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XII

Sie waren spät, erst gegen zwei Uhr, zu Bett gegangen. Bent hatte noch eine Stunde wach gelegen und über ihren Wortwechsel nachgedacht. Sein Gemüt beruhigte sich nicht so leicht, wenn es in Aufruhr gewesen war.

Marthe atmete fest und regelmäßig wie ein Kind, die Lippen halb geöffnet, während er wachte und sich wunderte. Es war die alte Geschichte! Böse Worte, die er nicht unterdrücken konnte und die ihn dennoch schmerzten, glitten an ihr ab, ohne mehr als die Oberfläche zu berühren. Ein großer erstaunter Blick, nicht einmal zornig, und wenn es hoch kam, einige Tränen über seine »Lieblosigkeit«. Häufig aber tat sie alles mit einem hellen Lachen ab, sie könne ihm nicht böse sein, denn er sei doch ein guter Junge.

Nach kurzem Schlaf erwachte er zur gewohnten Zeit. Marthe schlief noch fest. Er nahm sein kaltes Bad und kleidete sich schnell an.

Hinaus an die Luft! Der Morgenspaziergang war seine liebste Stunde, denn sie gehörte ganz ihm. Dann machte er sich wieder zu eigen, worauf er tags vorher hatte verzichten müssen; dann eilten seine Gedanken dorthin, wo sie am liebsten weilten. Er ging bei jedem Wetter. Schon vor der Haustür war sein Gemüt im Gleichgewicht, so daß er sein Tagewerk beginnen konnte.

Als Bent an diesem Morgen auf die Straße trat, funkelte ihm der nordische Frühling so strahlend entgegen, daß ihm die Augen fast schmerzten.

Es war Ende April. Die Kastanien begannen aufzuspringen. Die grünen Blattfinger spreizten sich triumphierend aus der braunen klebrigen Hülle, als hätten sie Handschuhe abgestreift, um Licht und Luft zu fühlen!

Rom! dachte er mit einem Seufzer und sah die halb entfaltete Kastanie vor sich, die Marthe und er durch das Gittertor im Park der Akademie bewundert hatten, an dem Tage, als er ihr sein Vertrauen schenkte und ihren ersten Kuß empfing. Der ganze blendende römische Frühling stand vor ihm. Das Licht und die Schönheit – und seine Freiheit.

Er betrachtete den Baum, er betrachtete die Sonnenblitze auf den funkelnden Seen, die sich mitten durch Kopenhagen wie ein breiter Flußlauf hinziehen. Der Himmel war niedriger und blasser als der römische, aber wie rein, wie offen, wie stark! Eine herrliche Zeit stand bevor. Ueber Nacht war sie genaht, während Marthe und er sich über alles und nichts zankten. Er füllte die Lungen mit einem lange zurückgehaltenen Atemzug, und es ging ihm wie ein perlendes Rieseln durch alle Adern, war wie ein Bad, das alle Bitternis der Nacht fortspülte.

Während er noch überlegte, welchen Weg er einschlagen sollte, fiel sein Blick auf die Straßenbahn, die zur Küste hinausfuhr.

Wald und Meer! jubelte es in ihm, und er wußte, wohin er wollte.

Die Straßenbahn glitt so dicht an den Gärten der Landhäuser vorbei, daß er vom Perron liebkosend mit seiner Hand über das junge Grün der Büsche streifen und im Vorbeigleiten eine duftende Blütentraube, rot wie tropfendes Blut, von einem Strauch pflücken konnte.

Trunken vom Licht, atmete er die frische Luft, die vom blauen Sund herüberkam, der hin und wieder sonnengebadet zwischen den frischgeweißten Villen aufblitzte und die Augenblicke mit goldenem Leben erfüllte.

Wo die Häuser aufhörten, sprang Bent von der Straßenbahn. Vor ihm lag der Sund plötzlich offen mit seiner blanken Spiegelfläche, in der sich die weißen schwellenden Wolken opalen brachen, während die Wellen leise plaudernd gegen den Strand schlugen.

Zwei kleine Kutter lagen nebeneinander vor Anker und spielten mit ihren Spiegelbildern, die ein sanfter Windhauch aus Osten plötzlich in leisen Wellenlinien auflöste. Welch eine Macht war doch in diesem leichten Hauch! Die weite Seefläche erschauerte unter ihm! Zu klarer Bläue wölbte sich der Himmel über dem atmenden Wasser, und aus der Höhe tönte der schrille Ruf jagender Möwen. Lange stand Bent in Betrachtung verloren.

Ja, auch er war ein Teil der in Licht und Klarheit webenden Natur, auch er ein Kind der Allmutter, von ihr gewiegt und genährt.

Er träumte, bis eine gellende Straßenbahn ihn weckte und in die Nüchternheit seines täglichen Lebens zurückrief. Bent Amloth im Büro! Bent Amloth vor seinem gestrengen Chef, um gleichgültige Dinge bemüht, von gleichgültigen Dingen erfüllt!

Bent Amloth, der schrieb, was man von ihm verlangte. Ja, das war Bent Amloth, mit der schönen Karriere, zu Neujahr Regierungsassessor geworden, der Sohn des Departementschefs, der beneidete Neffe der Kammerherrin, der letzte seines Geschlechts, pflichtgetreu hinter einer Maske – aber doch der eigentliche Bent, ein Zuschauer des Lebens, ein verwunderter und betrübter Zuschauer, der stets drauf und dran war, aufzuspringen und fortzulaufen – aber wohin? Zu sich selbst? Wo war er zu Hause? Er hatte keine Heimat –

Bisher hatte er geglaubt, daß die Musik sein eigentliches Ziel sei. Jetzt glaubte er es nicht mehr. Die Musik war wohl ein Weg – aber einer von vielen. Die Töne brachten nur Botschaft von dem wahren Heim, das in unerreichbarer Ferne zu liegen schien – wirklich und unwirklich zugleich, wie das Walten der Natur, wie der Rausch der Stunde, den er eben empfand – etwas, wofür es keine Worte gab, keinen Ausdruck, weil es das Leben selber ist.

Würde er es jemals erreichen, würde er sich jemals von den täglichen Aufgaben, denen er sich verpflichtet hatte, und an denen Marthe mit Leib und Seele hing, freimachen können?

Wenn Marthe ihn verstände, wenn sie soviel Musik in der Seele hätte, daß sie ihn an einem Frühlingsmorgen wie heute bei der Hand nehmen und mit ihrem strahlenden Lächeln zu ihm sagen könnte: Komm, Bent, laß uns in die Wirklichkeit hinauslaufen, mögen die andern Masken und Kulissen und das ganze Spiel für sich behalten!

Nein, weder bei Marthe, noch in seiner schönen Wohnung war er daheim. Nur in Träumen, nur in seinen Morgengedanken fand der wahre Bent seine Zuflucht; die Wirklichkeit des wahren Lebens schenkte ihm nur der Zufall, wie an diesem sonnigen Morgen.

Es war spät geworden. Bent aber wollte heute nicht der Uhr gehorchen, ein einziges Mal nur wollte er seinen Verpflichtungen trotzen.

Statt die Straßenbahn zur Stadt zu nehmen, um zur rechten Zeit ins Ministerium zu kommen, ging er in entgegengesetzter Richtung nach dem Walde.

Aber er hatte nicht damit gerechnet, daß der Ehemann und Regierungsassessor mitkommen und ihm die Freude am Ungehorsam verderben würden. Es kam zu einer Abrechnung, während er unter den uralten Buchen schlenderte, die auf den ersten Frühlingsregen warteten.

In dieser Stunde, als alles zum Licht strebte, kam auch in ihm die Wahrheit zum Durchbruch.

Ja, die Ehe war eine Enttäuschung. Er wußte es schon lange. Marthe war wie jemand, der all seinen Schmuck an sich trägt: darum war sie so strahlend; aber sie hatte keine Reserven in ihren Schubladen, keine geheimen Fächer in ihrer Seele. Sie war wie ein Fisch, der dicht unter dem Wasserspiegel schwimmt, dessen Schuppen in der Sonne blitzen, der von allen bewundert wird, und der die besten Bissen von der Oberfläche wegschnappt. In die Tiefe aber taucht er nie, dort kann er nicht atmen und er kennt die Wesen nicht, die dort hausen.

Während der Flitterwochen, in den beständig wechselnden Tagen in der Schweiz war alles herrlich gegangen, sie hatten zusammen an der leuchtenden Oberfläche gespielt. Als sie aber zum Ernst des Lebens nach Hause kamen, da änderte es sich. Marthe freilich ahnte nichts von dem Zwiespalt in seinem Gemüt.

Sie und die Kammerherrin jedoch hatten sich gleich gefunden. Bald konnte er Tante Idas Stimme aus Marthe sprechen hören, wenn er überredet werden sollte, an etwas teilzunehmen, was ihm zuwider war – seiner Karriere und seines Namens wegen.

Er hatte an einer glänzenden und mondänen Geselligkeit teilnehmen müssen; der Winter war mit Diners, Bällen, Bazaren, Bridgepartien, Sport und Reiten vergangen. Gott sei Dank, daß die Saison jetzt wieder vorbei war.

In Rom hatte es ihn in Erstaunen gesetzt, daß Marthe sich langweilte, wenn sie einen Abend zu Hause waren; er hatte es auf die fremde Umgebung geschoben. Jetzt aber sah er, daß sie es sich in ihrem eigenen Heim, mit den alten stattlichen Möbeln aus ihrem Vaterhause, auch nicht gemütlich machen konnte. Wenn sie nicht ausgebeten waren oder selbst Gäste hatten, ging es ins Theater.

Während der ersten Monate hatte er es von neuem versucht, ihr Interesse für Musik zu wecken. Und sie hatte ihn zu Konzerten begleitet, um ihm eine Freude zu machen. Als sie ihm aber nach einem Beethovenabend eines berühmten Pianisten gestand, daß zwei Stunden Beethoven und nichts als Beethoven nicht zum aushalten seien, hatte er die Lust an ihrer Begleitung verloren.

Das Quartett, auf das er sich lange gefreut, war nicht zustande gekommen. Er fürchtete, daß sie mit gewohnter Offenheit die Künstler verletzen würde. Es waren Menschen, die für ihre Musik lebten. Bent sah zu ihnen auf und beneidete sie. Er hätte mit Freuden seine Stellung im Ministerium gegen den Platz des Cellisten in der Kapelle eingetauscht.

Gab es überhaupt einen Berührungspunkt zwischen ihm und Marthe?

Bent war stolz auf sie, wenn er sie unter Menschen beobachtete. Ohne daß sie sich darum bemühte, sammelte sie stets die Aufmerksamkeit auf sich. Und sie liebte es, von allen bewundert zu werden, ihr klingendes Lachen verriet ihre kindliche Freude darüber. Daß freilich das Urteil ganz gleichgültiger Menschen für sie so viel bedeutete, bekümmerte ihn oft. Er meinte, sie sei zu intelligent, um alle Komplimente für bare Münze zu nehmen.

Auch die Gewagtheit ihrer Toiletten kränkten ihn in seiner Besitzerfreude; das war der einzige Punkt, wo er Eifersucht empfand.

Sie wußte, daß sie einen wunderbaren, elfenbeinweißen Leint hatte und tat alles, um seine Wirkung noch zu erhöhen. Sie hatte einen schönen, weißen Hals und zeigte ihn gern. Im Grunde war es ganz unschuldig, Bent sah es an ihren Augen. Nichts erfreute sie mehr, als Eifersucht in seinem Blick zu lesen. Es war die unmittelbarste Evafreude, und mit ihrer gewohnten Offenheit verbarg sie sie nicht, so daß zu seinem Aerger auch andere es sahen und sich darüber belustigten.

Wenn sie dann nach Hause kamen, gab es gereizte Aussprachen. Sie versuchte ihn an der Hand von Modezeitungen davon zu überzeugen, daß ihr Kleid ganz korrekt gewesen sei. Und er konnte es nicht unterdrücken, ihr ins Gesicht zu sagen: wenn man so ganz Oberfläche sei wie sie, müsse man der Mode mit Diskretion folgen. Es endete meist mit Tränen, und Bent mußte dann seine Worte zurücknehmen.

Außerdem gab Edith Veranlassung zu Meinungsverschiedenheiten. Bent hatte sich gelobt, daß er ihr ein guter Vater sein wolle, um so mehr, als Mimis Liebe dem Kinde jetzt fehlte.

Während ihrer Hochzeitsreise hatte Mimi eine Stellung als Kinderfräulein bei einer Gutsbesitzersfamilie in Schweden angenommen. Sie wollte nicht drittes Rad am Wagen sein, hatte sie Marthe geschrieben. Der eigentliche Grund aber sei der, meinte Marthe, daß sie, taktvoll und feinfühlig, wie sie von jeher gewesen, nicht im Wege sein wollte, wenn Marthe wieder Haus führte und ihre Eltern und Bents Familie bei sich sehen wollte. »Ich kann mich in ihre Seele hineinversetzen,« sagte Marthe, als sie Mimis Brief in Luzern erhielt, »aber ich ahne nicht, wie ich ohne sie fertig werden soll.«

Bald aber waren die Konflikte wegen Ediths Erziehung zwischen den Ehegatten da, denn Marthe konnte es nicht über sich gewinnen, dem Kinde etwas zu versagen. Als Bent ihr eines Abends vorhielt, daß Edith unter Mimis Pflege gesünder und umgänglicher gewesen sei, gab sie es offen zu und wünschte unter Tränen, Mimi möchte wieder bei ihnen sein.

Auch mit ihren Geldangelegenheiten stand es nicht zum besten. Trotz Marthes großem Einkommen hatte Bent bereits ein paarmal bei der Kammerherrin um Zuschuß bitten müssen …

 

Ein leises, knarrendes Geräusch ließ ihn aufblicken, und er entdeckte den kleinen dunkelbraunen Kopf eines Eichhörnchens, der zwischen den dichten, sonnenbeschienenen Aesten herablugte.

Unbeweglich blieb er stehen und beobachtete das Tierchen, wie es mit der buschigen Rute zierlich wedelte und aufmerksam um sich schaute. Plötzlich war es, wie ein Schatten, verschwunden, und Bent vernahm das knarrende Geräusch von einer anderen Stelle.

Nach kurzer Zeit erschien es wieder mitten auf dem Stamm, alle vier Krallen an die Rinde geheftet, die Rute wie ein Steuer ausgestreckt. Dann sah er es rotleuchtend zwischen den Zweigen in der Höhe verschwinden.

Gleich darauf zeigte sich ein anderer spitzer Kopf zwischen den noch blätterlosen Zweigen, und jetzt begann eine wilde Jagd, bald längs des Stammes, bald unsichtbar in der Krone, bald im Nachbarbaum. Bent sah die Tiere mit langen federnden Sprüngen dahinflitzen, die buschigen Ruten bald wie Wimpel, bald wie Segel aufgestellt, mit einem Satz waren sie unten im Grase und dann wieder oben in den Aesten.

Bent atmete tief, gerührt und bis ins Herz getroffen von diesem kleinen und doch so wichtigen Erlebnis!

Er kam zu einer Lichtung. Mitten auf der grünen Wiesenfläche standen Hirsche. Mit unbeschreiblicher Anmut neigten sie die geweihten Häupter und rupften von dem Grase.

Mit Vorsicht, um das Wild nicht zu verscheuchen, ging er quer über die Lichtung, zu einer Anhöhe, wo ein einsamer Riesenbaum stand.

Auf dem Abhang lag ein junges Mädchen und blickte vor sich hin. Den Hut hatte sie auf einen Ast des alten Stammes gehängt. Eine Haarsträhne hing ihr feucht von der Frühlingswärme übers Ohr. Er sah den blauen Schimmer der Augen und das Lächeln, das um ihre halbgeöffneten Lippen spielte. In ihrem Schoß lagen halbausgesprungene Buchenzweige. Ihre weiße Hand badete sich in dem kühlen Grün.

Bent verbarg sich hinter einem Buchenbaum, um das liebliche Bild zu betrachten.

Da tauchte ein junger Mann auf der anderen Seite der Anhöhe auf, die Arme voll von Zweigen. Sie drehte den Kopf und streckte die Hände nach ihm aus. Er ließ die Zweige fallen und kniete neben ihr nieder. Er umfaßte ihren Kopf mit beiden Händen und hob ihn zu sich empor.

Ein ungeheuer wichtig Ding, das wichtigste von allen. Das Leben, das sich von Herz zu Herzen ergießt. Bent nahm auch daran teil, mit tiefer Entbehrung nahm er teil daran, denn zu ihm war es nicht gekommen, von ihm war es nicht ausgegangen.

Er ging still im Schutz des Stammes davon, preßte seine leeren Hände gegeneinander und kehrte zu seinen Pflichten zurück.


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