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Die Uhr war schon dreiviertel acht. Bent hatte fest geglaubt, daß Mimi kommen würde. Sollte er sich doch getäuscht haben? Schon Marthes wegen mußte sie kommen.
Er lehnte sich weit über das Gitter, um den Weg zu überblicken, der nach dem heftigen Gewitterregen noch naß war.
Rechts leuchtete der See in der Abendsonne zwischen den jungen Birken. Ein leises Plätschern im Schilf hin und wieder, das leise Pfeifen eines jungen Vogels, der hohle Klang einer Axt vom Kiefernwald auf der Halde, und dann wieder der tiefe, ungestörte Atemzug des frühen Sommerabends.
Bent konnte keine Ruhe finden. Er ging auf und ab und spähte durch die Birken quer über den See, ob ihr weißes Kleid sich nicht drüben zeigen würde.
Er ging mißmutig weiter, erreichte eine Wegbiegung, erinnerte sich, daß sie ihn dort an der verabredeten Stelle nicht sehen konnte, und eilte zurück.
Als er die Gittertür erreichte, hörte er Ruderschläge, das Boot konnte er der Bäume wegen nicht sehen. Er folgte dem Laut, hörte eine Kette rasseln und sah im nächsten Augenblick Mimi zwischen den Bäumen, im Begriff, das Boot festzumachen.
Er pfiff. Sie blickte auf. Er erkannte ihr Kleid, es war das einfache schwarze, mit dem Spitzenkragen, das sie in Rom getragen hatte. Sein Herz schlug heftig, während er auf sie zueilte und zu ergründen versuchte, was seiner harrte.
Sie war blasser als neulich, vielleicht aber lag es nur an dem schwarzen Kleide.
Das Boot war vertäut. Sie glättete ihren Rock und ging ihm langsam entgegen.
»Ich konnte nicht früher kommen,« sagte sie, »wir haben heute später gegessen.«
Er drückte ihr die Hand. Sie zog sie hastig zurück und zeigte ihm, wo ihre Villa lag: dort drüben das Weiße hinter der Landzunge. Sie hatte das Boot genommen, anstatt den Weg um den See zu machen. Das Boot gehörte ihrem Hauswirt. Eine herrliche Fahrt war es gewesen – nur zehn Minuten bis zur Insel, um sie herum und dann noch zehn Minuten bis hierher. Sie ruderte oft, wenn die Sonne hinter den Berggipfeln verschwunden war; solange sie am Himmel stand, blendete es auf dem Wasser.
Sie sprach nervös und hastig. Ihr Gesicht hatte einen hilflosen, versonnenen und gleichzeitig kindlichen Ausdruck, der ihm zu Herzen ging.
Ein heftiges Verlangen überkam ihn, sie an sich zu ziehen und ihre Angst zu vertreiben.
Mitten in ihrem Redeschwall nahm er ihre Hand, küßte sie und flüsterte:
»Liebste, warum willst du gegen Unabwendbares ankämpfen?«
Aus ihren Augen blitzten ihm Zorn, Willensstärke, Schmerz und Liebe zugleich entgegen.
Als sie seine Enttäuschung sah, wurden ihr die Augen feucht, und ein unsagbar betrübter Ausdruck legte sich um ihren Mund.
»Bent,« bat sie, »laß mich nicht bereuen, daß ich gekommen bin.«
Er antwortete nicht. Sie gingen schweigend Seite an Seite. Die Wärme ihres jungen Körpers schlug ihm wie eine Woge entgegen. Sie zog ihn mit ihrem ganzen Wesen an sich, ohne es zu wissen und gegen ihren Willen.
Sie ging wie im Traum neben ihm. Schließlich beugte sie den Kopf in der Erkenntnis, daß er recht hatte: Es konnte nicht anders sein, warum dagegen ankämpfen?
Sie nahm sich mit aller Kraft zusammen, trat einen Schritt zur Seite, als risse sie sich aus einer Umarmung, und flüsterte:
»Du darfst dich nicht von Marthe trennen.«
Er blieb stehen und sah sie erstaunt an, fand aber keine Worte.
Als sie wieder ein Stück gegangen waren, sagte er:
»Ich bekam heute morgen einen Brief von Marthe. Sie hat den Franzosen getroffen, der in Rom um sie warb, du weißt wohl. Sie sind täglich zusammen.«
Mimi blickte hastig auf. Und dann erzählte er – es kam überstürzt –, wie das Jahr vergangen sei, wie er sich mehr und mehr von Marthe entfernt habe. Sie hatten keine gemeinsamen Gedanken, keine Interessen. Wie es zugegangen war, daß sie allein in die Schweiz reiste, und daß er sie allein reisen ließ, weil er die Einsamkeit ihrer Gesellschaft vorzog. Er übertrieb, ohne es zu wissen. Was ihm erst bei der Trennung, ja, eigentlich erst nach dem Wiedersehen mit Mimi klar geworden war, erschien ihm jetzt als der eigentliche Grund. Er sprach von Marthes Vorliebe für Gesellschaft und Putz – Mimi wußte es schon lange – von ihrem mangelnden Verständnis für alles, was ihn bewegte.
Er redete, bis er ihre Augen auf sich fühlte und sah, daß sie voller Tränen standen.
Wie kann man sich so auseinanderleben – wie war es möglich, daß sie ihn lassen konnte? So dachte sie, er sah es an ihrem Blick.
»Du könntest es nicht,« sagte er und griff nach ihrer Hand.
Sie ließ sie ihm und lauschte mit ganzer Seele, bis er schließlich zu Ende war.
Er sah, was sich in ihrem Herzen rührte: Die Hoffnung, er könne frei werden, ohne daß es ein Unglück für Marthe bedeutete; und er sah, wie dieser Gedanke sie heiß und unruhig machte.
»Wenn du dich in deinem Gefühl für Marthe irren konntest,« sie sah zur Seite, während sie es sagte, »dann irrst du dich vielleicht auch in deinem Gefühl für mich.« Ein Jubel ging durch sein Herz, weil sie damit unfreiwillig ihre Liebe gestand.
Er wollte sie seines Gefühls versichern, als die Erinnerung an Harriet plötzlich in ihm aufstieg.
Sie merkte, daß er zögerte, und machte eine angstvolle Bewegung. Bevor er etwas sagen konnte, fragte sie ahnungsvoll:
»Hast du vor Marthe eine Frau geliebt?«
Kaum hatte sie es gesagt, als sie errötete und über ihre Worte erschrak.
Er wollte es leugnen, er hatte Harriet nie geliebt, das fühlte er jetzt stärker als je – und dennoch, hatte er gezweifelt, als er sie in seinen Armen hielt?
Sie bereute, daß sie sich so dreist in sein Leben gedrängt hatte, – er sah es wohl. Sie wog ihn auf der Wage ihrer Liebe, besorgt, daß sie ihn zu leicht befinden würde. Und er fühlte mit einer unsagbaren Erleichterung, daß hinter dem Bent, der die erste beste Leidenschaft für Liebe gehalten, der aus Eitelkeit, von einer günstigen Gelegenheit verlockt, geheiratet hatte, daß hinter diesem Bent, den sie verwerfen mußte, ein anderer lebte, ein tieferer Bent, der ihrer wert war, den ihre Liebe erkannt und sich erwählt hatte.
Das alles fühlte er. Sie aber ahnte nichts davon. Sie fragte aus ihrem tiefen, treuherzigen Mädchengemüt heraus, und die Frage wurde von der Angst vor einer Enttäuschung diktiert. Sie ahnte nicht, daß, indem sie fragte, ihre Liebe den eigentlichen Bent zu Hilfe rief, gegen den, auf den kein Verlaß war.
Ohne es zu wissen, entriß sie ihn Marthe in diesem Augenblick unwiderruflich, obgleich sie bereit war, ihr Glück der zu opfern, die wie eine Mutter für sie gewesen war.
Und er erzählte ihr von Harriet, ehrlich, ohne etwas auszuschmücken. Er erzählte auch von Annemarie, von seinem Leben, von dem Leben junger Männer, nicht, um sich freizusprechen, sondern damit sie wissen sollte, wie die Welt war.
Schonend erzählte er, während sie lauschend neben ihm ging, und er sah, wie bald ein verwunderter, bald ein schmerzvoller Ausdruck über ihr Gesicht glitt. Einmal nickte sie nachsichtlich lächelnd, als ob sie sagen wolle: auch ich kenne das Leben. Und als er von neuem von Harriet sprach, sah sie ihn an, und ihr Blick sprach: du brauchst es nicht zu wiederholen, ich verstehe dich. Ich wollte nur wissen, wie es kam, daß du dich so irren konntest.
Er nahm ihre Hand, die schlaff herabhing und ihn beim Gehen mehrfach gestreift hatte.
»Begreifst du jetzt, daß ich nicht mehr irre?«
Sie zögerte einen Augenblick, dann sah sie zu ihm auf. Es zitterte um ihren Mund, und ihre Augen blickten ihn an, strahlend vor Glück und doch erstaunt und schmerzlich.
Er sah, daß sie sein war mit ganzer Seele. Und dennoch wagte er nicht, ihren Kopf zwischen seine Hände zu nehmen; auf ihrer Stirn stand etwas, das ihn zurückhielt.
Die Sonne war schon lange untergegangen, über ihnen wölbte sich die helle Nacht, windstill und lautlos.
Sie waren den Pfad zwischen den Birken auf und ab gegangen, jetzt standen sie und blickten über den See.
Gerade vor ihnen lag die Insel mit ihrer Takelung von ernsten Birken, die sich in den sternenlosen, klaren Himmel emporreckten. Im Westen lag über dem dunklen Tannenwald ein roter Schein, den die Abendsonne hinterlassen hatte.
Mimi mußte zu ihrem Boot zurück, das sie nachtsüber nicht auf dieser Seite des Sees liegen lassen konnte.
Er folgte ihr, und sie wies ihn nicht zurück. Sie sah am Steuer und sah ihn mit großen Augen an, während er ruderte.
Sie kamen zur Insel, legten an und banden das Boot an einer Baumwurzel fest. Er half ihr beim Aussteigen, und sie standen unter einer Birke und blickten zum Horizont hinüber.
Es war, als hätten sie ein herrenloses Schiff in Besitz genommen und steuerten jetzt auf das ferne Land und den rötlichen Schimmer im Westen zu.
Sie hielten sich bei den Händen und vertrauten sich ihre geheimsten Gedanken an, ohne daß ein Wort über ihre Lippen kam.
»Wir müssen jetzt weiter,« sagte sie und zog ihn mit sich.
Sie gingen um die Insel herum, die ihnen wie ihr Eigentum erschien. An einer Stelle war eine Grube mit den verkohlten Resten eines Feuers. Dahinter ein Stückchen weichen Rasens zwischen dem Birkengebüsch, als ob ein Menschenpaar einst dort einen Herd und ein Heim gehabt habe.
Darauf bestiegen sie wieder das Boot und kehrten zur Welt zurück.
Nachdem sie das Boot am Ufer befestigt hatten, begleitete er sie bis zu dem Wege, der zu ihrer Villa führte, die auf einem Bergabhang in einem kleinen Hain von schlanken, weißstämmigen Birken lag. Sie zeigte ihm ihr Fenster.
Zum Abschied reichte sie ihm die Hand und fragte, als ob sie die ganze Zeit nur daran gedacht habe:
»Glaubst du nicht, daß es zwischen dir und Marthe wieder gut werden kann?«
Er schüttelte den Kopf und sah sie traurig an. Sie wandte sich sinnend zum See, der seinen Traumschimmer auf ihr Gesicht warf, ihre Augen waren ganz bleich.
»Schreib ihr noch nicht!« bat sie.
»Warum soll ich warten?«
Sie blickte über den See.
»Vielleicht schreibt sie es selbst,« sagte sie leise.
»Und wenn nicht?«
»Ich kann nicht, Bent,« erwiderte sie verzweifelt. Sie zog ihre Hand aus der seinen und fügte leise hinzu: »Sie ist wie eine Mutter gegen mich gewesen.«
Er sah sie lange an.
»Ich kann nicht ohne dich leben,« sagte er still. Er sah, daß sie mit Tränen kämpfte.
»Ich bleibe noch eine Woche hier, wenn wir uns jeden Tag sehen können, will ich Marthe nicht schreiben, bevor wir auseinandergehen müssen.«
Sie zögerte, dann hob sie ihr Gesicht zu ihm auf.
Die weiße Stirn, die gesenkten Lider, das leise Beben in den tiefen Mundwinkeln – aber noch beherrschte sie sich.
»Als Freunde,« flüsterte sie.
Dann hob sie den Blick und begegnete dem seinen – ihre Augen wurden dunkel, die Lippen teilten sich, blühten auf, und eine Macht, die stärker war als ihr Wille, zwang ihren Kopf gegen seine Schulter.
Seine bebenden Hände umfaßten ihre Wange und ihren Nacken; sie schluchzte an seiner Brust.
Langsam ließ das Weinen nach. Noch ein tiefer, tiefer Seufzer, dann beherrschte sie sich wieder.
Sie hob sich auf die Zehen und berührte seine Wange mit ihren Lippen; darauf eilte sie fort.
»Morgen?« bat er und streckte die Hand nach ihr aus.
»Am Zaun,« nickte sie, »zur selben Zeit.«
Auf dem Gartenweg blieb sie noch einmal stehen und wandte sich um, ihm nachzusehen.
Wie er sie dort in dem geheimnisvollen Schimmer der bleichen Nacht stehen sah, mit dem leuchtenden Blick und den geöffneten Lippen, seltsam ergreifend in ihrer neuen Schönheit, wurde er von einem unerträglichen Sehnsuchtsgefühl ergriffen.
»Mimi!« seufzte er.
Sie hob die Hand, halb abschiedwinkend, halb tröstend, darauf eilte sie ins Haus.
Er wartete, ob sie noch einmal am Fenster erscheinen würde.
Vergeblich. Langsam ging er in der lauschenden Nacht davon, ihren Kuß noch auf seiner Wange.