Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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75.

Breslau, den 17. Juni 1888.

Der Ausstellungsplatz wird mit jedem Tag leerer, einem Ackerfeld ähnlicher, das der Brache entgegenträumt. Ich desgleichen; und in der wiederkehrenden Stille kann ich ruhiger an die jüngst vergangene Woche zurückdenken.

Dabei will ich nicht versuchen, Dir ein Bild des Verlaufs dieser acht Tage zu geben – es wäre ein vergebliches Bemühen –, sondern nur ein paar Momentaufnahmen zusammenstellen, auf die man gelegentlich auch später noch einen Blick wirft.

Zunächst war ich nicht der einzige, der unter der Aufgabe zu erliegen drohte. Selbst aus Oberbayern hatten sich vierundzwanzig Rinder unter der Führung ihrer Sennen auf den Weg nach Breslau gemacht. Die letzteren, Riesengestalten der Gebirgswelt, in ihrer malerischen Volkstracht, deren wesentlicher Teil aus nackten Knien besteht, hatten keine Ahnung von der Reise, die sie fröhlichen Herzens antraten. Sie waren überzeugt, einem etwas entfernteren Münchner Oktoberfest entgegenzuziehen. Als es aber in immer weitere Ferne ging, als die Berge verschwanden, die Menschen kein Bayrisch mehr verstanden, das Bier eine andre Farbe und einen fremdartigen Geschmack annahm, da fiel den Riesenkindern der Berge das Herz in die kurzen Hosen. In Görlitz zogen sie jammernd ihre Rinder aus den Wagen und weigerten sich, die unnatürliche Reise fortzusetzen. Mit vieler Mühe, mit Schmeicheln und Drohen brachte man sie wieder in den Zug zurück, in dem sie schluchzend, buchstäblich schluchzend, weiterfuhren. Dagegen juchzten und jodelten sie wieder, als sie in Breslau unter dem Schellengeklingel ihrer Rinder durch die staunende Stadt zogen und ihnen der Geschäftsführer ihres Kreisvereins, den sie in diesem Leben nicht mehr zu sehen erwartet hatten, mit einem »Grüß Gott, ihr Leut!« entgegentrat.

Zwei Tage vor der Eröffnung bat mich der liebenswürdige – nein, mehr als das –, der herzensgute Herzog von Ratibor, ihm doch aufzuschreiben, was er in seiner Festrede etwa sagen sollte; »wörtlich, wenn Sie so freundlich sein wollen,« bemerkte er zum Schluß. Es war eine kitzliche Aufgabe für mich, durch den herzoglichen Mund die D. L. G. gebührend zu loben, aber Seine Durchlaucht war von den drei Blättchen in hohem Grade befriedigt, die ich ihm mit verlegenen Entschuldigungen am folgenden Morgen überreichte. Später, auf der Festtribüne, war ich meinerseits etwas erstaunt, als ich dieselben drei Blättchen in der herzoglichen Hand wiedersah, und Durchlaucht unsre Ansprache ohne jegliche Verbesserung der aufmerksam lauschenden tausendköpfigen Festversammlung vorlas. Nun war es aber ein ungewöhnlich stürmischer Morgen, und plötzlich wirbelte ein Windstoß das zweite der Blättchen in zierlichen Bewegungen über die Köpfe der Anwesenden weg. Hundert Hände streckten sich dem Flüchtling entgegen, der sich endlich nach einem letzten, schwindelerregenden Aufschwung niedersenkte, ergriffen wurde, von Hand zu Hand der Tribüne zuwanderte und dem Herzog hinaufgereicht wurde. Mit aufrichtiger Bewunderung beobachtete ich das Verhalten des hohen Herrn während dieses Vorganges. Schweigend, aber wohlwollend lächelnd, beobachtete er die Flucht des Hauptteils seiner Rede, wohlwollend lächelnd nahm er das Blatt wieder in Empfang, und ohne das geringste Zeichen von Unruhe fuhr er sodann fort, die volkswirtschaftliche und ethische Bedeutung der D. L. G. zu schildern. Wie beneidenswert, mit einer solchen wahrhaft aristokratischen Ruhe geboren zu sein! – –

Die Hauptversammlung der Gesellschaft sollte am folgenden Tag in einem Saal in unmittelbarer Nähe des Ausstellungsplatzes stattfinden. Als ich eine Stunde vor ihrem Beginn nachsehen wollte, ob alle Vorbereitungen richtig getroffen waren, fand ich sämtliche Saaltüren verschlossen. Die Schlüssel habe der Wirt zu sich genommen und sei nach der Stadt gefahren. Wütend und gewaltsam brach ich die Tore auf, um zu finden, daß zwar das erforderliche meterhohe Podium für den Vorstandstisch hergestellt war, daß aber die Zimmerleute vergessen hatten, eine Treppe anzubringen, so daß Präsidium und Vorstand, würdige Herren reifsten Alters, es nur mit Aufbietung jugendlicher Turnkünste hätten ersteigen können. Es blieb nichts andres übrig, denn Minuten waren jetzt kostbar: Entschlossen ergriff ich zwei vorübereilende Kellner, rollte mit ihnen Bierfäßchen heran und baute aus denselben eine etwas ungewöhnliche Treppe, die, mit Tischtüchern drapiert, den besten Eindruck machte. Präsidium und Vorstandsmitglieder wunderten sich zwar im stillen über die eigentümliche Bauart; aber niemand kam zu Fall, und die Versammlung verlief programmgemäß in würdigster Weise.

Diese Bierfäßchen waren für mich jedoch »das letzte Stroh« der Kamelslast. Nach der Versammlung lag ich in einem Nebenzimmer in einer Art von Nervenkrampf, und Schultz-Lupitz und andre gute Freunde umstanden mich besorgt und fragten vergeblich, was mir fehle, schleppten Bier herbei und spritzten mir Wasser ins Gesicht.

Es ging vorüber. Den Beweis, daß ich noch nicht ganz ausgespielt hatte, brachte der folgende Tag. Ein Teil der schaulustigen Volksmenge, dem der Eintrittspreis zu hoch war, begann da und dort die Umzäunung des Platzes niederzubrechen und provisorische Eintrittstore zu erbauen. Die Polizeimacht, die sich auf dem Platz befand, schien nicht Manns genug, die ausgedehnte Angriffslinie zu verteidigen, und mit berechtigtem Zorn bemerkte ich in nicht zu großer Entfernung wieder einen Mann, der Bretter abriß. Im Sturmschritt eilte ich an den gefährdeten Punkt. Der freche Bursche ließ sich nicht stören. Empört, alles andre vergessend, packte ich ihn von hinten um den Kopf und begann mit der Kraft, die uns die Verteidigung einer guten Sache verleiht, auf den bereits etwas kahlen Schädel des Übeltäters loszuhämmern. Trotz der heftigsten Erregung war ich erstaunt über den Mangel an Widerstand, den der Mann unter meinen Händen leistete, und ließ ihm einen Augenblick Zeit, sich zu fassen. Da aber stellte sich heraus, daß er einer unsrer eignen Zimmerleute und beschäftigt gewesen war, den zerstörten Bretterzaun wieder herzustellen. Dies kostete mich einen Taler, worauf wir uns mit dem Ausdruck gegenseitiger Wertschätzung trennten.

Rührend war es, meinem wackeren, liebevollen Kiepert am »Empfangsabend« zu begegnen, der in einem der schönen Vergnügungsgärten der Stadt abgehalten wurde, aber überaus spärlich besucht war. Denn die Stadt blieb aus, weil sie von der vermeintlich antisemitischen Landwirtschaft nichts wissen wollte, und diese kam nicht aus den oben zur Genüge angedeuteten Gründen. Da lief nun der Vorsitzende unsers Direktoriums, in seinem warmen Herzen wehmütig der »juten Stadt Frankfurt« gedenkend, zwischen den halb leeren Tischen hin und her und suchte vergeblich nach jemand, den er hätte umarmen können. Auch dies mußte getragen werden.

Und es wurde getragen. Was sind diese kleinen Leiden gegenüber den großen, die uns in dieser Zeit zu zerdrücken drohen. Unser zweiter Kaiser ist nun auch dahin; für ihn eine Erlösung, für das junge deutsche Volk, das noch so wenig versteht, sich ohne feste Führung selbst zu führen, ein schwerer Schlag. Drei Tage vor seinem Tod erhielten wir noch ein Telegramm, in dem er bedauerte, die Ausstellung nicht besuchen zu können, von der er übrigens – nach der Art, wie solche Dinge gemacht werden – schwerlich etwas gewußt hat. Jetzt und bald muß sich zeigen, ob das deutsche Volk reif ist, ein Volk zu sein. Ich wollte, ich könnte freudiger sagen: »Ich hoffe es!« Doch ist es wohl noch zu früh dazu, in diesen Tagen tiefster Trauer.

Morgen packe auch ich meine sieben Sachen zusammen. In den Bergen, diesmal im Ötztal, wo das höchste Dörfchen Europas liegen soll, hoffe ich, wieder hoffen zu lernen. Es zieht doch alles nach oben, wenn es hier unten zu toll wird.


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