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Bücher, die übersetzt werden sollten

Pierre Mac Orlan, Sous la lumière froide. Port d'eaux mortes – Docks. Les feux du »Batavia«.

Paris: Editions Emile-Paul Frères 1927. 240 S.

Für Ideologie und geistige Verfassung der europäischen Intelligenz im Zeitalter des Hochkapitalismus ist das gespannte, unausgesetzte Interesse für die Welt des Lumpenproletariats und besonders für ihre geschlechtlichen Brennpunkte – die Hure, den Apachen – höchst bezeichnend. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren behaupten diese Typen ununterbrochen die Szene. Berge von belletristischer, von essayistischer Literatur haben sich um sie getürmt, und die großstädtische Bohème richtet in ihren individuellen und politischen Sympathien, ihren intimeren Lebensformen und ihren Festlichkeiten wie fasziniert an ihnen sich aus.

Diese Gefühlswelt kündigt in ihrer Mischung von sexueller Überspannung und vagem revolutionären Bürgerhaß zuerst bei Flaubert sich an, von welchem das verräterische Wort stammt: »De toute la politique je ne comprends qu'une chose, l'émeute«, und der auch von der Liebe, wie wir wissen, am besten die sexuelle Revolte dagegen begriffen hat. Im Laufe des Jahrhunderts ist dieses unterirdische Kommunizieren der Intelligenz mit der Hefe des Proletariats allmählich deutlicher geworden, bis am Ende die sogenannten Poètes Maudits es publik machten. Dieser Vorgang hätte sich nicht so stetig gesteigert, wenn nicht sehr viele Kräfte des gesellschaftlichen Daseins in ihm zusammengewirkt hätten. Von ihnen steht an erster Stelle der Verfall der »freien« Intelligenz. Die Bourgeoisie ist nicht mehr stark genug, den Luxus einer »klassenlosen« Intelligenz sich zu leisten, die früher einmal ihre menschlichsten Interessen auf lange Sicht und glücklich vertreten hat. Zum zweiten Male formiert sie eine intellektuelle Front mit rauher, kriegerischer Disziplin. Die erste war die Front von 1789 bis 1848: die der bürgerlichen Offensive in den europäischen Klassenkriegen. In ihnen fand die Intelligenz einen führenden Platz. Ganz anders ist es in der neuen Front der Defensive, in der nicht die geistige Initiative, sondern die klassenmäßige Zuverlässigkeit das Haupterfordernis ist. Ob nun die Intelligenz dieser Disziplin sich fügt oder widersetzt – ihre Freiheit verliert sie auf alle Fälle. Die Position eines humanistischen Anarchismus, die sie ein halbes Jahrhundert lang zu halten vermeinte – und in gewissem Sinne wirklich hielt – ist unrettbar verloren. Daher bildete sich die fata morgana eines neuen Emanzipiertseins, einer Freiheit zwischen den Klassen, will sagen, der des Lumpenproletariats. Der Intellektuelle nimmt die Mimikry der proletarischen Existenz an, ohne darum im mindesten der Arbeiterklasse verbunden zu sein. Damit sucht er den illusorischen Zweck zu erreichen, über den Klassen zu stehen, vor allem: sich außerhalb der Bürgerklasse zu wissen. Es ist eine Übergangsposition, und man hat das Recht, sie unhaltbar zu finden, nur darf man nicht vergessen, daß sie schon heute an die fünfzig Jahre dauert.

Es sind mit dieser neuen Wendung der Intelligenz vor allem in Paris, dem das Anarchische und Refraktäre am tiefsten in den Knochen steckt, eine Anzahl sehr interessanter Physiognomien hervorgetreten. Mac Orlan ist eine der wichtigsten. Während Francis Carco der gefühlsselige Schilderer, etwa der Richardson, dieser neuen Freiheit wurde, ist Mac Orlan ihr ironischer Moralist, sozusagen ihr Sterne. Die drei kurzen Erzählungen, die in seinem letzten Buche »Sous la lumière froide«, einem der besten, die er gemacht hat, vereinigt sind, verführen förmlich zu einer marxistischen Analyse. Alle drei spielen in Häfen als in den feuerfesten, überhitzten Retorten, in welchen am besten die seltensten, schwierigsten Klassenmischungen gelingen. »La lumière froide« ist das kalte Licht, das über die Zement- und Betonwüsten der Quaimauern und der Docks sich breitet.

Beiträge zu einer Mystik der Konjunktur sind die beiden Hauptstücke, von denen die etwas schwächere Kindergeschichte, die die Mitte des Bandes bildet, umrahmt wird. Im hinteren »Salon« einer Hafenkneipe sitzen vier Männer beim dumpfen Gelage hinter den Karten, feiern Abschied und spielen um ihre »Chance« – um das Glück, um Fortuna. So setzt die erste Geschichte ein. Und wie der Erzähler aus dem Ausgang dieser einzigen Nacht das Schicksal der vier entwickelt, zeigt ihn den klassischen Aufgaben der Novelle auf meisterhafte Weise gewachsen. Vor Jahren schrieb Mac Orlan einen »Petit manuel du parfait aventurier«. Das Abenteuer als die verkürzte und ineinander verschränkte Vielfalt der Berufsgefahren von Boxer, Börsenjobber und Spion ist ein Gegenstand, dessen Anziehungskraft für ihn sich niemals vermindert. Die dritte Erzählung des Bandes durchleuchtet ein Exemplar aus dieser geheimnisvollen Spezies »Abenteuer« mit X-Strahlen, das dürftige Skelett seines Riesenleibs in Gestalt des Gerüchts, einer Kunde, um welche wochenlang die Kombinationen und die Geschäfte der Zuhälter und Huren von Marseille sich bewegen. Erwarten sie doch von einer zur anderen Nacht die »Feux du Batavia« – die Feuer des transatlantischen Riesendampfers – auftauchen zu sehen, der den goldenen Regen der Milliardäre über die schmutzigen Betten ergießen wird. Aber die »Batavia« ist ein Gerücht, es gibt kein Schiff dieses Namens. Und in den scharfen, kompromißlosen Zügen dieses romantischen Abenteuers erkennt das leidig-wirkliche des Verfassers und ungezählter verwandter Geister sein eigenstes Bild. Denn chimärischer ist kein Dasein als das Dasein zwischen den Klassenfronten im Augenblick, da sie sich fertigmachen, aufeinander zu prallen.

Guillaume Apollinaire, Le flâneur des deux rives.

Paris: Gallimard 1928. 116 S.

Zugegeben, daß diese Besprechung ein Vorwand ist. Da aber diese Rubrik es nur mit Neuerscheinungen halten will, so bleibt ihr nichts übrig, als vom »Flâneur des deux rives« zu sprechen, wenn sie es unternimmt, die Aufmerksamkeit nachhaltiger auf Guillaume Apollinaire zu lenken. Und doch besteht noch ein tieferes Recht von dieser Sammlung kurzer Plaudereien zu handeln. Apollinaire war Dichter, ja Mensch, à propos de tout et rien. Er hat sich mit so angespanntem Fühlen an den Augenblick verloren und doch, zugleich, so eigenwillig im Vergangenen sich behagt, daß er viel eher als irgendwelchen Dichtern oder Künstlern den großen anonymen Schöpfern der Pariser Mode vergleichbar ist. In der Tat, solange dieser Mann lebte, ist keine radikale, exzentrische Mode in Malerei oder Schrifttum erschienen, die er nicht geschaffen oder zumindest lanciert hat. Mit Marinetti gab er, in seinen Anfängen, die Losungen des Futurismus aus; dann propagierte er Dada; die neue Malerei von Picasso bis zu Max Ernst; zuletzt den Surrealismus, dem er in der Vorrede seines letzten Dramas »Les Mamelles de Tirésias« den Namen schenkte. Das Eigentümliche aber war, daß im Stil seines Schreibens und seines Daseins all diese Theorien und Parolen schon wie bereit lagen. Er holte sie aus seiner Existenz wie ein Zauberer aus dem Zylinderhut, was man gerade von ihm verlangt: Eierkuchen, Goldfische, Ballkleider, Taschenuhren. Er war der Bellachini der Literatur.

Um seine Dichterstimme rangen sein Lebtag ein Prophet und ein Charlatan. Namenlos und melancholisch der eine, frech und besessen der andere. Derselbe Mann, der vor den dumpfen Instinkten der Masse zittert, in seiner Dichter-Apokalypse sie die Poeten massakrieren sieht, spekulierte in pornographischen Schriften auf ihre Kauflust. Derselbe, dem das Leben im Schützengraben unter den Tausenden unbekannter Soldaten unvergeßliche Verse eingibt und dem der Feldpostbrief zur Stegreifdichtung wird, kann noch als Heimgekehrter sich von seiner Uniform nicht trennen und hat an seinen Epauletten einen neuen Lorbeer.

Aber dieser »côté galon«, der seine Freunde bei Apollinaire gekränkt hat, konnte die Bürger nicht mit ihm aussöhnen. Wenn etwas ihn noch zweideutiger erscheinen ließ als seine Schriften, war es sein Umgang. Als die Mona Lisa gestohlen wurde, fiel der Verdacht auf Apollinaire. So verfemt war er. So viel traute man ihm zu. Und mit Recht. Das Lächeln der Mona Lisa, das hätte nur er vor Tucholsky auffangen können und vielleicht zu schallendem Lachen gesteigert. Von dieser Fähigkeit, Kitsch, Klatsch und Kunst in einem und demselben Lebensraume, dem seines eigenen Daseins, zu organisieren, zeugt dieser Nachlaßband. Man muß ihn neben die »Anecdotiques« stellen, in der die Glossen gesammelt sind, die der Dichter längere Zeit regelmäßig im »Mercure de France« veröffentlicht hat. Dazu den »Apollinaire vivant« von Billy und den kleinen »Apollinaire« von Soupault. Die Gedichte aber, in denen die Essenz seiner Kunst am unvermischtesten ruht, wird man suchen, von einem zu hören, der sie noch von ihm selber vernommen hat. Wenn man nicht in Paris sich die Platte verschafft, in welche eines Tages Apollinaire zu seinem Stolze einige Verse hineinsprechen durfte. Da hatte sich ein Punkt seines großen Programms erfüllt: die Lyriker hätten heutzutage nicht Bücher zu hinterlassen, sondern Schallplatten.

Diese Gedichte sind für seine Generation entscheidend geworden. Das Zentrum ihrer Inspiration ist an Reinheit und Schärfe am besten mit dem Mallarmés vergleichbar. Doch ihm strikt gegensätzlich. Mallarmés Gedicht ist die »tour d'ivoire«, der elfenbeinerne Turm, so weiß und blendend, daß er kaum mehr sichtbar im schweigenden Äther badet. Und der Dichter ist zu einem Reflex in seinem höchsten Fenster geworden. Von Apollinaires Versen dagegen möchte man sagen, sie steigen aus einem geselligen Lärmen auf, enthalten Seelen von Gesprächen, baden ganz in jenem Alltag, an den sich der Dichter verlor. Sie sind so unfeierlich, beschämen die Prosa. Man kann sie lesen wie ein leises Summen, das dem »Flâneur des deux rives« über die Lippen kommt, wenn er abends am Kai entlang schlendert.

Gabriel d'Aubarède, Agnès.

Paris: Librairie Plon (1928). 246 S.

Briefschreiben ist uns in unserem persönlichen Umgang eine zweideutige und lästige Sache geworden. Wir geben, ohne zu empfangen, denn von der Briefform empfangen wir in der Tat nichts mehr. Solch winzige Umstände sind oft Brennpunkte, in denen die Bestimmungskräfte einer Zeit sich sammeln. Und darum ist, als Vorwurf einer heutigen Liebeshandlung, die Wartezeit zweier Verlobter, die nach kurzer Begegnung sich weit voneinander entfernen und vereinbart haben, einander nicht zu schreiben, fruchtbar und deutlich. D'Aubarède kam es nun darauf an, dieses Motiv nach innen – weniger zeitkritisch als moralisch – sich entwickeln, die unbekannten Opfer und Gefahren sichtbar werden zu lassen, mit denen diese neue, strengere und reduziertere Gestalt menschlicher Verhältnisse erkauft wird. Es sind die Opfer und Gefahren der Leidenschaft in ihrer überschwenglichen Steigerung. Denn wenn alle Leidenschaft in ihrer höchsten Glut nicht nur dem Weltlauf feindlich, sondern ihrem eigenen Gegenstande tödlich ist, so ist Einsamkeit der Blasebalg dieser Gluten. Leidenschaft sucht die Nähe der Geliebten ja nicht, sich zu entfachen, sondern sich zu kühlen. Darum ist das Schweigen, das die beiden Verlobten hier einander versprochen haben, nicht nur ein zeitgemäßes, sondern ein gefährliches Experiment in der Liebe. Ein Jahr, während dessen sie an nichts sich halten können als die fixierten täglichen fünf Minuten, in denen sie ausschließlicher als sonst im Geiste beieinander sein wollen. Wie in diesem Ritus das Herz des Mädchens sich aushöhlt, ihr Tag zu diesen Minuten, ihr Leib zur Schatulle dieses Gelübde schrumpft, und die erste Regung, ins Leben zurückzufinden, ein Briefentwurf an den Freund, die Katastrophe heraufführt, das ist höchst sparsam, beherrscht und drastisch um den Mittelpunkt dieser Erzählung gruppiert, jenen so wirklichen wie unergründlichen Vorgang, der uns auf den Gedanken bringen könnte, der Mensch verhinge Lieben über sich als Strafe, und es erlösche von selber, wenn er gesühnt: daß nämlich Liebe sich am eigenen Leid ersättigt, und wenn das Opfer verbrannt ist, der Altar, auf dem es flammte, als Granit des Hochmuts zum Vorschein kommt. Als nach Jahresfrist der Geliebte sich einstellt, ist es mit Agnès soweit gekommen. Sie schickt ihn fort und treibt die Dinge in ihrem zerstörenden Hochmut dahin, wo nichts als das Erbarmen des Geliebten zwischen ihr und dem elenden Tode steht. Wie dies Erbarmen langsam und wie aus einer schonenden Verpackung von Haß sich auswickelt, wie man, noch schonender, in dem Erbarmen die Liebe durchfühlt, das gehört zu den schönsten dieser erstaunlich fein und treu erfaßten Vorgänge. Hätte nun d'Aubarède seine Helden zu Prototypen des neuen lakonischen Lebensstils und ihre Liebe exemplarischer gestalten wollen, es wäre ein merkwürdiges Gegenstück zu dem Buche entstanden, das er wirklich geschrieben hat. Denn so viel wird deutlich geworden sein, er wählte die romantische Variante des Vorwurfs. Darum darf seine Heldin einer Honoratiorenfamilie Lyons entstammen und mag den Kreisen, aus denen sie kommt, so tief und gefährlich verwandt sein, daß sie in ihren Gefühlen die Mutter verleugnen muß, um zu sich selber zu finden. Darum kann ihre Flucht sie ins Kloster und endlich hart bis an das Bett eines kümmerlichen Junggesellen jagen, den die Familie ihr antraut. Darum gehört diese schöne Erzählung in die Gattung der »Liebesgeschichten«, von denen wir Abschied nehmen müssen und in Deutschland längst Abschied genommen haben. Wir wissen, aus wie triftigen Gründen und werden dennoch ein so zartes und klangvolles Buch um so lieber haben, als unsere guten Autoren so etwas nicht mehr schreiben und die schlechten es noch immer versuchen.


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