Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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26.

Bonn, den 29. August 1884.

Meine Freunde werden ungeduldig, voran der Idealist, der sich mir mit Leidenschaft in die Arme geworfen hat, der Kainitapostel Schultz-Lupitz. »Taten, Taten!« ruft er; »das Werben ist gut, aber die Leute wollen Taten sehen, und die größte Tat, die unser deutsches Volk retten wird, ist ein großartiger, siegreicher Kampf für den Kainit.« Auch Kiepert ruft nach Taten. »Sie haben jetzt siebenhundertzwanzig Mitglieder,« führt er eifrig aus, »mehr als das Doppelte des ›Kongresses‹. Dieses Provisorium erscheint mir überhaupt kein allzu glücklicher Gedanke. Die Leute wollen Taten!« Aus Schlesien und in der Rheinprovinz zeigt man mir, wie 2500 Mitglieder – »übrigens eine unsinnig hohe Zahl« – nicht so schwer zusammen zu bekommen wären, wenn ich nur Vereine beitreten lassen wollte. Das sei so einfach und ganz gebräuchlich. Der Ausschuß des Vereins A, beschließt, daß seine Gesellschaft dem Verein B beitreten wolle. Das Spiel kann sogar auf Gegenseitigkeit beruhen. Verein A bezahlt an Verein B eine bescheidene Pauschalsumme und erhält hierfür »das Organ« des Vereins allwöchentlich, das am Schluß des Jahres eingebunden wird. Es enthält viel »wertvolles Material«, das in dem Organ des Vereins A allerdings auch zu finden ist. Die Mitglieder beider Vereine erfahren oft erst bei dem jährlichen Festmahl, daß sie nun zweimal speisen dürfen, und ihre Zahl sich plötzlich verdoppelt oder gar verdreifacht hat. Oft weiß nach kurzer Zeit nur noch der Sekretär des Vereins etwas von dem Verhältnis zwischen A und B, auf das er seinen Präsidenten gelegentlich aufmerksam macht. So, wurde mir bewundernd gesagt, habe es die alte Ackerbaugesellschaft spielend auf 800 Mitglieder gebracht und sich nicht halb so gequält, wie ich mich und meine Werber quäle. Ohne Neid blicke ich in diese Vergangenheit. Wir brauchen Männer, keine Papierschnitzel; und was die Taten betrifft: wie denken sich meine Freunde Taten in dieser realen Welt? Vor allen Dingen brauchen wir Werkzeuge, lebendige und leblose, Mittel, Geld. Wenn wir die nicht zusammenbringen, ist es klüger, wir gehen wieder nach Haus und träumen weiter. Schultz – ich achte den Mann hoch, sogar hierfür – kann dies prächtig. Aber ich möchte, daß wir die Tatsachen des Lebens mit wachen Augen betrachteten.

»Taten, Taten!« – Und das nennen sie deutsche Geduld.

Nun muß ich aber an eine Geschichte gehen, so langweilig sie Dir vorkommen mag; diese Kainitschwärmerei. Sie hat natürlich, more Germanorum, ein dreieckiges Duell hervorgerufen; das zweite, dem ich die Ehre habe, beizuwohnen; aber sie schlingt wie eine Seeschlange auch um mich und mein Werk Ring um Ring, so daß wir nächstens einer Laokoongruppe gleichen werden. Wenn ich Dir heute das Ungetüm nicht völlig zu entwirren vermag, so trag' es in Ergebung. Auch mir bleibt nichts andres übrig.

Kainit ist ein Steinsalz, das Kali enthält, statt, wie gewöhnliches Kochsalz, Natron. Man hat es bis jetzt nur in der Provinz Sachsen, aber dort in gewaltigen Lagern bis zu 40 Meter Dicke gefunden, wo es über Steinsalzlagern liegt, die bis zur Tiefe von 900 Metern hinabreichen. Diese Lager entstanden, wie die Kochsalzlager, durch Auskristallisieren des Seewassers, wobei sich zuerst das schwerer lösliche Kochsalz und darüber verschiedene leichter lösliche Salze, vor allem das wertvollste, Kainit, niederschlug. Über demselben lagerte sich eine für Wasser undurchläßliche Tonschicht, die verhinderte, daß diese Salze wieder aufgelöst und zerstört wurden. Tatsache ist, daß bis jetzt die Gegend um Staßfurt, das sogenannte Magdeburg-Halberstadter Becken, die einzige Stelle in der Welt ist, wo Kainit in größeren Mengen gewonnen werden kann. Doch auch hier befassen sich nur wenige Bergwerke mit seiner Gewinnung, von denen eines dem preußischen Staat, ein andres dem Herzogtum Anhalt, die übrigen Privatpersonen oder Gesellschaften gehören.

Ursprünglich fand das hier gewonnene Kali ausschließlich und in beschränktem Grade Verwendung in der chemischen Industrie. Die ersten Versuche, den Kainit seines Kaligehalts wegen als Kunstdünger zu verwerten, wurden in den sechziger Jahren mit wechselndem Erfolg gemacht. Liebig hatte gezeigt, daß alle Pflanzen Kali zu ihrer Nahrung bedürfen, geradeso, wie sie Kalk, Stickstoff, Kohle und Phosphor nötig haben, und daß mit jeder Ernte dem Boden eine gewisse Menge Kali entzogen wird. Nun sind aber viele Böden noch immer reich an Kali. Hier ist eine weitere Düngung mit Kalisalzen völlig wirkungslos; denn die Pflanze findet ohne weiteres, was sie bedarf. Dies ist in hohem Grade in den Tonböden der Magdeburger Gegend der Fall. Infolge hiervon waren die ersten Versuche, die hauptsächlich dort gemacht wurden, entmutigend. Dagegen erkannte Rimpau-Kunrau, ein Onkel meines Freundes in Schlanstett und der Vater der deutschen Moorkultur, daß auf Moorböden, die arm an Kalk und Kali sind; eine Düngung mit Kainit ganz außerordentliche Erfolge herbeiführt. Fast gleichzeitig hatte Schultz eine ähnliche Entdeckung gemacht. Ein Mecklenburger, der in Hohenheim studiert hatte, kaufte er ein kleines vernachlässigtes Gut (Lupitz) im sandigsten Teil der Provinz Sachsen, auf dem er ohne diese Entdeckung wahrscheinlich dem wirtschaftlichen Ruin entgegengegangen wäre. Für Moor- und Sandböden war nunmehr aber ein Mittel gefunden, das denselben einen bisher ungeahnten Wert geben konnte. Doch wollten zunächst nur wenige daran glauben, und auch die meisten Gelehrten schüttelten anfänglich die Köpfe.

Fast im Anschluß an diesen wissenschaftlichen Fund, der in den Kreisen der Landwirte auf den armen norddeutschen Mooren das höchste Interesse erregt hatte, bildete sich im Jahre 82 zu Berlin der Deutsche Moorverein, dessen Präsident ein Herr von Wangenheim und dessen Geschäftsführer ein Privatdozent der Berliner Hochschule, Dr. Grahl, wurden. Kurze Zeit zuvor war auch ein Hauptmann z. D. Beck aufgetaucht, der sich, wie Hunderte seiner Standesgenossen, nach einem friedlichen Feld der Tätigkeit umsah und ein solches in einer selbständigen Vermittlungsstellung zwischen der Landwirtschaft und den Kainitbergwerken gefunden zu haben glaubte. Er hatte Geschäftsverbindungen mit den Bergwerken, namentlich mit Schmidtmann, dem Eigentümer der Gruben bei Aschersleben, angeknüpft und trat nun in Beziehung zu dem eben entstehenden Moorverein, an dessen Mitglieder er den Kainit zu billigeren Preisen als auf offenem Markt zu liefern versprach.

Niemand erfaßte die Sache jedoch mit der Begeisterung, die unsern Freund Schultz-Lupitz gepackt hatte. Ein richtiger deutscher Idealist, hatte er den Gegenstand seiner Herzensneigung gefunden, die, wie alle Herzensneigungen, ihren verwirrenden Einfluß nicht verfehlte. Nicht für sich und den Kainit erhob er seine Stimme, es galt die ganze Welt, sonderlich aber das deutsche Vaterland glücklich zu machen, und eine allgemeine deutsche Landwirtschaftsgesellschaft, wie ich sie plante, war der richtige Boden, auf dem ein nie dagewesener Erntesegen am raschesten heranreifen konnte. Deshalb drang er mit nicht zu beschwichtigender Ungeduld darauf, daß wir schon im vergangenen Juni eine aus drei Mitgliedern bestehende »Kainitkommission« ernannten, die das hohe Ziel im Auge behalten und das Wachstum des Pflänzchens fördern sollte.

Mittlerweile hatten aber auch die Bergwerksbesitzer entdeckt, daß ihr Kainit für die Landwirtschaft mehr wert war, als sie selbst geahnt hatten; auch daß gegenseitige Konkurrenz nicht fett mache. Sie bildeten deshalb in aller Stille ein Syndikat und begannen die Preise in die Höhe zu schrauben, so daß schließlich der Zentner Kainit 92 Pfennige kostete. Doch hatte auch dann noch Beck Verbindungen mit dem Ring aufrecht zu halten gewußt und einen – wie er es nannte – »gemeinsamen Bezug von Kainit für deutsche Landwirte« eingerichtet. Er glaubte zunächst den Moorverein unter seinen Fittichen zu haben, was dessen Geschäftsführer verdroß. Dann wollte er das Provisorium des D. L. G. bevormunden, was Schultz-Lupitz, der sich als Vater alles Kainits fühlt, zu scharfem Widerstand herausforderte. Aber auch Grahl, der Moorvereinsmann, der wie Beck unsrer Kainitkommission zugewählt worden war, und Schultz-Lupitz, ihr Vorsitzender, waren nach kurzer Zeit keineswegs gute Freunde. Daß der Moorverein dem Provisorium des D. L. G. gegenüber eine leitende Rolle spielen wollte, war für Schultz unerträglich. Nebenbei glaubte jeder der drei Herren von den andern zweien, daß sie heimliche Verhandlungen mit dem Syndikat pflegten, um für ihre Sonderinteressen – Grahl für seinen Moorverein, Beck für seinen »gemeinsamen Bezug« und Schultz für die kainitbedürftige Menschheit im allgemeinen – schändliche Sondervorteile zu ergattern. Die Folge von all dem ist, daß die durch Reibung erzeugte Wärme innerhalb der Kainitkommission nicht mehr weit von ihrem Höchstpunkt, das heißt von einer vernichtenden Explosion sein kann, und daß es dem Syndikat, das wir als das Urprinzip alles Bösen ansehen, nicht schwerfällt, jede Abmachung, die ihm nicht paßt, nach Belieben hinzuhalten.

Mich in Bonn sieht man offenbar als ein neutrales Gefäß an, in das jeder der Kämpfenden vertrauensvoll seine Galle ausschüttet. Ich erhalte lange Briefe von Beck über Schultzens unerträglichen, unpraktischen Idealismus, von Schultz über Becks selbstsüchtige Auffassung der Güter der Menschheit (Kainit) und beide beklagen sich bitter über Grahls Hinterlist, ohne anzugeben, worin dieselbe besteht. Es ist ihnen neuerdings nicht mehr möglich, auch nur Briefe zu wechseln. Dieselben müssen über Bonn und durch meine Hände gehen, was von allen Seiten als eine Art von Desinfektion angesehen wird. Und das Merkwürdige dabei ist, daß sie alle mit lauter Stimme das gleiche fordern: einen Preis von 75 statt 85 Pfennige für den Zentner Kainit.

Dabei ruft mir Schultz fast drohend zu: »Taten, Taten! Im Namen der hungernden Menschheit!« und Beck, auf Schultz weisend: »Taten, Taten; aber ohne diese unerträglichen Tiraden!« Nur Grahl hat, wie es scheint, soeben eine kleine Tat fertig gebracht, indem er seinen Gegner Beck, »dessen Tätigkeit ich voll und ganz anerkenne«, wie er mir schreibt – in dessen Abwesenheit aus dem Kainitkonzilium hinauswerfen ließ. Ich freue mich auf Becks nächsten Brief. – –

So wird hierorts das schöne Wort: »Mit Männern sich geschlagen« zur Tat. Aber gut ist es doch, daß uns das Leben gelegentlich auch eine andre Seite zukehrt. Vorige Woche besuchte ich in Segenhaus bei Neuwied auf besondere Einladung die Frau Fürstin-Mutter zu Wied, Prinzessin von Nassau, die Mutter der Königin von Rumänien. Eine wahrhaft fürstliche Frau von echter Menschlichkeit. Die Art, wie sie mir Gedichte ihrer Tochter vorlas und wie dabei das schlicht Menschliche den Prunk durchbrach, in den das zierliche, juwelenbedeckte Manuskript gebunden war, werde ich sobald nicht vergessen. Lieder der Mutter am Sterbebett und am Grab eines Königskindes. Wie doch alle Herrlichkeit der Welt zerfließt vor dem einfachen großen Schmerz alles Menschentums, der Vergänglichkeit! – Die hohe Frau schrieb mir heute, als eifriges Mitglied der D. L. G., »das zu sein sie stolz mache«, daß sie nicht ruhen werde, bis ihr Sohn, der Fürst, seinen Beitritt ebenfalls erklärt habe.


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