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Zürich: Rascher u. Cie. A.-G. 1928. 255 S., 32 Abb.
Vom Meere aus Neapel zu lieben ist leicht. Hat man den Fuß erst an Land gesetzt, ist man gar auf dem glutheißen labyrinthischen Bahnhof dem Zug entstiegen, in einer ausgeleierten vettura, durch Wolken von Betonstaub, über ein Straßenpflaster, das so wenig je zur Ruhe kommt wie der Vesuv, umsonst vor überfüllten Gasthöfen vorgefahren, so wendet sich schon das Blatt. Dann kommen die Erfahrungen des ersten Tages, und sie zeigen, wie wenige dem unverstellten Bilde dieses Lebens – einem Dasein ohne Stille und Schatten – ins Auge sehen können. In wem bei der Berührung mit diesem Boden nicht alles abstirbt, was um Komfort weiß, der geht einem aussichtslosen Kampfe entgegen. Die andern freilich, denen in dieser Stadt das schmutzigste, aber auch leidenschaftlichste und erschrockenste Antlitz begegnet, aus dem je Armut der Befreiung entgegenstrahlte, schließt die Erinnerung an sie zu einer Kamorra zusammen. Für alles, was man von entwendeten Portefeuilles, verschleppten Mädchen und verwanzten Betten zu erzählen weiß, bleibt ihnen nur ein ungerührtes Lächeln. Sollten sie den Verfasser dieses Buches unter sich aufnehmen – so viel Liebe, gepaart mit so wenig Verständnis, nimmt für ihn ein – so werden sie seinen Beitritt zum Bunde von der Leistung eines Schweigegelübdes auf ewige Zeiten abhängig machen, sei es auch nur, weil sein Deutsch das inkorrekteste ist, das sich denken läßt.
Wir blättern und finden vielversprechende Überschriften: Camaldoli, Sorrent, Herbsttage in Seiano, Ravello. Wir lesen, und es ist vielleicht immer noch schön. Denn was dasteht, ist so ohne Gewicht, so rührend, so trocken wie das gepreßte Blatt eines Weinstocks von irgendeiner Vigne am Golf. Wunderbar läßt sich träumen während wirs halten. Da steht »Positano«, und ich sehe mich wieder auf der Straße, die in Kehren den Ort durchzieht. Es ist Nacht. Wir sind eine kleine Gesellschaft: Ernst Bloch, der Philosoph, der trinkfeste Tavolato, Alfred Sohn-Rethel, ein jüngstes Glied aus der Familie des deutsch-römischen Malers. Der Mond stand am Himmel, und es war eine jener südlichen Nächte, in denen sein Licht nicht auf den Schauplatz unseres Tagesdaseins zu fallen scheint, sondern auf eine Gegen-, eine Neben-Erde. Es war ein anderes Positano, das wir durchzogen. Schärfer hoben sich überall die verlassenen Teile der großen Stadt von denen ab, wo die wenigen Nachfahren einer Bevölkerung von einst vierzigtausend Seelen heut hausen. Denn so gewaltig war diese Siedlung im Mittelalter. Ich wußte gut, was hier für Erzählungen umgehen, hielt aber nicht viel von den penetranten Gespenstergeschichten, die immer aufkommen, wo ein intellektuelles Wanderproletariat mit einer eingesessenen primitiven Bevölkerung zusammentrifft, sei es hier, in Ascona oder in Dachau. Es war also bestimmt nicht die Neigung, das Gruseln zu lernen und kaum ein ernstliches Interesse, das mich überkam, als ich plötzlich meine Begleiter bat, an der Straße auf mich zu warten, um mich einige Schritte bergwärts, in eines der ausgestorbenen Quartiere, das gerade über mir aufstieg, machen zu lassen. Die Steinstufen waren riesig; ich ließ mir Zeit und nahm bedächtig eine nach der andern. So mochte ich dreißig große Schritte getan haben, alles war still, und von der Straße hörte ich die Stimmen der Wartenden. Meine Lust weiterzusteigen, hielt an. Aber bald wurde es schwerer. Ich spürte, wie ich denen da unten entglitt, trotzdem ich in Hör- und Sehweite, denkbar nah, blieb. Mich umgab eine Stille, eine Verlassenheit voller Ereignis. Leiblich drang ich mit jedem Schritte in ein Geschehn vor, von dem ich weder Bild noch Begriff hatte und das mich nicht dulden wollte. Plötzlich hielt ich zwischen Gemäuer und Fensterhöhlen, in einem Stachelwald scharfer Mondschatten inne. Um keinen Preis hätte ich einen Schritt weiter tun wollen. Und hier, unter den Augen meiner völlig ins Wesenlose entrückten Begleiter, machte ich die Erfahrung, was es heißt, einem Bannkreis sich nähern. Ich kehrte um.
Diese Erfahrung ist kein Kuriosum. Jeder kann sie dort machen. Darum ist es doppelt notwendig, sie vor Klischees zu bewahren wie diesem: »Nachts geht man in einem gespenstigen Dunkel. Aus schmalen Löchern, aus engen Nischen, aus hallenden Gewölben scheinen Fabelwesen uns anzufallen.« Das ist Positano, »wie es im Buch steht«. Das papierne Dörfchen, das der Verfasser uns aufbaut, weiß natürlich auch nichts von den Kräften, die an Clavels berühmtem Turm gebaut haben. Es wird im Herbst ein Jahr, daß dieser unvergessene Basler Sonderling gestorben ist: ein Mann, der sich sein Leben in die Erde hineingebaut, der in den Fundamenten seines Turmes schöpferisch gehaust hat und an dem großen carrefour der Zeiten, Völker und Klassen, das der Golf von Sorrent ist, Auskunft erteilen konnte wie wenige und in einem kleinen Briefe Gilbert Clavel, Brief an Carl Albrecht Bernoulli vom 27.8.1927. In: Die Annalen. Eine schweizerische Monatsschrift, Horgen-Zürich, 1927, S. 953-955. mehr von seiner Landschaft zu sagen hat als dies ganze Buch.
Und doch: wenn ein Fundus von Erlebtem und Wissen die Bedingung aller Reisebeschreibungen ist, wo fände sie in Europa einen Gegenstand wie Neapel, das allstündlich den Reisenden so gut wie den Einheimischen zu Zeugen macht, wie uralter Aberglaube und allerneuester Schwindel sich zu zweckmäßigen Prozeduren vereinen, deren Nutznießer oder Opfer er ist. Wie unvergleichlich durchdringen sie sich in den Festen, die diese Stadt verzehnfacht besitzt, weil jedes Quartier seinen eigenen Heiligen feiert, an dessen Namenstage es die andern Quartiere zu Gast lädt. Wie leicht ließe in der Darstellung dieser Feste eine stichhaltige, bereichernde Kenntnis von den Lokalitäten und den Sitten der Stadt sich einbringen – ein Aspekt der Reisebeschreibung, auf den die deutschen Leser freilich, kaum fünfzig Jahre nach Gregorovius und Hehn, schon gänzlich zu verzichten haben lernen müssen. Selbst das vorliegende Buch gewinnt seine besten Seiten der Schilderung festlicher Prozessionen ab. Aber hätte nicht mehr als die eingehende, allzu farb- und urteilslose Darstellung vom Blutwunder des heiligen Januarius ein einziger unter den Gebräuchen dieses Festes gesagt? Wenn der Tag gekommen ist und die Menge Stunde um Stunde unter innigen Gebeten im Dom und im Vorhof des Wunders harrend auf den Knien liegt, dann haben die unter den Neapolitanern, deren Stammbaum auf die Familie des Heiligen zurückführt, das Recht, seiner säumigen Neigung für seine Schutzbefohlenen mit lautem Schimpfen, herrischen Flüchen so lange nachzuhelfen, bis ein winkendes Taschentuch vom Altar her verkündet, das Wunder sei eingetreten, das Blut flüssig geworden. Warum hören wir nichts von Piedigrotta, dem orgiastischen Lärmkult der Nacht vom achten September und den gewaltigen Festgelagen, zu denen die Neapolitaner, wie die Nordländer in die Lebensversicherung, allwöchentlich bei ihrem Krämer mit einigen Soldi sich einkaufen, um, wenn die Zeit gekommen, über jedes Maß und Vermögen schlemmen zu können. Den traditionellen Beschluß dieser Mahlzeit macht ein Fläschchen Rizinusöl. Und das heidnische Lärmen der Piedigrottanacht setzt sich in den alltäglichen Festen fort, die der Neapolitaner mit der Technik begeht. Wenn er dem Ziel seiner Wünsche sich nähert, ein Motorrad erwerben zu können, probiert er gewissenhaft alle erreichbaren durch, um das geräuschvollste zu behalten. Nie werde ich die Eröffnung der Untergrundbahn vergessen, die tagelang nicht, zu benutzen war, weil alle Schalter von der Straßenjugend belagert waren, die den dröhnend einfahrenden Zug dröhnender überschrie und die Tunnel während der Fahrt mit einem zerreißenden Heulen erfüllte. Und noch die »Landpartie«, die Fahrt in Autokarawanen nach St. Elmo oder den Vomero herauf, muß in Staub und Getöse gebadet sein, um die rechte Freude zu machen.
Zu alledem eröffnet des Autors Buch keinen Zugang. Dennoch wird derjenige Leser ihm dankbar sein, den es, seinem Thema zu, von sich selbst soweit abführt, wie uns in dieser Besprechung. Und wenn wir einen Augenblick an die beigegebenen vorzüglichen Aufnahmen des Verfassers denken, so können wir uns ohne Ironie diesem Leser anschließen.