Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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65.

Ischgl im Paznaun, den 20. August 1887.

Es regnet. Ein sanfter, warmer Sommermorgenregen nach einem heißen Tag und einer gewitterschwülen Nacht. Sonst säße ich wohl nicht hinter einem Tintenfaß in dieser heuduftenden, blaugrünen Gebirgswelt.

Verzeihe, daß ich Dich in Schruns sitzen ließ, inmitten der angenehmsten Gesellschaft von befreundeten Sommerfrischlern. Ich konnte den Anblick von Menschen nicht mehr ertragen, auch der besten nicht, und ahnte schon in Berlin und Breslau, daß dies kommen würde. Dort erschien mir nach längerem Studium der Karte von Tirol das Paznaun der richtige Platz für mein Einsamkeitsbedürfnis. Schon der Name klingt mürrisch und abstoßend. Das war, was ich brauchte. Den wilden, engen Taleingang kannte ich. Man kreuzt die Schlucht auf der Arlbergbahn unter einem verfallenen Bergschloß. Einen Ausgang schien das Tal nicht zu haben, denn die paar, kaum sichtbar punktierten Gebirgspfade, die ins Montafon hinüberführen, kommen für gewöhnliche Salontiroler nicht in Betracht. Im Tal selbst liegt nur ein größeres Dörfchen, vier Stunden vom Eingang; weiter oben, wo sicherlich mehr Kühe als Menschen wohnen, zwei kleine Weiler. Das war das Ziel meiner heimlichen Sehnsucht, als wir zusammen nach Schruns fuhren. Ich habe mich in meinen Berechnungen nicht getäuscht.

Das Wirtshäuschen des Orts ist klein, aber ganz erträglich eingerichtet, die Wirtin eine prächtige Frau, der Wirt irgendwo auf einer Alm bei seinem Vieh. Es gibt Brot, Salz, Milch, Butter, Käse, Eier, Forellen und einen ganz erträglichen Tiroler. Wer damit nicht auszukommen meint, ist ein entarteter Schlemmer. Und die Hauptsache: ich bin der einzige Einsamkeits- und Luftkurgast des ganzen Tals.

Hier bleibe ich, bis ich den Anblick von Menschen wieder ertragen kann: ein paar Tage, ein paar Wochen. Schon heute ist mir wohler. Habe Geduld; ich habe sie in den letzten Monaten auch haben müssen.

Es war gestern von Landeck hierher trotz der Hitze ein herrlicher Marsch. Zunächst entlang der Arlbahn bis Wiesberg. Du siehst, es gibt noch Leute, die neben einem Bahngeleise herlaufen, und Feldwege, auf denen es sich lohnt. Dann durch die rauschende Klamm in das grüne Seitental, in dem die Welt der Menschen mit jedem Schritt stiller wurde und die weite Gottesnatur lauter und liebevoller zu sprechen anhub. In Ischgl wies mich ein betagtes Weiblein, das das Dorf allein zu bewohnen scheint, nach dem »Gamsbock«, der mir in der ersten halben Stunde ganz allein gehörte, denn die Wirtin mit ein paar Jungen war unten im Tal und holte Heu. Nachdem sie dermaßen für das liebe Vieh gesorgt hatte, kam auch die Reihe an mich. Ihr »Kaiserschmarrn« ließ mich in eine Zukunft leidenschaftsloser Zufriedenheit blicken, die ich in den ersten Hotels von Interlaken und Pontresina umsonst gesucht hätte.

Den Abend brachte ich unter einem Tannenbaum zu und sah in den schäumenden Gebirgsbach, der das Tal durchzieht. Es geht noch, oder richtiger gesagt, es geht wieder. Du weißt, daß ein seelen- und lebenskundiger Engländer behauptet, ein Mensch sei nichts wert, der nicht von Zeit zu Zeit drei Stunden lang in ein fließendes Wasser oder in glimmende Kohlen sehen könne, ohne sich zu rühren. Es geht wieder!

Du läßt mir gerne ein paar Wochen Zeit, wieder Mensch zu werden. Schreiben will ich Dir ja alles, was hier passiert, nämlich nichts. Und das ist das Schönste in diesem Paradies der Ruhe.

Die Sonne blitzt draußen in tausend Regentropfen und vergoldet das ganze Tal. Ich muß doch nachsehen, ob es sich auch nach einem milden Regen unter der Tanne von gestern wohnen läßt.


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