Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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42.

Bonn, den 18. Januar 1886.

Stimmungen!

Du klagst, daß ich während der kurzen Weihnachtsfeiertage in Ulm wie in gedrückter Stimmung herumgelaufen sei. Du hast recht. Auch meinst Du, daß ich hierzu wahrhaftig keinen Grund gehabt habe, wenn ich auf das verflossene Jahr zurückblicke, und Du hast wieder recht. Aber was sind Stimmungen, und wie willst Du sie bei Vernunft erhalten? Namentlich wenn uns die Wirrsale der Zeit wie eine mächtige Flutwelle wieder einmal über dem Kopf zusammenschlagen und den Atem genommen haben. Dazu geriet ich in der Stille der Ulmer Tage an den alten Salomo, der mir wie ein dreitausendjähriger Zwillingsbruder aus der Seele gesprochen hat. Das Wunderliche an unserm Pessimismus ist, daß er uns beide nicht abhält, zu tun, als ob auch er eitel Luft wäre. Ich quäle mich nach wie vor mit »viel bewundertem Eifer«, zu gründen und zu bauen und weiß doch: »das ist auch eitel«. Der alte Judenkönig umgibt sich bis zum letzten Tag seines Lebens mit Ballettmädchen aus Mesopotamien und mit Müsterchen aus Ägypten und Syrien, obgleich er »unter tausend Menschen nicht ein Weib« gefunden hatte und dies einsieht. Eine verrückte Welt; ein verrückteres Ich!

Stimmungen; nichtswürdige Stimmungen! Dagegen gibt es nur ein Mittel: Mit zusammengebissenen Zähnen gegen den Strom schwimmen, in den uns das Leben geworfen hat. Taten! Wenn sie auch noch so klein und unbedeutend sein mögen, wenn sie uns nur das Gefühl geben, etwas zu schaffen und den Trost, etwas geschaffen zu haben. Das wird wohl daher kommen, daß wir alle ein Fünkchen des großen Schöpfers in uns haben, das nicht stirbt und uns keine Ruhe läßt.

Stimmungen! Vielleicht war es auch eine geheime Angst vor dem, was nun kommen muß, denn die ich rief, die Geister, die werd' ich nicht mehr los. Die lustige Zeit des Experimentierens ist jetzt vorüber. Das Vergnügen der Unverantwortlichkeit hat ein Ende. Mit Hoffnungen und Versprechungen und poetischen Ausblicken ist es aus. Nun gilt es zu beweisen, daß wir nicht mit einer Seifenblase gespielt haben. Kein Wunder, daß mir zur Zeit der Jahreswende etwas bange wurde.

Andre mögen lachen; mir scheint die erste Tat der D. L. G., die bei meiner Rückkehr nach Berlin vollbracht wurde, ein vielversprechendes Omen zu sein. Ich hatte nach langem Suchen und Überlegen Bureauräume in der Zimmerstraße gefunden, die allerdings eigentlich noch nicht existierten. Ein großer Neubau ist dort im Entstehen begriffen, in dem wir in Zukunft hausen werden. Mittlerweile aber müssen wir uns in dem noch nicht abgebrochenen Hinterhaus mit drei Stübchen begnügen, die der hohen Bedeutung der D. L. G. kaum entsprechen. Überdies kann ich selbst erst Ende Januar meine Wirtschaft in Bonn abbrechen. So machten wir uns auf den Weg, Siemssen, der soeben angestellte Geschäftsführer der jungen Düngerabteilung, und ich, kauften einen geräumigen Briefkasten und ließen ihn an der bescheidenen Haustüre besagten Hinterhauses aufhängen, wo er die Ankunft der ersten Briefe an die D. L. G. erwartet. Siemssen versprach, jeden Morgen nach ihm zu sehen und mir seinen Inhalt nach Bonn zu schicken. Das war die erste Tat im Namen und auf Rechnung der D. L. G. Bescheiden, nicht wahr? Aber so pflegen große Dinge anzufangen.

Noch ist alles andre provisorisch, trotz der festlichen Gründung. Die erste der monatlichen Direktoriumssitzungen wurde mangels eines grünen Tisches – auch ein gutes Zeichen! – gastweise in den Räumen des Klubs der Landwirte abgehalten, wobei als Vorsitzender Ökonomierat Kiepert, als Schatzmeister der herzensgute Noodt ihres Amtes walteten, und mir als »geschäftsführendem Mitglied« die Vollmacht erteilt wurde, zu tun, was ich für gut halte. Auch wurde mir mehrfach die Mahnung zugeflüstert, vertrauensvoll und nach Möglichkeit meine Herren Kollegen mit allen Einzelheiten zu verschonen. Ich dachte an Lord Palmerston und nickte. Dieser große Staatsmann erklärte seinerzeit: Der beste Ausschuß für praktische Zwecke bestehe aus drei Herren, von denen zwei grundsätzlich den Sitzungen fernbleiben.

Den folgenden Tag mußte ich persönlichen Angelegenheiten opfern, zunächst, um einen Stein zu finden, auf den ich mein Haupt niederlegen konnte. Eine Zeitungsanzeige dieses Bedürfnisses brachte vierundzwanzig Angebote wohlwollender Witwen und Waisen. Am folgenden Morgen war ich von der Qual der Wahl dermaßen erschöpft, daß ich die erste Wohnung, die mein Kutscher anfuhr – Potsdamerstraße 130, im dritten Stock –, ohne weiteres Bedenken mietete. Die Folgen muß ich meinem guten Engel überlassen und einem Fräulein Groß, einem kleinen Persönchen, die ihres Namens kaum, sonst aber meines vollen Vertrauens würdig zu sein scheint. Die Wohnung liegt fünfzehn Minuten von meinen künftigen Geschäftsräumen, zehn vom Ideal Berliner Naturgenüsse, dem Tiergarten, in einer breiten Straße, die eine Allee alter, allerdings etwas schadhafter Platanen schmückt, über deren Gipfel weg ich auf ein Stückchen des erwähnten Tiergartens sehe. Der dritte Stock, gegen den trotz oder vielleicht wegen Luft und Licht die sonderbaren Berliner ein gewisses Vorurteil zu haben scheinen, ist mir in einer großen Stadt Lebensbedürfnis. Kurz: »Es wird schon schief gehen.«

Daß mein letzter Brief aus Bonn, auf einem der letzten Blätter des dahingeschiedenen »Provisoriums«, voll von Berlin ist, darfst Du als ein weiteres gutes Zeichen ansehen. Es ist nicht an der Zeit, nach rückwärts zu sehen, wenn der größere Teil unsrer Aufgabe noch vor uns liegt. Überdies ist schon alles wüst und leer um mich her. Die Abschiedsbesuche sind gemacht. Die Poppelsdorfer Akademiker haben mir zu Ehren einen Festkommers abgehalten und verschiedene »urkräftige Salamander« gerieben. Zwei feierliche Festmahle, von übereifrigen Freunden geplant, habe ich mit Erfolg hintertrieben. Ein Eisenbahnwagen ist für morgen früh bestellt, um mein bescheiden Hab und Gut aufzunehmen. Ich selbst fahre mittags auf einem kleinen Umweg über Frankfurt nach Berlin; denn es ist beschlossene Sache, daß, wenn nicht der Himmel einfällt, Frankfurt die erste Ausstellung der D. L. G. sehen wird. Es handelt sich darum, die noch ahnungslose Stadt zu veranlassen, uns aus eignem Antrieb einzuladen.

Dem schönen Rheingau und der guten Stadt Bonn aber bleibe ich dankbar dafür, daß sie mir gestattet haben, hier die Wiege der D. L. G. etliche Jahre lang zu schaukeln, ohne die Geduld zu verlieren. Das machte ihr lachender Sonnenschein, ihr Rebenblut und der deutscheste aller Ströme mit seiner unerschöpflichen Poesie. An die Menschen habe ich mich nicht völlig gewöhnen können. Dazu ist der Schwabe zu schwerblütig und braucht überall Jahre, und als ich ein wenig warm zu werden begann, war es Zeit zu scheiden. Trotzdem nehme ich hundert freundliche Erinnerungen mit, die im Sand von Brandenburg nicht vertrocknen werden.


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