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Edith war krank. Der französische Arzt, den de Suire empfohlen hatte, meinte, daß es Klimafieber, die Frühjahrskrankheit sei. Das Fieber aber stieg, tags darauf war die Lungenentzündung festgestellt.
Die Kleine starrte mit großen, fieberheißen Augen von einem zum andern, als wundere es sie, da man ihr die Atemnot und den Schmerz nicht abnahm.
Marthe und Mimi wachten abwechselnd.
Wenn Bent kam und Marthe ihn im Entree empfing, konnte er in ihren Augen lesen, wie es um Edith stand. Etwas Fassungsloses lag in Marthes großem, sonst so unerschrockenem Blick. Ihr Gesicht bekam dadurch einen kindlichen Ausdruck, der Bent neu war. Sie bedurfte des Zuspruchs und wollte beständig von Bent getröstet werden.
Bent brachte ihr Blumen, Schokolade, eine kleine Kamee von dem Antiquitätenhändler aus der Quatro Fontane, oder was ihm sonst einfiel, und womit er ihr eine Freude machen zu können meinte. Sie nahm die Gaben mit einem wehmütigen Lächeln entgegen, wie ein Kind, das weiß, daß es dadurch getröstet werden soll.
Die vielen Nachtwachen bleichten ihr sonst so frisches Gesicht. Wenn sie auf und nieder schritt, mit einem Ohr stets zum Krankenzimmer lauschend, glich sie mit dem elfenbeinweißen Antlitz und dem dunklen Haar einer Schlafwandlerin. Schließlich übernahm Mimi die Nachtwachen ganz, so daß Marthe bis zum Morgen schlafen konnte. Um acht Uhr löste sie Mimi dann ab, die sich unausgekleidet aufs Sofa legte, bereit, jeden Augenblick, wenn es nötig war, zur Stelle zu sein.
Obgleich Mimi stärker war, jedenfalls an Willenskraft, wurde auch sie angegriffen. Bent konnte es ihren Augen ansehen. Sie wurden größer, gleichsam schwerer; es zuckte über den hochgeschwungenen Brauen, als litte sie beständig an Kopfschmerzen, oder als beschwere die große Haarkrone ihren Scheitel. Die Lippen waren in einem weichen, stillen Schmerz geschlossen, der sie ausdrucksvoll, fast schön machte. Ueber ihren langsamen Bewegungen lag ein Schweigen, über Gang und Haltung eine Stille, die ihr fast etwas Erhabenes gaben.
Der neunte Tag kam heran. Der Arzt war morgens und mittags dagewesen. Abends war er eingeladen, aber er hatte seine Adresse hinterlassen, damit man ihn holen konnte, wenn eine Veränderung eintrat.
Das Fieber war auf einundvierzig Grad gestiegen. Das Kind lag mit zuckenden Lidern und rang wimmernd nach Luft.
Marthe saß, mit überwältigender Schwäche kämpfend, am Bett und hielt die kleine, heiße Hand.
Bent stand beobachtend hinter ihrem Stuhl, und sah, wie die kranke Brust kämpfte. Er meinte gehört zu haben, daß der neunte Tag kritisch sei, aber er wollte nicht davon sprechen, um Marthe nicht zu erschrecken.
Mimi stand am Kopfende des Bettes und schob das Kissen zurecht. Bent sah, wie sie sich dabei vorneigte und das Gesicht des Kindes lange mit ängstlicher Spannung beobachtete. Sicher wußte sie mehr, als Marthe ahnen durfte. Also doch die Krisis!
Er sah, daß Mimis Hände bebten und ihre Lippen sich fest aufeinanderpreßten. Eine beklemmende Angst ergriff ihn, nicht nur um das Kind – auch um Marthe. Sie saß zusammengesunken mit niedergeschlagenen Augen da und fühlte die kleine brennende Kinderhand in der ihren. Alle anderen Empfindungen waren entschlummert; die Spannung der letzten schlaflosen vierundzwanzig Stunden war zu groß für sie gewesen.
»Geh' nun ins Nebenzimmer und ruhe etwas,« sagte Mimi und faßte sie sanft bei der Schulter.
Marthe sah nicht auf, schüttelte nur den Kopf.
»Marthe,« bat Mimi und ihre Stimme hatte einen fremden, strengen Klang. »Was sollen wir machen, wenn du auch krank wirst? Um Ediths willen mußt du dich schonen.«
Marthe begriff langsam. Sie sah mit einem ausdruckslosen Blick auf, lächelte schwach und erhob sich.
»Gute Nacht!« sagte sie und streichelte Bent mit der Hand, die noch warm von der des Kindes war, über die Wange.
»Soll Bent nicht bleiben?«
Mimi nickte, ohne aufzusehen.
Ja, es ist die Krisis, dachte er. Sie wollte Marthe vom Bett entfernen. Die Stirn wurde ihm kalt; was würde geschehen?
Als Marthe mit schwankenden Schritten hinausgegangen war, trat er an Mimi heran.
»Ist es die Krisis?« flüsterte er.
Sie nickte, als habe sie seine Frage erwartet.
Er griff unwillkürlich nach ihrer Hand. Sie sah mit einem scheuen Blick zu ihm auf und zog sie langsam zurück. Er nahm Marthes Platz am Bett ein.
»Kann man gar nichts tun?« fragte er, nachdem er das kleine, verzerrte Gesicht mit den bebenden Lidern lange angestarrt hatte.
Mimi sah mit einem trostlosen Blick auf und öffnete ihre Hände, als wollte sie ihm zeigen, wie leer und hilflos sie waren. Ihre Augen wurden nah, sie wandte sich ab, um ihre Tränen vor ihm zu verbergen.
Er betrachtete ihre gebeugte Gestalt auf dem Bettrand. Das schwere Haar begann sich zu lösen. Sie trocknete sich die Augen – und ein seltsames Gefühl, halb Ehrerbietung, halb das Bedürfnis zu helfen, griff ihm ans Herz. Wieviel mag sie in sich verbergen? dachte er.
Er ließ seine Gedanken wandern – von seiner ersten Begegnung mit Marthe im Park der Borghese, bis zur Reitbahn in Kopenhagen, von dem kleinen Hotelzimmer in Paris zum Garten der Medici mit den geheimnisvollen Perspektiven, dann zur Via Croce und zu dem frisch erblühten Mund.
Da erhob sich Mimi. Sie beugte sich über das Kopfkissen und blickte das Kind atemlos an. Auch er hatte sich erhoben, wieder fühlte er die kühle Feuchtigkeit auf seiner Stirn.
»Bent!« rief sie.
Sie griff angstvoll nach ihm, und er nahm ihre Hand. Sie hatte ihn zum erstenmal beim Vornamen genannt. Sein Herz hörte einen Augenblick auf zu schlagen. Es ist vorbei, durchzuckte es ihn. Er beugte sich vor, um zu sehen; sein Kopf war dicht neben dem ihren.
Die Augenlider in dem kleinen Gesicht waren ruhig geworden – das gedämpfte Licht der Nachtlampe brach sich in großen Schweißperlen, die von der weißen Stirn über die Schläfe sickerten. Im selben Augenblick begriff Bent, daß die Krisis überstanden war, daß der Schweiß Sieg bedeutete.
Ueberwältigt legte Mimi ihren Kopf gegen seine Schulter und weinte die Erlösung an seiner Brust aus.
Er neigte sein Gesicht über ihren Scheitel, spürte den starken Duft ihres Haares und berührte es mit seinen Lippen.
Sie hob ihren Kopf, schob ihn behutsam von sich und beugte sich herab, um die Stirn des Kindes zu trocknen.
»Soll ich Marthe wecken?« fragte Bent.
»Das wäre Sünde.« Sie sah mit einem glücklichen Lächeln auf. »Wir wollen sie schlafen lassen.«
Er stand eine Weile zögernd.
»Geh' jetzt,« sagte sie, ohne ihn anzusehen.
»Gute Nacht, Mimi!«
»Gute Nacht, Bent!«
Sie reichte ihm die Hand, ohne ihn anzusehen. Aber lange vermochte er den leisen Druck dieser Hand nicht zu vergessen.