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Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift.

Leipzig: Verlag von E. A. Seemann (1928-)1930. VIII, 100 S.

Braucht dies Werk eine Empfehlung? Ich glaube nicht. Es wird ein großer Erfolg werden. Und ein durchaus verdienter. Es steht auf der Höhe der graphologischen Wissenschaft. Es steht auf der Höhe der graphologischen Intuition. Es steht auf der Höhe der sprachlichen Darstellungskunst.

Es zeugt zudem – bei Werken mit psychoanalytischem Einschlag ist das erwähnenswert – von höchstem Takt. Wenigstens stellen Kürze und Präzision dieses Buches sich von einer gewissen Seite als Takt dar. Es sagt nirgends zu viel und sagt nichts zu oft. Daher ist seine Stimme mindestens ebensosehr erweckend wie unterweisend. Endlich ist es von jener seltenen produktiven Bescheidenheit, die den bezeichnet, der ganz und gar im Innern seiner Sache lebt, dem der Gedanke, ihr gegenüber selbstgefällig sich in Positur zu setzen, gar nicht kommen kann.

Wenn es etwas gegeben hat, was am Betrieb der Graphologie für den lauteren Menschen peinlich sein konnte, so war es die Süffisanz, mit der sie, in ihren vulgären Vertretern, sich an die Neugier und an die Klatschsucht der Spießer wandte, um denen nun ›Die Wahrheit‹ über Krethi und Plethi, eine Galerie entschleierter Charaktere von der Urahne bis zur Stütze der Hausfrau zu eröffnen. Die neueren wissenschaftlichen Versuche von Klages, von Ivanovic und anderen haben damit natürlich gar nichts zu schaffen. Aber so wehrhaft und eifersüchtig hat wohl das integrale Rätsel Mensch, das durch alle Analysen nur immer reiner ins Rätsel geläutert hindurchgeht, noch keiner gewahrt.

Das ist der rühmliche Ausdruck einer Methode, von welcher der erwähnte Takt der Darstellung nur die Erscheinung ist. Neu ist diese Methode nicht. In welchem Grade aber hier mit ihr Ernst gemacht wurde, das ist an diesem Werk das Entscheidende. Es stellt den Versuch dar, die Handschrift auch des zivilisierten Menschen durchaus als Bilderschrift zu erfassen. Und die Autoren haben den Kontakt mit der Bilderwelt in einem vordem unerreichten Maß zu bewahren verstanden. Man hat das Rechts und Links, das Oben und Unten, das Schräg und Steil, das Schwer und Fein einer Handschrift von jeher für ausschlaggebend gehalten. Aber darinnen geisterte immer noch ein vager Rest von Analogie und Metapher. Wenn es bei einer engen Schrift hieß: »Der hält das Seine zusammen, d. h. er ist sparsam«, so war das zwar richtig, aber die Sprache hatte die Kosten der graphologischen Einsicht zu tragen. Auch die »seelische Schaukraft«, die Klages aufruft, um sie zum Richter über das Formniveau, über das Mehr oder Minder von Reichtum, Fülle, Schwere, Wärme, Dichtigkeit oder Tiefe der Schrift zu machen, wird an entscheidenden Stellen auf das Bild stoßen, das wir schreibend in unsere Handschrift wickeln. Und daher das relative Recht, gegen Klages es geltend zu machen, daß die Erklärung der Handschrift als »fixierte Ausdrucksbewegung« nicht hinreicht. Denn »sie sagt: die Schrift ist determiniert durch die Geste – aber man kann diese Theorie erweitern: die Geste ist ihrerseits determiniert durch das innere Bild«.

Es ließe sich leicht entwickeln, wie gerade diese Bindung an das Bild die Gabe hat, im Graphologen den Widerstand gegen die Versuchung moralischer Schriftauswertung hervorzubringen, der heut und bis auf weiteres von ihm verlangt werden muß. Es wäre ja noch schöner, wenn er von sich aus über dergleichen Fragen sich mehr zu sagen getraute, als heute ein Mann von Ehre verantworten kann – nämlich gar nichts. Oder mit den Worten der Verfasser zu reden: »Die Beobachtung [...] lehrt, daß der Mensch sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten seiner Eigenart in sich trägt.« Alles Moralische ist ohne Physiognomie, ein Ausdrucksloses, das unsichtbar oder blendend aus der konkreten Situation herausspringt. Es kann gewährleistet, aber nie und nimmer gewahrsagt werden. Wohin es führt, darüber sich hinwegzusetzen, hat gerade die bedeutende Graphologie von Klages gezeigt. Wenn die Verfasser von seinem Grundbegriff, dem Formniveau, abrücken, an dessen Höhe oder Tiefe Klages zugleich den sittlichen Gradmesser für den Charakter des Schreibenden zu besitzen glaubt, so wird das durch die Abstrusitäten gerechtfertigt, die durch die Lebensphilosophie dieses Forschers seiner Graphologie auferlegt worden sind. »Lebensfülle der Menschheit und Ausdrucksgehalt ihrer seelischen Niederschläge sind seit der Renaissance in beständigem, seit der französischen Revolution in reißendem Absinken begriffen; dergestalt, daß auch die reichste und begabteste Persönlichkeit von heute als an einem unvergleichlich ärmeren Medium partizipierend, nur allerhöchstens die Fülle dessen erreicht, was vor vier oder fünf Jahrhunderten Durchschnitt war.« Daß solche Gedankengänge für den Streiter Klages ihren Ort und ihr Recht haben, ist nichts Neues. Es wäre aber unleidlich, die Graphologie als Schwingungsmedium für solche Lebensphilosophien oder Geheimlehren sich denken zu müssen. In welchem Grade es ihr gelingt, von jedem Sektenwesen unabhängig sich zu behaupten, ist für den Augenblick ihre Existenzfrage. Und es ist klar, daß die Antwort nicht im Sinne einer Abschließung, sondern nur der schöpferischen Indifferenz, eines »extrême milieu« möglich ist.

Der Standort solcher schöpferischen Indifferenz ist natürlich niemals auf der goldenen Mittelstraße zu suchen. Denn diese Indifferenz ist dialektischer, unablässig erneuter Ausgleich, kein geometrischer Ort sondern Bannkreis eines Geschehens, Kraftfeld einer Entladung. Für die Theorie der Handschriftendeutung nun ließe, andeutungsweise, dieser Bereich geradezu durch den dynamischen (nicht mechanischen) Ausgleich zwischen den Lehren von Mendelssohn und von Klages sich darstellen. Ihr Antagonismus ist darum so wichtig, weil er so fruchtbar ist. Er liegt begründet in jenem von Leib und Sprache.

Die Sprache hat einen Leib und der Leib hat eine Sprache. Dennoch – die Welt gründet auf dem, was am Leibe nicht Sprache ist (dem Moralischen) und an der Sprache nicht Leib (dem Ausdruckslosen). Dahingegen hat freilich die Graphologie durchaus es mit dem zu tun, was an der Sprache der Handschrift das Leibhafte, am Leibe der Handschrift das Sprechende ist. Klages geht von der Sprache aus: will sagen vom Ausdruck, Mendelssohn vom Leibe: will sagen vom Bild.

Glückliche Hinweise führen in den bisher noch kaum geahnten Reichtum dieser Bilddimension ein. In vielem gehen die Verfasser auf Bachofen und auf Freud zurück. Aber sie sind aufgeschlossen genug, auch im Unscheinbaren, wo nur immer es Wert und Ausdruck für unser Lebensgefühl gewann, sich einen Bilderfonds zu eröffnen. Nichts geistvoller und doch sachgemäßer als der folgende Vergleich zwischen Handschrift und Kinderzeichnung, in dem die Zeile den Erdboden darstellt. »Die Buchstaben stehen seit einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung [...] auf der Zeile, wie ihre Urbilder, Menschen, Tiere und Dinge, auf dem Erdboden standen. Man darf sich durch die Tatsache der unter die Erdoberfläche stoßenden Unterlängen nicht davon abhalten lassen, die Beine auf der Zeile zu suchen, wenn man sich Buchstaben in körperliche Darstellungen zurückverwandelt. Auf gleicher Höhe, daneben, können in anderen Buchstaben Kopf, Auge, Mund, Hand stehen, ebenso wie in der frühen Kinderzeichnung, die eine Zusammenordnung und Proportionierung von Körperteilen noch nicht kennt.« Ebenso bedeutungsvoll sind die skizzierten Umrisse einer kubischen Graphologie. Die Handschrift ist nur scheinbar ein flächenhaftes Gebilde. Die Druckgebung zeigt an, daß eine plastische Tiefe, ein Raum hinter der Schriftebene für den Schreibenden existiert, und auf der anderen Seite verraten Unterbrechungen in den Schriftzügen die wenigen Stellen, an denen die Feder in den Raum vor der Schriftebene zurücktritt, um ihre »immateriellen Kurven« darin zu beschreiben. Ob der kubische Bildraum der Schrift ein mikrokosmisches Abbild des Erscheinungsraumes der Hellsicht ist? Ob in ihm die telepathischen Schriftdeuter wie Rafael Scherman ihre Aufschlüsse holen? Jedenfalls eröffnet die Theorie vom kubischen Schriftbild die Aussicht, eines Tages die Handschriftendeutung der Erforschung telepathischer Vorgänge dienstbar zu machen.

Daß eine Lehre in so weit vorgeschobener Position alles Apologetische, mit dem die älteren Werke einzusetzen pflegten, ebenso ausscheidet wie alle Polemik, ist selbstverständlich. Das Buch entwickelt, was es zu sagen hat, von innen heraus. Selbst Handschriftenproben findet man hier nicht so zahlreich wie sonst in dergleichen Büchern. Die graphologische Anschauung ist so intensiv, daß die Autoren fast das Wagnis hätten unternehmen können, an einer einzigen Handschrift die Elemente ihrer Wissenschaft – besser gesagt: ihrer Praktik – aufzurollen. Wer zu sehen versteht wie sie, für den ist jeder Fetzen beschriebenen Papiers ein Freibillett fürs große Welttheater. Ihm zeigt er die Pantomime des ganzen Menschenwesens und Menschenlebens in hunderttausendfacher Verkleinerung.


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