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Hanns Bürgisser, Johann Peter Hebel als Erzähler. Horgen-Zürich, Leipzig: Verlag der Münster-Presse 1929. 113 S. (Wege zur Dichtung. 7.)
Da hat sich an Hebel wieder einmal eine Null angehängt. Und so wenig der unermeßliche Wert dieses Autors davon berührt wird, darf man das zum Anlaß nehmen, ihn von neuem sich schätzungsweise vor Augen zu führen. Was diesem Schriftsteller not täte, wäre freilich nicht die Gefolgschaft der Nullen, sondern der Eine, der ein für allemal die erste Stelle mit markanten Zügen fixierte. Ansätze, welche dazu gemacht wurden, sind seinem neuen Bewunderer unbekannt geblieben. Noch einmal modelt er das Nippesfigürchen »Hebel« in Thorwaldsenscher Süße aus dem Biskuitguß allgemeiner Bildung.
Es ist ums Popularisieren eine wichtige Sache. Nicht zum wenigsten wegen des Doppelsinns, der darin steckt. Denn Bildung als Befreiungsmittel der Beherrschten und »Bildung« als ein Instrument der Unterdrücker dringen beide aufs Allgemeinverständliche, Populäre. Nun ist die »allgemeine« Bildung, die vor hundert Jahren als Kulturparole der herrschenden Klasse aufkam, ein Herrschafts-, kein Befreiungsinstrument gewesen. Die Befreiung nimmt gerade das Spezialistentum zum Ausgang und führt zur Demaskierung dieses Kulturprogramms. Ist aber schließlich der Gegensatz der beiden möglichen Funktionen populären Wissens – der unterdrückenden und der befreienden – allzu deutlich geworden, so verliert dieses Herrschaftsinstrument seinen Wert. Und das ist die Signatur des gegenwärtigen Augenblicks. Wir sehen die allgemeine Bildung aus den Händen der wahrhaften Machthaber in die der Pseudoherrscher übergehen, die ihre fetischistische Freude am Instrument als solchem haben, ohne zu erkennen, wie untauglich es zu werden anfängt. Die wahren Machthaber jedoch sind sich darüber im klaren und überlassen neidlos diesen anderen das ausgeleierte Werkzeug. Niemandem läge es näher, diese Verhältnisse zu durchschauen, als einer akademischen Elite. Um so trister, gerade in einer akademischen Schriftenreihe die allgemeine Bildung im Stadium ihrer gänzlichen Auflösung anzutreffen.
Es ist der Köhlerglaube an die Gegensätze, der dieses Stadium kennzeichnet. Der idealistische Optimismus der goldenen Mitte mag unmittelbarer Ausdruck des gebildeten Spießers sein – theoretisch ist er nur mittelbar und die Wirkung der hoffnungslosen Starre, der der Arme verfällt, da er sich rings von gottgewollten ehernen Gegensätzen umlagert sieht. Befangener als dieser neue Hebel-Interpret kann man im Glauben an diese Idole nicht sein. Der Epiker und der Lyriker, der dichterische und der Verstandesmensch, der Polytheist und der Pantheist als Kampf derartiger Kolosse spielt die Untersuchung sich ab, und der Verfasser steht dazwischen und freut sich an dem durch keinerlei dialektisches Artikulieren gestörten Getöse ihrer Zusammenstöße. Denn die allgemeine Bildung ist nicht nur die Kombination von Fakten und Floskeln, als die man sie im besten Fall entlarvt, sie ist vor allem breitspurige Befassung mit »Gegensätzen«, »Weltanschauungen«, »Problemen«, die unaufhörlich »ausgewertet«, »abgewogen«, »gewürdigt« sein wollen. Die konventionelle Bewunderung, die hier Hebel gezollt wird, ist teuer genug mit den Zensuren erkauft, die ›die platte Verständigkeit der Aufklärung‹, ›die konventionellen Spielereien der Anakreontik‹, »die gewaltsamen Analogien von Menschen- und Naturleben, welche wir bei Lenau, Heine, Rückert ... häufig finden« und was nicht sonst in unerträglicher Folge betreffen. Unwissenheit und Engstirnigkeit führen einen allzu beschränkten Haushalt, um die Pfennige ihres Lobes anders als gegen blanke Deckung durch den Tadel je zu verausgaben.
Die Fehler und Entgleisungen des Werkes sind andere als in philologischen Arbeiten älteren Stils. Das Wort hat die neue synthetische Richtung der Literaturgeschichte und ihr gehört nach seinem vielversprechenden Programm – es will die Weltanschauung, das Stofferlebnis, die innere und die äußere Form bei Hebel behandeln – das Werk auch an. Trotzdem wird sie mit Recht die Verantwortung für eine Arbeit ablehnen, die überall an ihrem wichtigsten Gegenstande vorbeigeht. Hätte sie, statt eine Analyse der Hebelschen Frömmigkeit mit allen Kategorien der Religionsgeschichte ins Werk zu setzen, vielmehr von seinem Formenschatz gehandelt, sie wäre von selbst auf die zuständigen Begriffe gestoßen: nicht religionsgeschichtliche; theologische. Hebels Werk ist nämlich vor allem anderen erbaulich; dabei von einer Welt- und Geistesweite wie wohl kein zweites der Gattung seit dem Ende des Mittelalters. Der Gerechte – das Wort im biblischen Sinne verstanden – ist die Hauptrolle auf seinem theatrum mundi. Weil aber eigentlich keiner ihr gewachsen ist, so wandert sie von einem zum andern, bald ist es der Schacherjude, bald der Strolch, bald der Beschränkte, der einspringt, um diesen Part durchzuführen. Immer ist es ein Gastspiel von Fall zu Fall, eine moralische Improvisation. Hebel ist Kasuist wie alle wirklichen Moralisten. Er solidarisiert sich um keinen Preis mit irgendeinem Prinzip, weist aber auch keins ab, denn jedes wird einmal Instrument des Gerechten, und die rebellische Verschlagenheit seiner Strolche und Lumpen am allermeisten. Es steht mit seiner Chronik des Alltags wie mit der seines größten Zeitraums, den fünfzig Jahren im »Unverhofften Wiedersehen«: sie liest sich wie aus Akten des jüngsten Gerichts. Nur daß alles Eschatologische fehlt. Die ganze Erde ist bei ihm zum Rhodos der göttlichen Gerechtigkeit geworden.
Es ist militärische Bereitschaft in seiner Moral. Immer ist ihre Losung verblüffend und als wolle sie die Postenkette der Frommen sichern. Wie gänzlich windschief steht sie nicht beispielsweise in der »Probe« zu allem, worauf sich der Leser gefaßt macht. Es scheint gar nicht mehr das Wichtige, daß man sich unbestechlich erweisen solle, denn man wisse nie, mit wem man's zu tun habe. Nein, es sieht geradezu aus, als wolle Hebel mit der Sphäre der honorigen Bürgersleute (unter denen es also denn doch auch etwas wie Spitzel geben muß) gar nicht länger sich einlassen und schlage sich im Augenblick, wo alles sich um das »Merke« dreht, auf die Seite der Spitzbuben: »Item an einem solchen Orte mag es nicht gut sein, ein Spitzbube zu sein, wo ein Hatschier dem andern nicht trauen darf.«
Als wolle der Dichter eben die honette Moral vom Riegel nehmen, die da hängt wie eine Melone, und nun setzt er sie mit einer unglaublich frechen Gebärde schief auf den Kopf und verläßt das Lokal mit der Tür knallend. Auf solche Weise macht er die Moral, die beim durchschnittlichen Geschichtenschreiber ein Fremdkörper ist, zur Fortsetzung der Epik mit anderen Mitteln. Man erkennt das, wenn man an Hebels Verhältnis zur jüdischen Welt denkt. Es läßt sich an Lebendigkeit und Tiefe nur mit dem Lichtenbergschen vergleichen. Es reicht von der nächsten, wärmsten Beziehung zum jüdischen Proletariat bis zu so schrecklichen Beschwörungen der Pogromstimmung wie den »Zwei Postillonen«. Diese Verwandtschaft zum Jüdischen gipfelt eben im haggadischen Einschlag seiner Erzählungen, die vor der Moral nicht kapitulieren, sondern auch sie mit Kraft und List zum epischen Gute schlagen.
Wenn Hebels Geschichten ein Uhrwerk sind, dann ist das »Merke« ihr Zeiger. Aber man muß diese kleine Weltenuhr eben lesen können. Ihr neuer Interessent steht mit einer Hilflosigkeit davor, die sich in seiner Sprache ebenso verrät wie in seiner Gedankenarmut. Im Grunde sind beide dasselbe. Das beweist sein Abschnitt über Hebels epischen Stil, in dem auf zwei Seiten die Worte »behaglich« und »Behaglichkeit« achtmal wiederkehren, von ihren Synonymen »gemütlich« und »beschaulich« zu schweigen. In die Anschauung, die aus diesem Vokabular erhellt, gipfelt die Untersuchung.
Wege zur Dichtung? Nein! Die staubige Landstraße von Seminarikon nach Doktorswyl.