrige bei einem fröhlichen Wiedersehen mündlich.

Auch ich bin mit meinem Schneider seit etlichen Wochen fertig und nur noch mit einer gründlichen Revision des Ganzen beschäftigt, um zu verhindern, daß mir die braunhaarigen Leute des ersten Bandes im zweiten blond herumlaufen. Zwei Verleger habe ich schon, was mir eine kleine, wenn auch angenehme Verlegenheit bereitet. Meine Sachen beginnen »zu gehen«.

Mit ganz besonderer Teilnahme kann ich unter diesen Umständen Ihrem Herrn Gemahl zur Beendigung seines Werkes gratulieren. Es ist, glaube ich für jeden gesunden Menschen ein freudiges Gefühl, geboren zu sein, ein freudigeres, geboren zu haben. – Verzeihen Sie meine schlechten Witze. Aber so wird man, wenn man anderthalb Jahre lang an einem Schneider von Ulm schreibt.

Herzliche Grüße an das ganze Haus

Ihr ergebenster

Eyth.


Ulm, 30. April 1906.

Verehrteste Frau du Bois-Reymond!

Ehe der Korrespondenztrubel beginnt – eigentlich hat er schon begonnen –, den mir der 6. Mai bringen wird, möchte ich auch Ihren freundlichen Brief beantworten. Es freut mich aufrichtig, aus demselben schließen zu dürfen, daß Sie Ihren Abstecher nach Ulm und Blaubeuren nicht bereuen. Sie waren leider ein paar Tage zu früh hier. Wenn Berg und Tal grün sind oder in weißen und roten Blüten stehen, haben sie doch ein ganz andres Aussehen, wie ich vor ein paar Tagen beobachten konnte. Eine tüchtige Fußtour nach der Teck, Rauber und Breitenstein von meiner Urheimat Kirchheim aus, die ich wegen nachträglicher Schneiderstudien unternehmen mußte, war in dieser Hinsicht ein Hochgenuß. Dort erst, entlang ihrem Nordabsturz, zeigt die Schwäbische Alb, was sie wert ist. Auch können Sie daraus schließen, wie es mit meinem Fuß steht. Ein Marsch von sechs Stunden, dachsteile Berge hinauf und herunter, geht wieder. Damit sollten auch Sie zufrieden sein.

Im übrigen machen Sie zu viel aus dem wenigen, was ich als Führer der kleinen Reisegesellschaft leisten konnte. In solchen Fällen, wenn man mit einem gewissen, wenn auch höchst unberechtigten Stolz fremden Leuten die eigne Heimat zeigen darf, ist sicherlich Geben seliger als Nehmen; Nietzsche mag dazu sagen, was er will. Ihre Bemerkungen zu meinen Bemerkungen über Nord und Süd und die Verbesserungsfähigkeit der Menschen im allgemeinen beweisen, daß Sie mich zu ernst genommen haben. Ich habe zweifellos meine ernsten Augenblicke, aber in einem munter plätschernden Tagesgespräch mit guten Freunden kommen sie selten zum Vorschein, und ich glaube, das ist recht und gut.

Wenn es wahr wäre oder ist, daß ich da und dort den Leuten etwas Gutes zu tun vermochte, so war dies mein Glück, nicht meine Absicht.

Deshalb brauchen Sie mich nicht zu loben. Daß die Menschheit in Wissen und Können gewaltige Fortschritte gemacht hat und noch machen wird, kann kein vernünftiger Mensch in Zweifel ziehen. Das brachte auch gewisse Änderungen in unsre sozialen und moralischen Verhältnisse. Ob dem aber ein Fortschritt in ethischem Sinn entspricht, ist in der Tat höchst zweifelhaft. Manchmal mag dies so scheinen, weil sich die Begriffe von Moral geändert haben. Wenn zum Beispiel Nietzsches Grundideen allgemein würden, würden wir plötzlich besser sein ohne uns ändern zu müssen. So aber, wie wir heute noch denken, kann man mit Recht und Kopfschütteln zum Beispiel fragen: Hat die höhere Schulbildung die Moral der Massen erhöht? Waren die alten Römer schlechter als die der hochkultivierten, dichtenden und philosophierenden Kaiserzeit? Hat die klassische Zeit der Griechen das Griechenvolk moralisch gehoben? Sind die Menschen am Euphrat, am Jordan, am Nil heute besser als zur Zeit des Cyrus, des Salomo, des Sesostris?

Die ganze Frage liegt in einer Nußschale, die noch niemand zu öffnen vermochte: Ist der auf sich ruhende Durchschnittsmensch im Grunde gut oder bös? Sie halten ihn für gut, das Christentum hält ihn für schlecht, ich für ein Mittelding, das in der Masse und äußerlich mehr nach der schlechten Seite hin hängt, im Individuum und innerlich manchmal nach der guten hängen möchte. Wer aber soll entscheiden?

Darüber wollen wir das nächstemal streiten: es ist ergiebiger Stoff. Indessen mit herzlichen Grüßen

Ihr stets ergebener

M. Eyth.


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