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Oskar Maria Graf als Erzähler

Vor zwei Jahren hat Oskar Maria Graf seine schönen Kalendergeschichten Oskar Maria Graf, Kalender-Geschichten. 2 Bde. München: Drei Masken Verlag (1929). 408 S., 402 S. erscheinen lassen. »Geschichten vom Land« hieß der eine, »Geschichten aus der Stadt« der andere Band, und man hat zu dieser Einteilung richtig bemerkt, daß sie seinen eigenen Werdenszwiespalt dokumentiert, »den Bauernsohn vom Starnberger See, der in der Stadt München zum Dichter wurde«. Auf eine festgefügte Gesellschaft nun aber ist er in beiden Lebenskreisen nicht mehr gestoßen. Und so sind diese »Kalendergeschichten« weniger Behältnisse einer Moral, die ihnen jeder Leser entnehmen könnte, als bittend vorgestreckte Hände, denen man, vorübergehend, schamhaft den »Sinn« wie einen Bettelpfennig zustecken möchte. Diese Geschichten waren pointenlos, entschädigten für billigen Gehalt durch eine lautere und exakte Beobachtung und waren schüchterne Versuche, die alten Kalendergeschichten in eine Richtung zu lenken, die eine neue Schule die »epische« nennt. Denn dieser Begriff, der zuerst am Theater exemplifiziert wurde, hat doch auch für die Prosa seinen guten Sinn, und da kann man sagen, daß er das Lehrhafte gegen das Insichgekehrte, den Erzähler gegen den Romancier zur Geltung bringt. Das mündlich Tradierbare, das Gut der Erzählung, ist nämlich von anderer Beschaffenheit als das, was den Bestand des Romans ausmacht. Es hebt den Roman scharf gegen alle übrigen Formen der Prosa: Märchen, Sage, Sprichwort, Schwank, Witz ab, daß er aus mündlicher Tradition weder kommt noch in sie eingeht. Die Geburtskammer des Romans ist, geschichtlich gesehen, die Einsamkeit des Individuums, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch aussprechen kann, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Die Fähigkeit, Gehörtes weiterzugeben und im Erlebten den Geist der Geschichte, das Erzählbare zu erwecken, diese simple Gabe, objektiv und interessant zugleich zu sein, sie ist gebunden an die reine Erschlossenheit des inneren Menschen. Durch jede, noch die schlichteste Erzählung geht ein großer Luftzug; wir machen uns selten einen Begriff davon, wieviel Freiheit dazu gehört, die kleinste Geschichte zum besten zu geben. Jede Befangenheit raubt dem Erzähler ein Stück seiner Sprachfertigkeit und nicht nur, wie man meinen möchte, ein Thema. Es ist also eine Lebensbedingung des Epischen im neuen Sinne, dies Private, aus welchem der Roman sein Recht nimmt, zu liquidieren. Da nun das vornehme Sichselbstgenügen, die Sublimierung des Privaten in jenem Schweigen, an welches der Roman grenzt (während das Erzählen reihum geht), bei uns ein Privileg des Bildungsromans ist, so ist es nur natürlich, daß er unsern neuen Epiker provoziert. Geht also der Bildungsroman auf den Aufbau einer Persönlichkeit aus, wird der Epiker es lieber mit ihrem Abbau halten. Im Bildungsroman hat der Held seine Erlebnisse; die formen seine Persönlichkeit. Hier, im epischen Raum, macht die Versuchsperson Erfahrungen, und die vermindern sie. Das ist der Fall des Bahnhofsvorstandes Bolwieser, Oskar Maria Graf, Bolwieser. Roman eines Ehemannes. München-Berlin: Drei Masken Verlag A.-G. (1931). 359 S. den wir in seiner Maienblüte im Vollbesitze eines Sexus kennen lernen, welcher sein armseliges Eheleben höchst prunkvoll ausstattet. Wedekind hätte das Dämonische solch hemmungsloser Sexualität dargestellt. Für Bolwieser kommt es anders. Nicht Abgründe sind es, die der Trieb ihn hinunterstürzt, nur bescheidene Kellerstufen, die er ihn Schritt für Schritt abwärts leitet. Da unten liegt dann, kühl eingelagert wie Kartoffeln, die Moral auf seinem Wege, zu der die »Kalendergeschichten« nicht immer vordrangen. Natur, so mag sie lauten, ist gewohnt, mit Material sich zu behelfen, wie sie's grade hat, und das bewährt sie, wenn's hart auf hart kommt, selbst am Menschenmaterial. Bolwieser, der sture Spießer, der verstockte Kleinbürger, auch er ist nicht unverwendbar, man muß ihn nur abbauen, eingehen, verkümmern lassen, so wird er noch ein ganz handliches Stück im Haushalt Oberbayerns, in den er gehört. Er stirbt der Welt und vor allem den Frauen ab, aber je mehr seine menschlichen Züge schrumpfen, desto vertrauenerweckender treten die kreatürlichen an ihm heraus, und am Ende ist der beinah namenlose Fährmann, der aus dem einstigen Eisenbahner geworden ist, der unfehlbare Wetterprophet der Umgegend, ohne daß er darum nach Menschen fragt, geschweige von ihnen sich fragen ließe. »›Kalt Wetter wird's‹, sagen die Bauern, wenn der Xaverl seine verhutzelte Pelzmütze, auf der kleinen Bank vor der Hütte sitzend, ausbessert. Es braucht noch lange nicht danach auszusehen. – ›Landregen kommt‹, sagen sie, wenn er das Boot nach Feierabend zudeckt. In der anderen Frühe fällt rundum grauer, endloser Regen.« Das ist kein Roman, sondern die Geschichte von einem, der auszog und der die Kunst lernte, niemand mehr im Wege zu sein. Vielleicht ist es sogar ein Märchen: Die Verwandlung des Brunststiers ins Wettermännchen.


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