Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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68.

Berlin, den 18. März 1888.

Das waren Tage, an welche die noch lange denken werden, welche an der Quelle saßen, von der Trauer und Trübsal über die ganze deutsche Welt ausgingen. Zeitungen erhieltest Du ja die Menge, und ein Brief kann in solchen Fällen wenig hinzufügen, das sie ungesagt gelassen hätten. Im allgemeinen haben sie sich redlich und ohne Übertreibung bemüht, zu erzählen, was hier vorging. Sie hatten es leicht, denn was jedermann fühlte und sprach, war in der Tat, was jeder brave Deutsche gefühlt und gesprochen haben wollte. Es war wieder einmal der Durchbruch des innersten Volksherzens, das bei großen Veranlassungen mit Elementargewalt und zugleich mit einer naiven, hilflosen Kindlichkeit zum Vorschein kommt, trotz allen konventionellen Schundes und aller Schlacken des häßlichen Alltagslebens, die es jahrelang bedecken. Die Zeitungsleute brauchten nicht viel hinzuzudichten.

Zuerst die rasche Erkrankung. Es lag plötzlich wie ein Stein auf allen Leuten. Die Bulletins waren verhältnismäßig ehrlich. Unterderhand hörte man, daß der Kummer den Kaiser furchtbar mitnehme. Er sei mehreremals von den Kammerdienern im Bett sitzend getroffen worden, schluchzend, nach seinem Fritz rufend. Voriges Jahr malte ein törichtes Frauenzimmer ein geschmackloses Bild »der Kaiser Tod«; ein gekröntes Gerippe, das einen Thron umstößt. In gewissem Sinne war es wahr genug. Unerbittlich griff das Schicksal aller Sterblichen auch heute noch dem Höchsten und drückte es in den Staub. Keine Kunst, keine Verehrung und Liebe konnte retten. Der alte deutsche Kaiser auf seiner schlichten eisernen Bettstelle, in den letzten Tagen seines ruhmreichen Lebens, umringt von fünfzig Millionen eines dankbaren Volks, hilflos weinend. O Leben, wie bist du bitter!

Am Donnerstag, abends gegen sieben Uhr, lief's durch die Stadt: er sei tot. Die Kaiserflagge auf dem Palais war niedergezogen. Ein Extrablatt einer der kleineren Zeitungen hatte schon seinen breiten schwarzen Rand. Ich ging mit einem mir befreundeten Abgeordneten nach der Stammkneipe der Nationalliberalen. Dort stellte sich heraus, daß es ein falsches Gerücht gewesen war. Es war eine grauenhafte Schneegestöbernacht; man hatte die Kaiserflagge wegen des Unwetters eingezogen. Von jetzt an erschienen aber fast stündlich Extrablätter. Noch nachts zwölf Uhr konnte man lesen: der Kaiser habe etwas Nahrung zu sich genommen und schlafe jetzt. In den Druckereien paßten die Redakteure von Stunde zu Stunde auf Nachrichten. Jeder schneebedeckte Bediente aus dem Palais, der Zeit gefunden hatte, herzulaufen und mitzuteilen, »Prinz Wilhelm sei eben abgefahren«, oder »Bismarck sitze im Nebenzimmer«, oder »der Kaiser habe wieder einen Löffel Champagner genommen«, erhielt seine drei Taler und rannte wieder davon. Am frühen Morgen brachte mir Fräulein Groß, meine Hauswirtin, das neueste, nasse Zeitungsblatt. »Es gehe besser.« Am Ende reißt er sich noch einmal durch! Beruhigt ging ich nach meinem Bureau. Gegen zehn Uhr liefen die Leute in der Zimmerstraße zusammen. Der Kaiser war tot.

Ich schickte meine Leute nach Hause und ließ die Bureaus schließen. Eine erdrückende Erregung lag in der Luft. Auch äußerlich war es ein düsterer Tag, wie wenige in diesem düstern Winter. Alles lief unruhig hin und her, als wüßte niemand wohin. Schwarze Flaggen erschienen aus Fenstern, Flaggen auf Dächern sanken auf Halbmast. Unter den Linden sammelten sich die Leute. Das Kaiserpalais war in weitem Kreis abgesperrt. Ein schwarzer, dichter Kranz von Menschen bildete sich um den öden Platz vor dem schlichten Haus, über dem sich die stolze Kaiserstandarte tief gesenkt, schwermütig im Schneewind bewegte. Lautlose Stille lag über den Tausenden, die dichter und dichter die breite Straße füllten. Ein unbeschreibliches, nervöses Fluidum schien von ihnen auszugehen und alles zu ergreifen, was in seinen Bereich kam. Auch wenn man nicht an Kaiser und Reich dachte, füllten sich die Augen zehnmal des Tags mit Tränen. Eine Kleinigkeit genügte: eine Fahne, die sich im Wind nicht heben wollte, das »W« auf der Torte im Schaufenster einer Konditorei. Es war das geheimnisvolle »Seufzen der Kreatur«, das auch den unvernünftigen Menschen packt, wenn er in seiner Ohnmacht dem Großen in Natur oder Geschichte gegenübersteht. Dann kam die Kronprinzenfrage: die hin und her fliegenden Telegramme zwischen Berlin und der Riviera, die gefährliche, erschütternd tragische Reise des jetzigen Kaisers durch Schnee und Eis, mit aufgeschlitzter Kehle, dieser »Ritt zum Grab« im ernstesten Doppelsinn; sein stummer Gruß im wildesten Schneegestöber, in welchem er nachts halb zwölf Uhr in Berlin eintraf, während eine Stunde später, zwischen zwölf und ein Uhr, sein toter Vater vom Palais nach dem Dom hinübergetragen wurde, um noch als Leiche die letzte Kaiserpflicht zu erfüllen.

Ganz Berlin war jetzt auf den Beinen und lief zu Tausenden weinend allem nach, was seinem aufrichtigen Herzeleid zur Belustigung dienen konnte. So sind nun einmal die Menschen. Mein Fräulein Groß war entschlossen, ihren Kaiser noch einmal zu sehen. Am Dienstag stand sie von zwei bis sieben Uhr abends eingekeilt vor dem Dom. Am Mittwoch wollte sie es gründlicher machen. Von morgens früh sieben Uhr bis nachmittags drei und von abends acht bis morgens zwei stand das kleine Persönchen zwischen den Tausenden, die geduldig ihr Schicksal teilten und schließlich, wie sie, unverrichteter Dinge heimziehen mußten. Es ist nicht zu vertuschen: unter dem Druck und Drang dieser Woche ist auch einmal die bewundernswerte preußische Verwaltungsmaschine zusammengebrochen. Vieles ging nicht, das hätte gehen sollen. – Alles ist eben doch nicht Maschinenarbeit. Ehre denen, die zusammenbrachen!

Ich, als kluger Mann, der sich mit seinen Herzensbedürfnissen innerhalb der Grenzen des Möglichen abzufinden weiß, machte keinen derartigen Versuch, und sah deshalb, mit geringerer Mühe, den toten Kaiser ebensowenig als Fräulein Groß. Statt dessen wurde ich am Begräbnistag in der Nähe des Brandenburger Tors gebührend zerdrückt. Wenn ich von dem herrlichen Zug nächst den breiten Rücken meiner Vordermänner nichts erblickte als die Spitzen von vielen tausend Helmen und die gewaltige purpurne Bahre, auf der der goldene Helm des Kaisers lag, so kann ich doch sagen, daß ich dabeigewesen bin. Über mir, in den Zweigen eines kahlen, jungen Lindenbäumchens, hingen zwei Strolche mit zerrissenen Hosen und heulten laut, als der Sarg vorüberzog.

Mit der Sorglosigkeit, die mir in solchen Dingen eigen ist, hatte ich mich zu spät nach einem ähnlich guten Platz umgesehen. Ich hätte zwar noch am Donnerstag ein Fenster um 350 Mark bekommen können und am Vorabend der Feier einen Stuhl auf offener Tribüne um 60, ja ein Dachfenster, von dem aus man allerdings gar nichts sah, um 24. Aber all das paßte mir schließlich nicht, und ich begnügte mich mit dem Viertel eines Quadratmeters ebener Erde, den Helmspitzen, zwei Trauermärschen, drei Chorälen, dem Glockengeläute und Kanonenschießen, was alles ergreifend genug war. Auch der Schmuck der Trauerfeststraße war eines Kaisers würdig. Fast unmittelbar über mir stand stumm und schwarz das Brandenburger Tor, durch das er vor achtzehn Jahren den herrlichsten Siegeseinzug gehalten hatte, den unsre Zeit kennt. Heute stand über demselben in silbernen Buchstaben auf schwarzem Grund: »Vale senex Imperator!« Lebewohl, alter Kaiser! Es steht noch dort und wird, obgleich lateinisch, wahrscheinlich damit es alle Deutschen auch verstehen können, in jedem deutschen Herzen stehen bleiben, solange es schlägt.


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