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Bis zum späten Nachmittag trieb sich Bent ziellos im Wald herum. Er hatte seit dem Morgen nichts genossen, war nur gegangen und gegangen und nun zu Tode ermattet.
Er nahm sich zusammen und begab sich zum Hotel, einen rotgemalten Bau aus Holz, der abseits am Ende des Sees lag. Es waren nur wenige Gäste da, die Saison hatte eben erst begonnen.
Er ließ sich ein Zimmer geben und aß auf einer gedeckten Veranda zu Mittag. Durch den neu angelegten Garten hatte man einen Blick auf den See und eine Reihe zierlicher Sommerhäuser, die von dem waldbewachsenen Berggipfel herableuchteten.
Nach dem Essen schlenderte er längs des Seeufers zwischen jungen Birken auf die Villenstadt zu. Aber wie sollte er Mimi finden? Nicht einmal den Namen ihrer Herrschaft hatte er erfahren. Er folgte dem Pfad zwischen Häusern, aber nirgends fand er ihre Spur.
Er lag wach.
Die Luft war schwer und drückend. Hinter der dünnen Gardine leuchtete die Nacht auf dem See. Nichts rührte sich draußen, seltsam unheimlich war dieses verhaltene Atmen.
Er litt unter der Wärme, der Schweiß stand ihm in Perlen auf der Stirn, und die traurigen Gedanken, die ihn nicht verlassen wollten, ohne daß er einen Ausweg fand, erhöhten noch das peinliche Gefühl von schicksalsschwangerer Eingeschlossenheit, das die Luft seinem gequälten Gemüt verursachte. Der Druck von außen verschlimmerte die Qual der inneren Spannung. Es war ein Kreislauf, der ihn verheerte, bis Gedanken und Gefühle in einen Zustand von Müdigkeit zusammenflossen, der weder Wachen noch Schlafen war.
Bald schien eine handgreifliche Macht von oben ihn niederzudrücken und trotz seines Flehens ihn nicht freigeben zu wollen; bald stand Mimi über ihn gebeugt, mit ihrem verschleierten Blick, der zu sagen schien: Was tatest du?
Bald sah er das Gesicht seiner Mutter in weißem Nebel, aus dem die starren dunklen Augen leuchteten, deren Ausdruck er nicht zu deuten verstand, wie sehr er sich auch mühte. Bald meinte er, daß Marthe neben ihm läge und weinte – er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, um sie zu trösten, konnte sich aber nicht rühren. Dann wieder stand Mimi am anderen Ufer des Sees und streckte die Arme bittend nach ihm aus. Er wollte sich ins Wasser stürzen und zu ihr hinüberschwimmen, seine Glieder aber saßen wie in einem Schraubstock.
Er machte eine verzweifelte Anstrengung – und erwachte mit Herzklopfen, nach Atem ringend, mit dem Gefühl, endlich seine Fesseln gesprengt zu haben – und fand sich selbst in einem dämmerigen Zimmer, in Schweiß gebadet.
Der Druck ließ nach, er konnte wieder denken.
Marthe war ihm ganz entrückt. Der Gedanke, ihr wegen der Scheidung schreiben zu müssen, bedrückte ihn nicht. Kinder, die ein Hindernis sein konnten, waren nicht da. Geld hatte sie genug, um ohne seine Hilfe zu leben. Freilich würde er seiner Karriere schaden, und er hörte schon die Vorwürfe der Kammerherrin. Aber was war das? Sein Glück, sein Leben stand auf dem Spiel.
Jetzt stürzte der Regen herab. Er war so plötzlich gekommen, daß er bei dem Geräusch zusammenzuckte. Er streckte sich wie befreit, während er dem erquickenden Plätschern und fernen Donnern lauschte.
Nur eine wirkliche Schwierigkeit war zu überwinden: Mimis Widerstand. Und er sprach abwechselnd zu ihrer Vernunft und zu ihrem Herzen.
Du hast keine Verantwortung zu tragen, flüsterte er, du hörst ja, daß ich nicht mehr mit Marthe leben kann, seit ich weiß, daß ich dich liebe. Ob du mein werden willst oder nicht, von Marthe muß ich mich trennen, oder glaubst du, ich könnte weiter mit ihr leben, wenn mein Leib und meine Seele bei dir sind?
Warum willst du nicht die meine werden, warum willst du uns beide unglücklich machen, weder Marthe noch sonst jemand gewinnen etwas durch deine Weigerung …
Es war schon heller Tag, als er endlich einschlief.
Als Bent gefrühstückt hatte, ging er denselben Weg, den er am Abend zuvor gegangen war.
Die Natur war nach dem heftigen Regen festlich erneut. Das blanke Laub glänzte. Die bewaldeten Abhänge schienen erst in der Nacht ausgesprungen zu sein. Der Himmel leuchtete wie von einer glücklichen Botschaft; und mitten in dem glitzernden See schwamm über ihrem eigenen Spiegelbild ein Wunder von einer Insel, nicht größer als ein Dreimaster, mit einer Takelage von hohen, ernsten Birken.
Bent spähte vorsichtig zwischen den Häusern. Er durfte sie nicht aufsuchen, das wußte er. Er wollte nur, ungesehen, einen Schimmer von ihr erhaschen.
Schließlich gab er es auf und trat den Rückweg an.
Am Nachmittag blieb er zu Hause und ging zeitig zu Bett; der Gedanke an ihren Brief beunruhigte ihn.
Am nächsten Morgen ging er dem Postboten entgegen. Der alte Mann hatte nichts für ihn und lächelte in seinen Bart, als er die Enttäuschung des Stadtherrn sah.
Im Hotel waren außer ihm nur noch einige Beamtenfamilien, und daß man sich in der Zwischenzeit über ihn informiert hatte, das sah er an dem feierlichen, abgemessenen Gruß, den ein junger Diplomat nicht anders erwarten konnte.
Der Tag wollte kein Ende nehmen. Bent trieb sich im Wald herum, setzte sich auf dem Kirchhof auf eine schattige Bank und dachte an Mimi. Und plötzlich durchschoß ihn der Gedanke, daß er sie vielleicht nie wiedersehen würde. Das Blut stieg ihm zu Kopf, und er eilte heimwärts.
In der drückenden Sommernacht hatte auch Mimi wach gelegen – grübelnd und ratlos.
Die seltsame Begegnung war mit der Gewalt einer Naturmacht auf ihr sonst so ruhiges, starkes Gemüt eingedrungen und drohte sie zu überwältigen. Große, heiße Wellen durchfluteten sie.
Sie liebte Bent und wußte es seit jenem Morgen in der Via Croce; aber sie hatte ihr Gefühl erstickt – er gehörte ja nicht ihr – und es war ihr geglückt, ihre Seelenruhe durch Arbeit zu bewahren. Es war gar nicht so schwer gewesen, so erschien es ihr jetzt.
Als sie seinerzeit Marthe schrieb, daß sie nicht länger bei ihr bleiben wolle, war es fast in kindlichem Trotz geschehen; ja sie hatte ihm gegrollt, daß er sie von denen trennte, die ihr in der ganzen Welt die Liebsten waren.
Ihre gesunde Vernunft hatte ihr gesagt, daß sie überflüssig sei, und ihr starker Instinkt hatte sie belehrt, das beste sei, sich fernzuhalten. Gehorsam gegen sich selbst und voller Zärtlichkeit für die, die sie nun einmal in ihr Herz geschlossen, hatte sie jenen Brief geschrieben.
Vergessen konnte sie nicht; aber sie war zu gesund, zu sehr auf die Pflichten des täglichen Lebens eingestellt, die sie mit ihrer liebevollen Natur auf sich genommen hatte, als daß ihre geheime Liebe ihren Sinn getrübt und sich gegen die Vernunft aufgelehnt.
Und nun war ein Sturm der Gefühle entfesselt; Empfindungen bedrängten sie, die sie erröten machten, Gedanken des Trotzes, die sie entsetzten und durch ihre unbeherrschte Kraft demütigten! Und dennoch mitten im Schmerz ein unsagbares Glücksgefühl, mitten in der Scham Seligkeit – Bent, Marthes Mann!
Eine jubelnde Empörung, der alles gleichgültig erschien, der aber im nächsten Augenblick eine panische Reue folgte!
Ja, sie verlangte nach ihm mit allen Fasern ihres Wesens, und wies ihn dennoch im selben Augenblick von sich.
Ich will ihn nie mehr sehen, stammelte sie schluchzend, verzweifelt und verzichtet. Im nächsten Augenblick aber richteten sich der alte Trotz, der alte Mut wieder kampfbereit empor. So rang sie mit sich, bis Tränen ihr Erlösung brachten.
Dann legte sie sich still nieder und ließ die Erinnerungen an sich vorüberziehen.
Sie dachte an ihre Mutter, die nur für ihr Kind und ihren Beruf aufopfernd gelebt, nachdem sie dem Manne entsagt, der ihr das Glück der Liebe geschenkt, weil er einer anderen gehörte.
Sie hatte in dem großen Garten gelebt, wo die Alten in der Sonne saßen und von ihrer Jugend und ihren Teuren sprachen. Sie half ihnen, wo sie nur konnte. Sie liebten sie und wollten sie immer um sich haben. Sie baute ihre Weltauffassung auf dem auf, was sie sie erzählen hörte.
Da trat Marthe in ihr Leben. Wie sie die erwachsene, die schöne Tante bewunderte! Marthe gewann sie durch ihr frisches Lachen, ihre strahlenden Augen, wenn sie den Arm um sie legte, sie küßte und sagte, sie wollten gute Freunde sein. Marthe vertrieb ihre Scheu und ihr kindliches Schmollen. Es war ein Fest, wenn sie kam.
Ach, jener Abend, als ihre Mutter die Augen geschlossen hatte! Die unsagbare Einsamkeit, das trostlose Dunkel. Marthe rettete sie daraus und führte sie ins Leben ein.
Und Edith, wenn sie ihre mageren Aermchen um ihren Hals legte, sich an ihrer Wange ausweinte, sie mit ihrer stürmischen Kinderliebe überschüttete!
Die ersten wundervollen Tage in Rom, als das Leben sich vor ihrem staunenden Blick auftat, selbst die Zeit, als Marthe sich von der festlichen Stadt mitreißen ließ, und sie mit Edith allein zu Hause blieb.
Und dann jener Abend, als sie ins Zimmer kam und ein Fremder am Flügel sah, hochgewachsen und blond, dem sie als Pflegetochter vorgestellt wurde. Anfangs hatte er ihr nicht besser gefallen als all die anderen, die sie sich durch ihr mürrisches Wesen, das sie nie ganz abstreifen konnte, fernhielt.
Erst an dem Morgen in der Via Croce war es ihr klar geworden, wie es um sie stand, als sie zusammen Obst einkauften, und er ihr all die Blumen schenkte, ganz ohne Grund, als ob es nicht anders sein könne – –
Und jetzt war es zwischen ihnen ausgesprochen worden, jetzt wußte sie, daß er sie liebte. Hier lag sie und kämpfte mit ihm, aber ach, mehr noch mit sich selbst.
Nein, sie wollte ihn nicht wiedersehen. Nicht ihn fürchtete sie, sondern all das, was in ihr auf der Lauer lag und ihrer Vernunft und ihrem Willen trotzte.
Wenn er sich wieder vor ihr niederwarf, wenn er noch einmal um sein Leben bat, wie seine Augen es getan hatten, als er sagte: Mimi, willst du mich im Stich lassen? woher sollte sie dann die Kraft nehmen, ihm zu widerstehen, jetzt, wo sie wußte, wie schwach sie in Wirklichkeit war?
Es gab keinen anderen Ausweg als den, den ihr Instinkt ihr vorschrieb.
Einen Brief aber hatte sie ihm versprochen. Was sollte sie schreiben? Sie wußte, wie verzweifelt er sein würde, wie schwer es für sie selbst war.
Was sollte aus ihrem Leben werden? Ach, wie leicht wurde es mir damals in Rom, zu verzichten, dachte sie bei sich. Wofür soll ich jetzt leben – wie soll ich es ertragen, ihm fern zu sein, wenn er beständig in meinem Herzen ist?