Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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64.

Frankfurt a. M., den 20. Juni 1887.

Dies könnte ein Brief werden, der Dich durch sein bloßes Gewicht mit freudigem Entsetzen erfüllen soll. Wie ich dazu komme, ihn zu beginnen, wann ich ihn beenden werde, wird sich später zeigen. Freue Dich mit mir, daß ich darüber nicht nachzudenken brauche. Mit einem Schlag hat sich mehr als das Wetter geändert. Ich habe Zeit und bin wieder Mensch geworden.

Über den Verlauf der fünf Tage, an denen Leben und Sterben der D. L. G. hing, haben Dir die großen Tagesblätter, voran die »Frankfurter Zeitung«, das Nötigste berichtet. Sie waren uns im allgemeinen so weit wohlgeneigt, als der Druck der Verhältnisse und der täglich wachsende Erfolg sie dazu zwang. Es ist merkwürdig, wie groß das Unverständnis, wie gering die Sympathie dieser Zeitungen dem ersten Gewerbe des deutschen Volks gegenüber ist; wie der Gegensatz zwischen Stadt und Land immer wieder wie Nadelspitzen durch die gesamten Festreden und rauschenden Verbrüderungsszenen durchschlägt. Auch in dieser Hinsicht hat die D. L. G. eine große, fast heilige Aufgabe zu erfüllen. Denn ist die Versöhnung von dem, was nie sich hätte trennen sollen, nicht ein heiliges Werk? – Die landwirtschaftlichen Fachzeitschriften sind natürlich voll von unserm Treiben, lobend und krittelnd, meist lobend. Noch täglich schicken mir schreibselige Doktoren ihre Artikel, in denen sie des näheren auseinandersetzen, wie die D. L. G. bewiesen habe, nicht bloß, daß sie lebe, sondern auch, daß sie gewaltige Aufgaben zu lösen bestimmt sei. Es war mir mit Fug und Recht auf diese Stimmen bange. Seit vier Jahren erkläre ich den Herren in allen Tonarten, daß auf Ausstellungen anders gewirtschaftet werden müsse, als sie es gewohnt waren, daß man nicht zu Festen und Spielen zusammenkomme, daß hier die Landwirtschaft zeigen müsse, ob sie arbeiten könne. Hunderte paßten wohl darauf, zu beweisen, daß ich zwar mit dem Mund und der Feder etwas leiste, nicht aber in der harten Wirklichkeit, von der ich so viel Aufhebens mache. Und dabei hing so viel an Dingen, die kein Mensch in der Gewalt hat: am Wetter, an der Stimmung einer Behörde, an den Launen von Zeitungsschreibern, »Tintenbuben«, wie sie mein Freund Heinecken nennt. Kurz, es waren erdrückend sorgenvolle Tage, schon ehe mich die letzten Vorbereitungen überwältigten.

Wie soll ich Dir ein Bild davon geben, wenn sich alles in hundert Einzelheiten auflöst, wo und wie ich das Ganze berühre? Am Tag vor der Eröffnung ein drohender Himmel, noch immer grau in grau, nach einer bösen Regennacht, die den Geräteplatz in einen Sumpf verwandelt hatte. Mein Bureau ein Guanoberg von Briefen und Depeschen, Skizzen und Packpapieren, Schnüren und Schildern, Kleister- und Farbtöpfen; tausend Dinge, die man irgendwo gebraucht hatte oder noch brauchen wollte. Dazwischen ein halbes Dutzend alle drei Minuten wechselnder Leute, mit einem Dutzend Bedürfnissen und Wünschen: eine Garderobefrau, die nach ihren Nummern fragt, ein Kammerdiener, der den Besuch des Großherzogs von Hessen-Darmstadt anmeldet, ein Bauer, der den Stand für seine Kühe nicht findet, ein Spediteur, der zwei Kisten mit Katalogen in einer Pferdebucht abgeladen hat, wo man ihm die Empfangsbescheinigung verweigert, ein Tierarzt, der eine sterbende Sau abmelden will, zwei Professoren, die ein und denselben Viehwagen beanspruchen, ein Berichterstatter, der des Fürsten von Wied morgige Eröffnungsrede verlangt, ein zweiter, welcher Freikarten für die Familie seiner Schwiegermutter fordert, ein Honigaussteller, dem drei Töpfchen seiner Erzeugnisse abhanden gekommen sind, ein entrüsteter Aufseher, der sie nicht gestohlen haben will, ein Drucker mit einer Rechnung und einem Bündel Plakate: »Für Herren«, »Für Damen«, zwei Preisrichter, die den dritten ihrer Gruppe nicht finden können, ein Zimmermann, mit der Nachricht, daß böse Buben über die Umzäunung steigen und Bretter abreißen, die Feuerwehr, die zwei Laternen und vier Strohsäcke für den Nachtdienst verlangt, drei wütende Pferdehändler, die ihre Rosse in einen Stall stellen wollen, den ein vierter bereits besetzt hat, ein weinendes Blumenmädchen, das sich nicht vom Platz weisen lassen will – sie sei beim Pferdemarkt auch immer hier gewesen –, vier Pädagogen, die zweitausend Kinder zu zehn Pfennig das Stück anmelden, eine Abordnung von Ausstellern, die um keinen Preis auf der ihnen angewiesenen Galerie bleiben wollen; sie seien dort oben verraten und verkauft, und so weiter, und so weiter, so daß mir, und wohl auch Dir, der Atem noch heute ausgeht, wenn ich daran denke.

Dann draußen in der großen Halle für Erzeugnisse! Die Leute waren dort mit ihren Arbeiten noch entsetzlich im Rückstand. Sie sind es gewohnt, erst am zweiten oder dritten Tag der Ausstellung fertig zu werden, was ich, rot vor simuliertem Zorn, schlechterdings nicht zu dulden behaupte. Einige, die guten Schwaben voran, sind soeben erst angekommen und stehen kopfschüttelnd vor ihren geschlossenen Kisten. Zum Glück gelingt es mir, das fälschliche Gerücht zu verbreiten, der Großherzog von Hessen wolle noch am Vorabend den Herren einen Besuch abstatten. Dies setzt plötzlich den ganzen Ameisenhaufen in fieberhafte Bewegung, so daß ich einigermaßen beruhigt die Halle verlassen kann.

Im Freien irren Hunderte von Rindern, Schafen und Schweinen an den Schuppen entlang, ihre Plätze suchend, sie allein vernünftig genug, philosophische Ruhe zu bewahren. Hier herrscht mein Freund und Retter Krauß als Generalissimus und kommandiert gleichzeitig das Entladen der stündlich ankommenden Eisenbahnzüge auf dem benachbarten Bahnhof. Tiere aus Holstein und Oberbayern, von Ostpreußen und vom Schwarzwald beschnuppern sich neugierig. Allgäuer Kuhglocken klingen melodisch ins Geblök schlesischer Schafe. – Weiter hinten, auf dem bunten Geräteplatz, pusten schon Dampfmaschinen, summen Zentrifugen und brummen Dreschmaschinen in friedlichem Baß, schimpfen und fluchen aber auch Hunderte menschlicher Wesen über die schlechten Wege, die nassen Kohlen, die teuern Spediteure.

Nun rasch nach der Stadt zur ersten Sitzung von Richtern und Schauwarten im »Saalbau«, am andern Ende von Frankfurt. Begrüßung meiner Mitvorstände, die endlich auch aufgetaucht sind; verfrühte Glückwünsche, gefühlvolles Bedauern über meine Arbeitslast. Mitten in der Sitzung kommt unser Präsident, der Fürst von Wied. Vorstellung. Belehrung der noch etwas verwirrten Richter durch Herrn von Nathusius und Wölbling. Gruppenbildung. Allseitiges Bekanntwerden. Schluß.

Dann wieder hinaus auf den Ausstellungsplatz. Finde mein Bureau umlagert von fünfundzwanzig Leuten, die mich in wachsendem Zorn seit zwei Stunden suchen, Krauß – ein unbezahlbarer Mann in solcher Lage – mitten unter ihnen, strahlend vor Vergnügen, jedermann versichernd, daß alles ganz vortrefflich gehe, was die Wütendsten diesem Gesicht voll muntern Wohlwollens schließlich glauben; Poggendorff still geschäftig leere Kassen bereitstellend, die er morgen zu öfterem gefüllt nach unsrer Bank zu schleppen hofft.

Acht Uhr abends. Es wird ruhiger. Sechzehnhundert Tiere in langen Reihen fressen behaglich und legen sich schon da und dort auf das reinliche Strohlager. Ihre Wärter trinken, auch sie etwas beruhigter. Die Sonne versinkt in einem glühenden Abendrot. Über das weite, wirre Feld summt und murmelt es fast friedlich nach dem heißen Toben des Tags. Polizei, Feuerwehr, Nachtwächter, Stallaternen und der Mond – alles scheint nachgerade seinen Platz gefunden zu haben.

Droschke! Nach dem »Palmengarten«, wieder am entgegengesetzten Ende der Stadt. Empfang der »Festgäste«. Ist die Silbe »Fest« wirklich nicht auszurotten, wenn wir der ernstesten Arbeit, der Frage nach Sein und Nichtsein entgegengehen? Ein Ameisengewimmel von Menschen. Lohengrins Hochzeitsmarsch. Festreden, die zum Glück vorüber waren, als ich meinen Platz neben Fürst von Wied einnahm, der über alle Maßen liebenswürdig war. Italienische Nacht, bengalische Beleuchtung, chinesische Lampen. Entzücktes »Wiedersehen« von Hunderten, die sich zum erstenmal im Leben begegnen, aber auch von wirklichen alten Bekannten, die das Leben weit auseinandergerissen hatte. Bonner Freunde; Württemberger. Sogar der alte Fowler, Robert Fowler, Dein besonderer Freund, war hier.

Um elf Uhr schlich ich mich davon; um zwei war ich wieder wach und um fünf Uhr auf dem Platz, wo es lustig muhte und mähte und vierzig Düngerwagen in grauem Morgenlicht ihre ungewohnten Wege suchten. Der Himmel war trüb, ein kühler, herzbrechender Wind wehte zu Ehren der Eröffnung unsrer ersten Ausstellung und des Tags, für den ich vier Jahre lang gearbeitet hatte.

Aber trotzdem war uns der Himmel gnädig und schloß am fünften Tag die Ausstellung in hellem Sonnenschein.

Was soll ich nun aber von diesen fünf Tagen erzählen? Sie gingen vorüber wie ein Traum. Auch jetzt noch liegt mir ein Schleier über der ganzen Woche, hinter dem es rauscht und rieselt, sinkt und steigt, aber kaum so, daß ich das Einzelne erkenne. Willst Du Tatsächliches wissen, so lies die Zeitungen, die ich Dir bergeweis zusenden ließ. Was sie erzählen, ist zumeist falsch, doch geben sie unter dem Einfluß des wachsenden Erfolgs das allgemeine Stimmungsbild richtig genug. Mehr hättest Du selbst kaum mitgenommen, wenn Du das Ganze mit leiblichen Augen gesehen hättest. Ich will mich darauf beschränken, ein paar Punkte herauszugreifen, die uns persönlich berühren; denn ich setze mich nicht zum drittenmal vor diesem Brief nieder, um eine Ausstellungschronik zu schreiben.

Zunächst eins, und nicht das Geringste: Als am 9. Juni morgens um acht Uhr die Tore der Ausstellung geöffnet wurden, stand sie da, so fertig, als sie es werden konnte; eine Tatsache, die wohl noch nie auf deutschem Boden beobachtet worden ist. Die Aussteller selbst wunderten sich unverhohlen. Nichts blieb zu tun übrig, als an die Arbeiten zu gehen, für die sie den Boden und die Stoffe lieferte. Wenn das Ungewohnte eines so prompten Angriffs auch noch manche Verwirrung und Verwechslung mit sich brachte, so waren doch wenige Stunden später die Richtergruppen in voller Tätigkeit, und ein buntes, lustiges Treiben gehender und kommender Tiere nach und von den dreizehn Ringen im Gang. Man sah sofort, daß die Herren ihre Aufgabe nicht als Spielerei auffaßten. Die Sache hatte einen Zug ins Große, Alldeutsche. Kleine, persönliche Rücksichten, die auf Provinzialschauen oft genug eine Rolle spielen, waren in diesem Rahmen nicht mehr möglich, und bald war ein reger Wettstreit zwischen Provinzen und Ländern im Gang, die mit Erstaunen bemerkten, daß sie nicht allein auf der Welt waren. Die wichtigste Rolle spielte sichtlich die Rinderausstellung und in ihr die Badenser Simmentaler, die zum Entsetzen von Bayern und Württemberg den Vogel, ja, fast alle Vögel abschossen und da und dort peinliches Herzbrennen verursachten.

Bei der Eröffnungsfeier, um zwölf Uhr mittags, sprach unser Präsident einige beherzigenswerte Worte, die den Zweck der Veranstaltung hervorhoben: die landwirtschaftliche Arbeit in allen Gauen des Reichs durch das Zusammenführen und Vergleichen ihrer Leistungen zu fördern. Oberbürgermeister Miquel begrüßte die Landwirtschaft im Namen der Stadt, ich dankte der Stadt namens der Landwirtschaft. Alles das bewegte sich in dem Rahmen des üblichen Ausstellungszeremoniells. Einige von uns wußten aber trotzdem, daß hier etwas vorging, das weitere und tiefere Bedeutung hatte als die Momentaufnahme eines Ausstellungsbildes.

Ein Punkt blieb vorläufig ein nicht zu überwindender Stein des Anstoßes. Die Aussteller konnten nicht begreifen, daß ihre Tiere nicht, wie in den heimischen Ställen, beisammenstehen durften, sondern jedes Stück in seiner Klasse aufgestellt werden mußte. In den Klassen standen sie sodann nach Ländern, in den Ländern nach den alphabetisch geordneten Namen der Besitzer. Es macht dies den Leuten mehr Mühe. Das Bild der Rassen und Schläge dagegen tritt klar hervor, und ein richtiges Vergleichen der einzelnen Tiere wird den Besuchern möglich. Ich war, trotz aller Angriffe, fest entschlossen, an diesem Grundsatz festzuhalten, wäre es auch nur, um dem überall wieder durchschlagenden Partikularismus, der selbst dem Vieh anzuhaften scheint, durch unsre Ausstellungen entgegenzuarbeiten.

Nach der Eröffnung, an der ich wie ein Nachtwandelnder teilgenommen hatte, war ich an der Grenze meiner Kräfte angelangt. Der Fürst muß das wohl gesehen haben; wenigstens nahm er mich fast gewaltsam in einem Wagen nach seinem Gasthof, setzte mich auf seinen Diwan und ließ mir ein paar Tassen Tee geben, die mich wieder auf die Beine brachten.

Nun ging es in die Hauptversammlung im »Saalbau«. Ich wollte, Du hättest dabei sein können, wie der Präsident, neben dem ich saß, in seiner Eröffnungsrede sagte: »Wenn ich einen Lorbeerkranz zur Hand hätte, würde ich ihn auf diesem Haupt niederlegen,« und mir dabei liebevoll in den Haaren kratzte, daß ich fast gerührt war.

Mittlerweile leiteten die Schauwarte, voran Herr von Nathusius mit Wölbling, das Richten, Krauß regierte auf dem Platz als Mädchen für alles, und Poggendorff schleppte die ersten Geldsäcke zur Bank. Damit wurde aus Morgen und Abend, allerdings nicht überall so glatt wie in Urzeiten, der erste Tag.

Ähnlich ging es mit den andern. Der Himmel wurde von Tag zu Tag heiterer. Die Besucher strömten in hellen Haufen herbei, zu Fuß, zu Wagen, in dicht besetzten Sonderzügen aus weiter Ferne. Am vierten Tag wachte sogar die ehrwürdige Stadt Frankfurt auf, und da und dort hieß es, es gehe eine merkwürdige Geschichte am Ostend vor, die man wirklich sehen müsse. »Alpenkühe mit Glocken, und Schweine, Schweine, sage ich Ihnen!« Die »Schöne Helena«, die den Siegerpreis erhalten habe, sei wirklich sehenswert.

Am vierten Tag und noch mehr am fünften hatten wir einige kritische Stunden. Am Nachmittag des ersteren wurden die Entscheidungen der Richter veröffentlicht, und da jedes Bäuerlein wie jeder Rittergutsbesitzer überzeugt war, das Schönste und Beste auf die Ausstellung gebracht zu haben, was die Welt je gesehen hatte, waren Enttäuschungen zahlreich und bitter. Namentlich fühlten sich die Bayern gekränkt und wollten mit ihren Tieren sofort aufbrechen. Ich weiß nicht, ob dies in Bayern so Sitte ist. Aber plötzlich standen fünfzig bis sechzig Rinder und ein Dutzend handfester Oberbayern vor dem geschlossenen Ausgangstor und drohten, alles zusammenzuschlagen, wenn man sie nicht sofort hinauslasse. Ich war ebenso entschlossen und sagte ihnen, daß der Viehweg nur über meine Leiche gehe. Krauß besänftigte seine Landsleute mit liebevollen, aber kräftigen Worten so weit, daß sie sich wieder in ihre Schuppen zurückverfügten, indem er ihnen zugleich die Versicherung gab, auf der Eisenbahndirektion nachsehen zu wollen, ob vielleicht ein früherer Vieh-Sonderzug zu haben wäre. Schon am Tag vor der Eröffnung hatte er in einem Winkel hinter den Pferdeställen ein kleines, wigwamartiges Zelt aufschlagen lassen, das nur ihm und mir bekannt war. Dorthin flüchteten wir, wenn das Drängen der Aussteller zu toll wurde. Nach einer Stunde hatte sich dann die drohende Wolke gewöhnlich von selbst aufgelöst oder einer andern, weniger gefährlichen Platz gemacht. Dorthin zogen wir uns auch diesmal zurück und hörten, wohlgeborgen, die wütenden Bajuvaren an uns vorüberfluchen, die mich oder ihren Landsmann suchten, um die verdammten Preußen – wir waren in ihrem Zorn alle zu Preußen geworden – zu zerschmettern. »Schon wieder eine Stunde vorüber!« sagte dann Krauß zu mir, indem er seinen tief über die Stirne gezogenen Schlapphut etwas zurückrückte. »Ich wollte, die Nacht käme oder – –« Es war ein halbes Waterloo, nur mit dem Unterschied, daß wir keinen Blücher zu erwarten hatten.

Das Ende kam auch ohne den großen Feldmarschall. Noch immer strömte es von Besuchern, als wir um sechs Uhr die Kassentore schlossen. Es war ergreifend, wie sie baten, noch eingelassen zu werden; sie hätten ja erst heute Nachmittag erfahren, daß eine Ausstellung in Frankfurt sei. Ich saß etwas abseits auf einer Holzbank, starrte in die Abendsonne, die mich jetzt förmlich vergoldete, und fühlte buchstäblich, wie mir ein Stein um den andern vom Herzen fiel. Wölbling war im Kassenzimmer beschäftigt, in aller Geschwindigkeit eine kleine Kostenberechnung zusammenzustellen. Wir hatten an den Toren 65 000 Mark eingenommen, an Zuwendungen für Prämien 30 000 Mark, an Standgeldern 30 000 Mark, aus verschiedenen Kleinigkeiten 21 000 Mark, zusammen 146 000 Mark. Gekostet hatte die Ausstellung alles in allem 140 000 Mark. Das ergab einen Überschuß von 6000 Mark. Mit der feierlichen Miene einer Abordnung kamen er, Krauß und Poggendorff auf mich zu und überreichten mir das letzte Markstück, das an der Kasse eingenommen worden war.

Da gedachte ich meines Schwurs auf dem Wilhelmsplatz zu Berlin, nahm es aber dennoch; denn ein glücklicher Gedanke rettete mich und die Münze. Ich ging am andern Morgen zu einem Silberarbeiter, ließ sie durchbohren und trage sie seitdem an der Uhrkette nächst dem Herzen. Zum Entsetzen meiner Freunde, denn sie ist ein abgeschabtes, häßliches Ding, wenn man nicht weiß, was sie bedeutet.

Die Versammlungen, welche ähnlich denen in Dresden, wenn auch nicht in gleichem Umfang, geplant waren, konnte ich nur im Fluge besuchen. Die Herren Redner kamen nicht auf ihre Rechnung. Die Ausstellung saugte ihnen die Zuhörerschaft aus den Sälen. Das war zu erwarten und war mir fast ein Trost. Es bewies, daß dem Volk der richtige Instinkt noch nicht verloren gegangen ist. Es fühlt, daß es nützlicher ist, etwas weniger aus erster, als eine gewaltige Menge aus zweiter Hand zu lernen; daß man mit eignen Augen noch immer besser sehen sollte als durch die Brille andrer. Laut darf ich dies zwar nicht sagen, ist auch nicht überall anwendbar. Aber je mehr es angewandt wird, um so besser für uns alle.

Auch die Ausflüge und sonstigen Vergnügungen mußte ich beiseite liegen lassen. Der Koch kann nicht zu Tische sitzen, solange die Herrschaften speisen. Nur um die Niederwaldfahrt tat es mir leid. Einige vierhundert meiner Freunde seien dort oben in hochpatriotische Begeisterung ausgebrochen, so daß sie am Fuß der stolzen Germania um ein Haar zwei kleine Böhmen geprügelt hätten, die bei einem Hoch auf Bismarck die Hüte nicht abnehmen wollten. Zum Glück kam es nur zum Kartenaustausch. Nun sind aber die kleinen Böhmen nirgends mehr zu finden, und ein feuriger Rittergutsbesitzer und Leutnant der Reserve sucht vergebens Mittel und Wege, sich mit den zwei Karten zu duellieren.

Morgens um vier Uhr, nach Schluß der Ausstellung, begann der Aufbruch der Tierwelt. Wenn sechzehnhundert Pferde, Rinder, Schafe und Schweine gleichzeitig zu drei Toren hinauswollen, ist eine kleine Verwirrung kaum zu vermeiden. Es war ein tolles Bild, auf dem jeden Augenblick Mord und Totschlag auszubrechen drohte. Nach etlichen Stunden jedoch legte sich das Getümmel, und gegen Abend zogen die ruhiger und vernünftiger Gesinnten ohne jede Schwierigkeit ihrer Wege. Am folgenden Tag sah man nur noch wie vergessen da und dort ein einsames Schwein, eine kleine Gruppe Rinder, die laut nach ihren Freunden brüllten, und schon fingen meine Leute an, am ferneren Ende des Platzes die weißen Zeltdächer aufzurollen. Auch der Schwarm der Besucher, der heuschreckenartig durch Frankfurt gewimmelt hatte, war wie mit Zauberschlag verschwunden. Droschkenkutscher, die vor wenigen Tagen ein taubes Ohr für Gold hatten, fuhren traumverloren am Ausstellungsplatz vorüber, vergebens nach Kunden spähend. Krauß ist abgereist; Poggendorff geht morgen, Wölbling mit seinem kleinen Stab von Beamten ist ebenfalls verschwunden. Ich habe noch acht Tage zu tun, bis der Platz abgeräumt ist und alle Rechnungen bezahlt sind. Das gibt mir das halbvergessene Gefühl wieder, stundenlang tun zu können, was mir beliebt, und nicht von einer Zentnerlast erdrückt zu sein.

Es war schön und groß, aber zu viel. Jetzt brauche ich ja kein Geheimnis daraus zu machen und eine Schande ist es nicht, vielleicht das Gegenteil. In den letzten zwei Wochen vor Eröffnung der Schau lag ich etlichemal weinend auf meinem Bett, was mir in meinem Leben in ähnlicher Weise nur einmal passiert ist. Damals aber war ich fast noch ein Junge. Du erinnerst Dich des Gedichtchens unter den Schraubstockliedern, das aus jener Zeit stammt, mit dem Vers:

Das Aug' hat überflutet
Der Träne heißer Lauf;
Das Herz hat mir geblutet,
Und ich bin stolz darauf.

Schöner und tiefer hat dies allerdings Goethe, der große Dichter, zu sagen gewußt:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Daß ich das aber nochmals erleben sollte, hätte ich mir nicht träumen lassen. Stolz bin ich nicht darauf, denn es war nichts weiter als der vorübergehende Zusammenbruch der Nervenkraft, aber schämen – nein, schämen werde ich mich auch nicht. Du brauchst ein paar Trostworte nach diesem Geständnis, und einen guten Witz, wie es die unfreiwilligen meistens sind, soll man nicht unter den Tisch fallen lassen. Im Zoologischen Garten, wo uns die Stadt ein Abendfest gab, bestieg Kiepert, getragen von der Begeisterung des Augenblicks, einen Tisch, um sein warmes Herz über die fröhlich tosende Volksmenge auszuschütten. »Wir können,« begann er, als erfahrener Festredner langsam brüllend, »wir können – der juten Stadt Frankfurt – nicht dankbar – genug sein – –« Weiter kam er nicht. Das jubelnde Gelächter der »juten Stadt Frankfurt« bewies, daß sie ihn zur Genüge verstanden hatte. Gut oder jut, es war ein schöner Schluß.

Zusammenstellungen der Ergebnisse, Übersichten, Rückblicke, und wie die Titel alle heißen, sollen andre anstellen. Die Folgen von dem, was in Frankfurt geschehen ist, werden nicht auf sich warten lassen. Für uns gilt es jetzt, nicht stillzustehen, als ob etwas Abschließendes geschehen wäre, den Gedanken nicht aufkommen zu lassen, als ob wir erschöpft wären. Ende nächster Woche gehe ich nach Berlin. Dort brauche ich zwei Tage für die Direktoriumssitzung. Hierauf nach Breslau, um die möglichen Plätze für die Ausstellung von 1888 einzusehen.

Dann aber in die Berge! Ich glaube, wenn ich vier Wochen lang keinen Menschen sehen könnte, würde ich mein Gleichgewicht wieder gewinnen. Heute zittert das Zünglein noch bedenklich hin und her.


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