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Franz Hessel, Spazieren in Berlin. Leipzig und Wien: Verlag Dr. Hans Epstein 1929. 300 S.
Wenn man alle Städteschilderungen, die es gibt, nach dem Geburtsorte der Verfasser in zwei Gruppen teilen wollte, dann würde sich bestimmt herausstellen, daß die von Einheimischen verfaßten sehr in der Minderzahl sind. Der oberflächliche Anlaß, das Exotische, Pittoreske wirkt nur auf Fremde. Als Einheimischer zum Bild einer Stadt zu kommen, erfordert andere, tiefere Motive. Motive dessen, der ins Vergangene statt ins Ferne reist. Immer wird das Stadtbuch des Einheimischen Verwandtschaft mit Memoiren haben, der Schreiber hat nicht umsonst seine Kindheit am Ort verlebt. So in Berlin Franz Hessel die seine. Und wenn er sich nun aufmacht und durch die Stadt geht, so kennt er nicht den aufgeregten Impressionismus, mit dem so oft der Beschreibende seinen Gegenstand antritt. Denn Hessel beschreibt nicht, er erzählt. Mehr, er erzählt wieder, was er gehört hat. »Spazieren in Berlin« ist ein Echo von dem, was die Stadt dem Kinde von früh auf erzählte. Ein ganz und gar episches Buch, ein Memorieren im Schlendern, ein Buch, für das Erinnerung nicht die Quelle, sondern die Muse war. Sie geht die Straßen voran, und eine jede ist ihr abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann, als sie nicht nur des Autors eigne, private ist. Im Asphalt, über den er hingeht, wecken seine Schritte eine erstaunliche Resonanz. Das Gaslicht, das auf das Pflaster herunterscheint, wirft ein zweideutiges Licht über diesen doppelten Boden. Die Stadt als mnemotechnischer Behelf des einsam Spazierenden, sie ruft mehr herauf als dessen Kindheit und Jugend, mehr als ihre eigene Geschichte.
Was sie eröffnet, ist das unabsehbare Schauspiel der Flanerie, das wir endgültig abgesetzt glaubten. Und nun sollte es hier, in Berlin, wo es niemals in hoher Blüte stand, sich erneuern? Dazu muß man wissen, daß die Berliner andre geworden sind. Langsam beginnt ihr problematischer Gründerstolz auf die Hauptstadt der Neigung zu Berlin als Heimat Platz zu machen. Und zugleich hat in Europa der Wirklichkeitssinn, der Sinn für Chronik, Dokument, Detail sich geschärft. In diese Situation tritt nun einer, der gerade jung genug ist, um diesen Wandel mitzuerfahren, und gerade alt genug, um den letzten Klassikern der Flanerie, einem Apollinaire, einem Léautaud persönlich nahegestanden zu haben. Den Typus des Flaneurs schuf ja Paris. Daß nicht Rom es war, ist das Wunderbare. Aber zieht nicht in Rom selbst das Träumen schon allzu gebahnte Straßen? Und ist die Stadt nicht zu voll von Tempeln, umfriedeten Plätzen, nationalen Heiligtümern, um ungeteilt mit jedem Pflasterstein, jedem Ladenschild, jeder Stufe und jeder Torfahrt in den Traum des Passanten eingehen zu können? Die großen Reminiszenzen, die historischen Schauer – sie sind dem wahren Flaneur ja ein Bettel, den er gerne dem Reisenden überläßt. Und all sein Wissen von Künstlerklausen, Geburtsstätten oder fürstlichen Domizilen gibt er für die Witterung einer einzigen Schwelle oder das Tastgefühl einer einzigen Fliese dahin, wie der erstbeste Haushund sie mit davonträgt. Auch mag manches am Charakter der Römer liegen. Denn Paris haben nicht die Fremden, sondern sie selbst, die Pariser, zum gelobten Land des Flaneurs, zu der »Landschaft aus lauter Leben gebaut«, wie Hofmannsthal sie einmal nannte, gemacht. Landschaft – das wird sie in der Tat dem Flanierenden. Oder genauer: ihm tritt die Stadt in ihre dialektischen Pole auseinander. Sie eröffnet sich ihm als Landschaft, sie umschließt ihn als Stube.
»Gebt der Stadt ein bißchen ab von eurer Liebe zur Landschaft«, sagt Franz Hessel zu den Berlinern. Wollten sie nur die Landschaft in ihrer Stadt sehen. Hätten sie auch nicht den Tiergarten, diesen heiligen Hain der Flanerie mit seinen Blicken auf die sakralen Fassaden der Tiergartenvillen, die Zelte, in denen man während des Jazz das Laub schwermütiger als sonst zu Boden sinken sehen kann, den Neuen See, von dem hier die Buchten und Bauminseln in Gedanken gezeichnet sind, »wo wir im Winter kunstvoll holländernd große Achter ins Eis schrieben und im Herbst von der Holzbrücke am Bootshaus in den Kahn stiegen mit der Herzensdame, die unser Ruder steuerte« – wäre dies alles nicht, die Stadt wäre noch immer voll Landschaft. Spürten sie nur den Himmel über Hochbahnbögen so blau wie über Engadiner Ketten sich spannen, aus dem Getöse die Stille wie aus einer Brandung sich heben und kleine Straßen im Stadtinnern die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln. Freilich das wahre, die Stadt randvoll erfüllende Dasein des Städters in ihr, ohne das es dieses Wissen nicht gibt, ist nichts Billiges. »Wir Berliner«, sagt Hessel, »müssen unsere Stadt noch viel mehr – bewohnen.« Bestimmt will er das wörtlich verstanden wissen, weniger von den Häusern als von den Straßen. Denn sie sind ja die Wohnung des ewig unruhigen, ewig bewegten Wesens, das zwischen Hausmauern soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt, wie das Individuum im Schutze seiner vier Wände. Der Masse – und mit ihr lebt der Flaneur sind die glänzenden, emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde, Brandmauern ihr Schreibpult, Zeitungskioske ihre Bibliotheken, Briefkästen ihre Bronzen, Bänke ihr Boudoir und die Caféterrasse der Erker, von wo sie auf ihr Hauswesen herabsieht. Wo am Gitter Asphaltarbeiter den Rock hängen haben, ist ihr Vestibül und die Torfahrt, die aus der Flucht der Höfe ins Freie leitet, der Zugang in die Kammern der Stadt. Schon in der meisterhaften »Vorschule des Journalismus« s. Franz Hessel, Nachfeier. Berlin: Ernst Rowohlt 1929. war die Erforschung dessen, was Wohnen ist, als unterirdisches Motiv erkennbar. Wie jede stichhaltige und erprobte Erfahrung ihr Gegenteil mit umfaßt, so hier die vollendete Kunst des Flaneurs das Wissen vom Wohnen. Urbild des Wohnens aber ist die matrix oder das Gehäuse. Das also, von dem man genau die Figur dessen abliest, der es bewohnt. Will man sich nun erinnern, daß nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Geister, und vor allem die Bilder wohnen, so liegt greifbar vor Augen, was den Flaneur beschäftigt und was er sucht. Nämlich die Bilder wo immer sie hausen. Der Flaneur ist der Priester des genius loci. Dieser unscheinbare Passant mit der Priesterwürde und dem Spürsinn eines Detektivs – es ist um seine leise Allwissenheit etwas wie um Chestertons Pater Brown, diesen Meister der Kriminalistik. Man muß dem Autor in den »Alten Westen« folgen, um ihn von dieser Seite kennen zu lernen: wie er die Laren unter der Schwelle aufspürt, wie er die letzten Denkmale einer alten Wohnkultur feiert. Die letzten: denn in der Signatur dieser Zeitenwende steht, daß dem Wohnen im alten Sinne, dem die Geborgenheit an erster Stelle stand, die Stunde geschlagen hat. Giedion, Mendelssohn, Corbusier machen den Aufenthaltsort von Menschen vor allem zum Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und Wellen von Licht und Luft. Was kommt, steht im Zeichen der Transparenz: nicht nur der Räume, sondern, wenn wir den Russen glauben, die jetzt die Abschaffung des Sonntags zugunsten von beweglichen Feierschichten vorhaben, sogar der Wochen. Man meine aber nicht, ein pietätvoll, am Musealen haftender Blick sei genug, um die ganze Antike des »Alten Westens«, in den Hessel seine Leser führt, zu entdecken. Nur ein Mann, in dem das Neue sich, wenn auch still, so sehr deutlich ankündigt, kann einen so originalen, so frühen Blick auf dies eben erst Alte tun.
Unter der plebs deorum der Kariatyden und Atlanten, der Pomonen und Putten, mit deren Entdeckung er den Leser hier aufnimmt, sind ihm die liebsten doch jene einst herrschenden, nun zu Penaten, unscheinbaren Schwellengöttern gewordenen Figuren, die angestaubt auf Treppenabsätzen, namenlos in Flurnischen einquartiert, die Hüterinnen der rites de passage sind, die ehemals jeden Schritt über eine hölzerne oder metaphorische Schwelle begleiteten. Von ihnen kommt er nicht los und ihr Walten weht ihn noch an, wo ihre Abbilder längst nicht mehr oder unkenntlich stehen, Berlin hat wenig Tore, aber dieser große Schwellenkundige kennt die geringeren Übergänge, die Stadt von Flachland, Stadtteil von Stadtteil abheben: Baustellen, Brücken, Stadtbahnbögen und Squares, und sie alle sind hier geehrt und beachtet, ganz zu schweigen von den schwelligen Stunden, den heiligen zwölf Minuten oder Sekunden des kleinen Lebens, die den makrokosmischen twelf-nights entsprechen und auf den ersten Blick so unheilig aussehen können. »Die Tanztees der Friedrichstadt«, weiß der Autor, »haben auch ihre lehrreichste Stunde, bevor der Betrieb losgeht, wenn im Dämmer nah bei den noch eingehüllten Instrumenten die Ballettdame einen Imbiß einnimmt und sich dabei mit der Garderobefrau oder dem Kellner unterhält.«
Baudelaire hat das grausame Wort von der Stadt, die schneller als ein Menschenherz sich wandle, gesprochen. Hessels Buch ist voll tröstlicher Abschiedsformeln für ihre Bewohner. Ein wahrer Briefsteller des Scheidens ist es, und wer bekäme nicht Lust, Abschied zu nehmen, könnte er mit seinen Worten Berlin so ins Herz dringen wie Hessel seinen Musen aus der Magdeburger Straße. »Sie sind inzwischen verschwunden. Bruchsteinern standen sie da und hielten artig, soweit sie noch Hände hatten, ihre Kugel oder ihren Stift. Sie verfolgten mit ihren weißen Steinaugen unsern Weg, und es ist ein Teil von uns geworden, daß diese Heidenmädchen uns angesehen haben.« »Nur was uns anschaut sehen wir. Wir können nur –, wofür wir nichts können.« Man hat die Philosophie des Flaneurs niemals tiefer erfaßt als es Hessel mit diesen Worten getan hat. Er geht einmal durch Paris und da sind die Conciergefrauen, die nachmittags in kühlen Hausgängen sitzen und nähen, von denen fühlt er sich angesehen wie von seiner Amme. Und nichts ist für das Verhältnis der beiden Städte – Paris, seiner späten und reifen Heimat, und Berlins, seiner frühen und strengen – bezeichnender, als daß den Berlinern dieser große Spaziergänger baldigst auffallend und suspect wird. »Der Verdächtige« heißt darum der erste Abschnitt in diesem Buche. In ihm ermessen wir die atmosphärischen Widerstände, die sich in dieser Stadt der Flanerie in den Weg stellen und wie bitter der nachschauende Blick aus Dingen und Menschen in ihr auf den Träumer zu fallen droht. Hier und nicht in Paris versteht man, wie der Flaneur vom philosophischen Spaziergänger sich entfernen und die Züge des unstet in der sozialen Wildnis schweifenden Werwolfs bekommen konnte, den Poe in seinem »Mann der Menge« für immer fixiert hat.
So viel vom »Verdächtigen«. Der zweite Abschnitt aber ist überschrieben »Ich lerne«. Das ist nun wieder ein Lieblingswort des Verfassers. Schriftsteller nennen es meist »studieren«, wie sie sich einer Stadt nähern. Zwischen diesen Worten liegt eine Welt. Studieren kann jeder, lernen nur, wer aufs Dauernde aus ist. Eine souveräne Neigung zum Dauernden, ein aristokratischer Widerwille gegen Nuancen hat bei Hessel das Wort. Erlebnis will das Einmalige und die Sensation, Erfahrung das Immergleiche. »Paris«, so hieß es vor Jahren, »das ist der schmale Gitterbalkon vor tausend Fenstern, die rote Blechzigarre vor tausend Tabakverschleißen, die Zinkplatte der kleinen Bar, die Katze der Concierge.« So memoriert der Flaneur wie ein Kind, so besteht er hart wie das Alter auf seiner Weisheit. Nun ist auch für Berlin ein solches Register, solch ägyptisches Traumbuch des Wachenden zusammengetragen. Und wenn erst der Berliner in seiner Stadt nach andren Verheißungen forscht als denen der Lichtreklamen, dann wird es ihm sehr ans Herz wachsen.