Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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Schöntal, den 4. September 1882.

Es regnet in Strömen. Ich wollte die alte Heimat drei Tage lang im Spätsommersonnenscheine genießen, und nun, am Morgen des dritten Tages heult der Wind das sonst so stille Tal herauf, genau wie vor vierzig Jahren an Spätherbsttagen. Er rauscht in den Kastanienbäumen drunten bei der Brücke und pfeift um die Klostertürme, daß ich es durch die klappernden Fenster des einfachen Gasthofs »Zur Sonne« höre, hinter denen hervor ich zum erstenmal die alten Klostermauern betrachte und den stattlichen Bau, in dem ich als Kind und Junge zu Haus gewesen bin. Jetzt wohnen andre Menschen dort, und ich bin nur ein Gast, den kaum jemand mehr kennt.

Außer Baum und Strauch, Türmchen und Mauern, Treppen und Gängen in und um das Kloster; denn diese Dinge sind vierzig Jahre lang geblieben wie sie waren, in einer Weise, die man anderwärts nicht für möglich halten würde. Und auch die Seminaristen scheinen die alten zu sein: halbwüchsige Bürschchen mit Brillen auf den Nasen, die sich vergeblich bemühen, in würdigem, gemessenem Schritt einherzuspazieren und den Nachbar plötzlich, ohne allen äußern Grund, in den Straßengraben stoßen.

Auch der »Herr Ephorus«, der Leiter des Seminars, führt noch den mir wohlbekannten Namen. Hat er doch seinerzeit als Professor vergebens versucht, mich für die Pracht ciceronischer Phrasen zu erwärmen. Er wohnt jetzt in unsrer alten Wohnung, im ersten Stock der herrlichen Zisterzienserabtei. Diese Wohnung aber mußte ich unter allen Umständen bis in die innersten Winkel wiedersehen, von denen jeder mit irgendeiner meiner kindlichen Missetaten in Verbindung stand.

So fand ich mich schon am ersten Tag vor der altbekannten »Gangtüre«, die zu meiner Zeit stets verschlossen gehalten wurde, und läutete. Der vergessene Klang der alten Glocke antwortete vom fernen Ende des langen klösterlichen Gangs und weckte hundert Erinnerungen. Aber niemand öffnete; es blieb alles schaurig still. Ich läutete drei-, viermal mit demselben Erfolg. Die ganze Vergangenheit wachte auf; die Gegenwart rührte sich nicht. Betrübt war ich im Begriff, abzuziehen. Da kam mir ein glücklicher, wenn auch ganz außerordentlicher Gedanke: wie wär's, wenn ich die Türklinke versuchte? Wer weiß, was sich alles in drei Jahrzehnten geändert hat. – Und wahrhaftig! die Tür war offen, und am fernen Ende des Gangs stellte eine liebliche, wenn auch nicht mehr ganz junge Dame ein Bügeleisen auf einen Tisch – der früher auch nicht dort gestanden hatte! – und kam zögernd auf mich zu. Es war die Tochter des Hauses, deren erster Geburtstag mich seinerzeit in Erstaunen gesetzt hatte, und die sich ebenfalls daran zu erinnern schien, als ich meinen Namen nannte.

»Um ein Haar wäre ich wieder weggegangen,« sagte ich nach der ersten Begrüßung. »Haben Sie mich denn nicht läuten hören?«

»Gewiß,« antwortete sie treuherzig, »aber die Türe war ja offen. Man stiehlt uns nicht; wir schließen sie schon seit Jahren nicht mehr. Und da dachte ich: es sei ein dummer Handwerksbursch; er werde schon merken, daß nicht geschlossen ist.«

Ein dummer Handwerksbursch! So geht's, wenn man der Heimat allzu lang den Rücken gekehrt hat. Und doch fand ich die Türe noch offen. Eine gute Vorbedeutung, so Gott will. –

Der alte Klosterwinkel hat es mir nun einmal angetan. Kein Wunder, denn ich verdanke diesen grauen Mauern, diesen grünen Halden und Wäldern und dieser Stille, in der ich aufwuchs, ein gut Teil von dem bißchen Kraft, die ich draußen im Lärm des Lebens brauchen konnte. Zum viertenmal ziehe ich von hier aus, einer unbekannten Zukunft entgegen; denn ich kehrte immer wieder zurück, war es auch nur auf Tage, um in der halb schlummernden Natur mit dem Gefühl der Morgenfrische aufs neue zu erwachen: das erstemal, als ich auf die Schule zog, hinter der sich eine große neue Welt aufzutun schien; das andre Mal, als ich die deutsche Heimat verließ, um in fremden Ländern einen Lebensberuf zu suchen; dann wieder bei meiner Rückkehr aus Ägypten, als abermals alles in ungewissem Nebel vor mir lag. Und heute endlich! – Äußerlich bin ich ja an einem gewissen Abschluß angelangt. Ich kann, wenn ich will, mit Behagen zu Hause sitzen bleiben. Aber ich kann dies nicht wollen, das ist nur zu deutlich. Es liegen noch etliche gesunde Arbeitsjahre vor mir. Wie sie sich gestalten werden, weiß nur der Himmel. Enttäuschung oder Erfüllung, das ist die Frage, und die drei Tage, die ich hier zubringe, von niemand gestört, fast von niemand gekannt, stärken mich für beides; selbst der Regentag. So alt ich bin, die alten Wurzeln saugen noch.

Wie die Erinnerungen alle wach geworden sind in diesen Tagen und mich jünger gemacht haben, lebenslustiger und tatenfreudiger! Wie mir das verbogene Gitterwerk des Konventgartentors zuwinkt, zwischen dessen Stäben einst mein trostloser Kopf gesteckt hatte, in Apfeldiebstahlsangelegenheiten; wie der halb zerfallene Eckturm der Klostermauer, in dessen oberem, durch keine Treppe zugänglichem Stockwerk, das ich heute nicht mehr zu erreichen vermöchte, ein trauliches Räubernest eingerichtet war, in dem ich die Früchte verbrecherischer Tätigkeit barg; wie all die andern Dummheiten – namentlich die Dummheiten – aus denen die goldene Jugendzeit besteht, mich traulich grüßten! Und dann aus späterer Zeit: das einsame Waldhüttchen, das ich mir am wilden Nordabhang des Kreuzbergs erbaut hatte, weil sich dorthin kein Mensch verirrt, und man über das schlummernde Jagsttal hin stundenlang nichts Lebendigeres erblickt als eine Krähe, die vom Friedhof herunter über den still hinschleichenden Fluß zieht. Das war die Gegend, in der vor dreihundert Jahren die Bauern aufstanden und in wildem Freiheitsdrang zugrunde gingen, durch die der alte Berlichingen mit der eisernen Hand gegen den Bischof von Würzburg ausritt. Damals war diese tolle Welt voll herrlicher Abenteuer, die man noch im Seufzen des Herbstwindes durchfühlen kann, daß es einen ordentlich schaudert. Stundenlang konnte ich dort liegen und träumen. Dann aber kam ein plötzliches Aufspringen, eine geballte Faust, das Bewußtsein, daß es noch Abenteuer geben müsse, irgendwo draußen in der Welt, und daß man sie erleben könne, wenn man nur wolle. Damit verließ ich gewöhnlich den stillen Winkel; damit ziehe ich auch heute wieder hinaus. Es mag recht viel prosaischer und einfacher werden, als sich's der Junge, auch der alte Junge denkt, vielleicht aber doch nicht so ganz anders, als es zu jenen Zeiten war. Die hatten zweifellos auch ihre Prosa.

Der Regen hat aufgehört. Sogar die Abendsonne strahlt das Tal herauf und vergoldet das stattliche Kloster. Ich kenne jedes Licht, jeden Schatten in diesem Bilde und will doch noch einmal hinaus und nachsehen, ob der Regen der letzten dreißig Jahre die kleine Moosbank weggeschwemmt hat, auf der ich meine Jugendphantasien durchlebte. Spuren werden wohl noch zu finden sein, und ein wenig träumen läßt sich auch auf einer weggeschwemmten Bank.

Dann aber, morgen in aller Frühe, wieder hinaus ins wache Leben!


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